Männlichkeit in der Literatur - Ins Licht, ans Feuer, einmal sich selbst überholen

Ob Krisentier, ob Liebesnarr: Wenn Schrift­steller den Mann erkunden, sind Pathos und Komik ganz nah. Cicero-Kulturchef Alexander Kissler empfiehlt Romane von Nickolas Butler, David Szalay und Walt Whitman. Ein Beitrag aus „Literaturen“. Auf 22 Extra-Seiten stellen wir im Heft die wichtigsten Neuerscheinungen des Frühjahrs vor.

Erschienen in Ausgabe
Gehen die klassischen Männlichkeitsideale über Bord? / Illustration: Laura Breiling
Anzeige

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

So erreichen Sie Alexander Kissler:

Anzeige

Man kann ihm derzeit nicht entkommen: dem Krisentier, der versehrten Gattung, dem Mann. Debatten werden geführt, ob er eine Zukunft habe, noch lange brauchbar oder nur ein Relikt aus dem Neandertal sei. Ob der Fortschritt einen Bogen um ihn finde, sobald seine reproduktiven Dienste ersetzt sind. Einig scheint sich der Debattenhauptstrom darin, dass der Mann sich zu ändern habe, sensibler, rücksichtsvoller, weiblicher werden müsse. Als weinender Mensch, stand zu lesen, könne er vielleicht reüssieren. Von all dem ahnt Nelson nichts. Er will das Richtige tun und sein Licht zu einem Feuer machen.

Um zu wissen, wie es um den Mann bestellt ist, zumindest den weißen Mann des Westens, sind drei Schriftsteller ausgezogen, zwei gegenwärtige, geboren 1979 und 1974, und ein Klassiker, vor 160 Jahren. Nach der Lektüre der Bücher, die allen Menschen nur zu empfehlen ist, Frauen noch mehr als Männern, sehen wir klarer. Der Mann, das ist der Abstand zwischen Erinnerung und Morgen, die Achse, die ihren Schwerpunkt außerhalb hat, das kurze Glück der Freiheit und der hohe Preis der Einsamkeit, ein Pfau mit gerupften Federn. Und am Ende will er nur das Enden, rasch wie ein Kojote in der Wüste.

Aufrecht scheitern

Nickolas Butler, der Jüngste der drei, lebt in Wisconsin. Eben dort ist auch seine Erkundung der „Herzen der Männer“ angesiedelt. Es sind folglich amerikanische Herzen, die zwischen 1962 und – im dritten und letzten Kapitel – 2019 schlagen, hauptsächlich an einem Ort, der aller Zeitgenossenschaft enthoben scheint, im Pfadfinderlager Camp Chippewa. Hier gilt das moralische Gesetz des Weltkriegsveteranen Wilbur, der 1962 ebenso unverrückbar an die scharfe Scheidelinie von richtig und falsch, gut und böse glaubt wie 1996 und damit aus der neuen Gegenwart herausfällt. Standhaft bleiben im Treibsand der Geschichte, aufrecht scheitern: Auch das kann eine Dimension des Männlichen sein.

Schon 1996, im mittleren Kapitel, wird ein ehemaliger Pfadfinderschüler von Wilbur sagen: „Alle Menschen sind verkorkst. Jeder treibt es mit der Frau eines anderen, bestiehlt seinen Arbeitgeber, hinterzieht seine Steuern. Es ist doch so – wenn du nicht schummelst, dann bist du ein Idiot, ein Schwachkopf.“ Nelson käme ein solcher Satz nicht über die Lippen. Er hatte zu Beginn, als 13-Jähriger, keine Freunde im Camp, aber bereits 27 Verdienstabzeichen an der Schärpe. Nelson war Wilburs Musterschüler, er blies morgens die Trompete und entzündete das Feuer, „er war schon seit jeher gut darin, ein Feuer in Gang zu bringen“.

Männer wissen nicht, ob ihre Lebenslehren sie selbst erleuchten, geschweige denn, ob sie anderen den Weg erhellen – Nelson trat in Wilburs Fußstapfen, wurde Vietnamkriegsveteran, kein pessimistischer Zyniker wie sein Jugendkamerad: Aber sie stellen die Frage nach dem, was lodert und was bleibt, ein Leben lang. Der Mann, ließe sich sagen, ist ein Mensch, der schon am Anfang wissen will, wie das endet, was Wirklichkeit heißt; deshalb droht er diese zu verpassen. „So sieht die Realität aus“, sagt Nelsons prügelnder Vater einmal und meint die Ängste, vor ihr zu versagen.

Was ein Mann ist

Ist da die Flucht in eine andere, weit entfernte, längst abgeschlossene Welt nicht die lebensdienlichere Variante? Karel hat die Moderne „nie wirklich interessiert. Die Moderne, das, was jetzt geschieht.“ Karel ist 30 Jahre alt, Belgier, Philologe mit dem Spezialgebiet Lautverschiebung, und überführt gerade einen Wagen von London nach Krakau: Männer sind unterwegs, damit sie sich nicht begegnen müssen.

In David Szalays neun klug komponierten Geschichten, die summarisch erzählen wollen, „Was ein Mann ist“, hat Karel die vierte Position inne. Es beginnt mit zwei 17-jährigen englischen Freunden auf ihrem Trip nach Berlin, Prag, Wien und endet mit einem 73-jährigen pensionierten Diplomaten, ehemals im Dienste Seiner Majestät, der in der Emilia-Romagna mit Freude das Licht wahrnimmt, „das durch einen Spalt zwischen den dicken Vorhängen fällt, dessen staubdurchwirkte Strahlen nach dem Schrank tasten, nach dem Lack, der im Laufe der Zeit immer dunkler geworden ist“. Der Brite Szalay, gebürtig in Kanada, ist Lakoniker und Ironiker, der Amerikaner Butler stellt Pathos und Zynismus dar. An diesen vier Zuständen habt ihr das Mannsein.

Karel also, der Mittelalterspezialist, dem die polnische Freundin eröffnet, sie sei schwanger und wolle entgegen Karels Erwartung nicht abtreiben, schaut hinaus ins Freie, auf das Meer, „Einsamkeit, Freiheit“, und noch einmal „Einsamkeit und Freiheit. Ein ganzes Leben lang. Diese Sehnsucht, nichts möge sich verändern.“ Das ist eines, nicht jeden Mannes und schon gar nicht Kristians Sache, des Boulevardjournalisten in der folgenden Geschichte. Der 40-jährige Däne landet einen Scoop, deckt das Verhältnis des Verteidigungsministers mit einer verheirateten Frau auf.

Das Leben ist kein Witz

Hässliche Szenen mit dem Inkriminierten, den er gut kennt, folgen, doch Kristian, pummelig und energisch, weiß, was er seinem Job schuldig ist – und er macht es gerne, liebt es, selbst sonntags zu arbeiten, zu schnüffeln, zu schreiben, auf der Lauer zu liegen. Er hat nur professionelle Skrupel und ein Berufs- und also Lebensmotto, das heißt: „C’est la guerre“. Der Mann, das agonale Wesen.

Der Merksatz eines 44-jährigen Immobilienvermarkters, der plötzlich in den Schweizer Alpen merkt, „er ist nicht mehr jung (…), wann ist das passiert?“, heißt hingegen: „Das Leben ist kein Witz.“ Eine simple Wahrheit scheint auch das zu sein, doch dass sie blitzhaft Epoche machen kann an eines Lebenswegs Kehre, schildert Szalay glaubhaft, konzentriert – und nicht ohne Komik. Seine Helden sind auch Liebesnarren, zuweilen: Ein junger Franzose aus Lille vergnügt sich auf Zypern mit einer fetten Engländerin und deren noch dickerer Tochter aus Northampton, oh, „ihre überwältigende Fülle, diese weibliche Fülle“. Trieb, dein Name ist Mann.

Ein 55-jähriger englischer Frührentner scheitert in Kroatien bei sämtlichen Versuchen, sich einer Bar-Bekanntschaft zu nähern, kassiert mehrere Veilchen und landet bei einer Wahrsagerin, die ihm „Einsamkeit, innere Einkehr, Stille, Ruhe, Abgeschiedenheit, Rückzug aus der Welt“ prophezeit – „Aye, scheiß auf den ganzen Kram.“ Szalay beherrscht auch den Bukowski-Sound.

Am bewegendsten gelingt ihm der Abschied des russischen Tycoons Aleksandr von der Macht, vom Geld, von der Frau. Der einstige „Zar des Eisens“ genießt letzte Luxusstunden auf seiner Riesenjacht vor Korfu mit Hummersoufflé, Filet mignon und Armagnac und will danach nur noch eins, das Enden, einem Wotan gleich, dem einäugigen Wanderer. Aleksandr hat falliert. „Aus und vorbei.“ Er nimmt es nicht persönlich. Er geht auf in der Geschichte, die mit ihm geschrieben wurde. Er wirft sich dem Schicksal an die Brust. Der Mann, der Fatalist.

Whitmans feine Feder

Solche gattungstypische Daseinsmelancholie ist beim Anchorman der klassischen amerikanischen Literatur nicht gefragt, nicht in der Artikelserie von 1858, welche nun erstmals auf Deutsch erscheint. Walt Whitman schrieb seine 13 Kolumnen für ein Publikum, das einverstanden war mit diesem nationalen Optimismus, wie es gewiss auch Pfadfinderführer Wilbur gut 100 Jahre später gewesen wäre: „Zu den Kennzeichen männlicher Kraft und makelloser Leibesbeschaffenheit, innerlich wie äußerlich, zählen ein klares Auge, ein schimmernder und womöglich gebräunter Teint (Letzteres kein Muss), aufrechte Haltung, ein federnder Gang, wohlriechender Atem, eine klingende Stimme und wenig oder gar keine Reizbarkeit des Gemüts.“ Ach, wäre es doch so.

Whitmans feine Feder zwischen Bekenntnis und Ironie, Diätetik und Anekdote ist selbst dann ein Genuss, wenn er Schauerliches zu berichten hat: Dem Mann sei es „unbedingt nötig, stark und kräftig zu sein – ein stolzes Tier“, doch viel zu oft verbummele, vertrödele, hirne und sitze er den ganzen Tag. Drum alle, ihr Männer, damals wie heute, „früh aus den Federn, früh zu Bett, Gymnastik, einfache Kost, mit beharrlicher Ausdauer durchgeführte, sanft angegangene Leibesübungen, der unbedingte Wille zur Kultivierung eines heiteren Gemüts, die Gesellschaft von Freunden und eine bestimmte Anzahl von Stunden für das regelmäßige Tagesgeschäft – all das, schlicht genug, behaupten wir, reicht hin, das Leben zu revolutionieren und es aus einem Schaustück der Düsternis, Schwäche und Unschlüssigkeit in echtes Leben zu verwandeln.“

Der Wert vergangener Ideale

Das ist Lebensreform vor dem Reformhaus, Achtsamkeit vor der Achtsamkeit, ein Turnvater ohne Jahn – lest, ihr Männer, Whitman, esst viel Fleisch, spart euch das Nachtmahl und geht im Frühtau zu Berge, damit ihr endlich schön werdet. An nichts herrscht heute in unseren Städten ein größerer Mangel als an schönen Männern. Berlin sei’s Menetekel, Stuttgart stimmt nicht hoffnungsfroh, Leipzig ist ein Desaster.

Der Wilbur des Jahres 1962 hat offenbar seinen Whitman gelesen, „ich stehe jeden Morgen früh auf und schwimme durch diesen See dort. (…) Jeden Tag mache ich zweihundert Liegestütze und dreihundert Rumpfbeugungen. Vor zehn Jahren habe ich noch das Doppelte geschafft.“ Nickolas Butlers Sympathie gilt dem verschrobenen Sonderling, nicht den Machern mit Moneten, die nach ihm das Regiment übernehmen. Er glaubt an den Wert auch der vergangenen Ideale. Ist also der Mann, wie er uns hier präsentiert wird, ein idealisches Wesen? Keineswegs. Im Kapitel von 2019 hat auch der Mann als Vergewaltiger einen bitteren Auftritt.

Das letzte Wort freilich lässt Butler dem Lied vom Zapfenstreich, wie ihn der junge Trompeter Nelson einst anstimmte, „es schwindet das Licht, nichts bindet den Blick“. Auch bei David Szalay führt das Licht, das innere wie das äußere, den Taktstock des Lebens, und das finale Wort heißt „Dämmerung“. So gehen sie dahin, die so stark sich wähnen, die Männer. Da ist ein Sein, ein Vergehen und wieder ein Sein.

Butlers, Szalays, Whitmans Geschlechtergeografie ist Memento mori, faszinierende Lektüre und Erinnerung daran, wie das einmal war mit den Männern und Frauen, zu unserer Zeit, vor unseren Zeitgenossen.

Nickolas Butler: „Die Herzen der Männer“. Aus dem Amerikanischen von Dorothee Merkel. Klett-Cotta, Stuttgart 2018, 478 Seiten, 22 €




David Szalay: „Was ein Mann ist“. Aus dem Englischen von Henning Ahrens. Hanser, München 2018, 512 Seiten, 24 €


 



Walt Whitman: „Der schöne Mann“. Aus dem amerikanischen Englisch von Hans Wolf. Dtv, München 2018, 280 Seiten, 18 €


 

 

 

 

 

Im neuen Heft stellt der regelmäßig im „Cicero“ erscheinende Literaturteil  „Literaturen“ auf 22 Extra-Seiten die wichtigsten Neuerscheinungen des Frühjahrs vor. Aus Anlass der Leipziger Buchmesse, deren Gastland Rumänien sein wird, gibt es einen Report aus der rumänischen Verlags- und Leselandschaft. Außerdem sind u.a. die neuen Bücher von Martin Mosebach, Esther Kinsky, Joan Didion, Anna Reinecke und Hans-Werner Sinn vertreten. In der Rubrik „Klassiker neu gelesen“ nimmt sich der Schriftsteller Steven Uhly Heinrich Manns „Der Untertan“ vor. Und Klaus Ungerer bespricht neue Hörbücher.

 


Dies ist ein Text aus der März-Ausgabe des Cicero. Erhältlich am Kiosk und in unserem Onlineshop.








 

Anzeige