Literaturnobelpreis - Sonnenschein kann doch jeder

Neben Peter Handke hat auch Olga Tokarczuk den Literaturnobelpreis 2019 erhalten. In ihrem aktuellen Roman schickt sie eine Ich-Erzählerin auf Reisen und findet im Wandel eine Ewigkeit. Ein Roman, der eher Reisepsychologie als Reiseliteratur ist

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Zusammen mit Peter Handke gewann Olga Tokarczuk dieses Jahr den Literaturnobelpreis / picture alliance
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Die Ich-Erzählerin in Olga To­karczuks Roman „Unrast“, deren einzige Ruhepole Flughäfen und Hotels sind und die nur arbeitet, um zu reisen, ist die einzige Konstante im ansonsten fragmentarischen Bündel an Geschichten, die quer durch Zeit und Raum ziehen: Wenn wir einen „Menschen überzeugend beschreiben wollen, können wir das nur tun, indem wir ihn in den Kontext einer Bewegung setzen – von irgendwoher, irgendwohin“.

Es geht weniger um das Ziel als um das Unterwegssein selbst. An einen weltlichen Punkt der Vollkommenheit, nach dem so viele getriebene Reisende ihr Leben lang suchen, glaubt die Ich-Erzählerin nicht. So folgt man der Protagonistin von einem Ort zum nächsten, heiter sind die Beschreibungen – auch ihrer selbst – nicht. „Die Geschichte meiner Reisen ist nur die Geschichte einer Unzulänglichkeit.“ Hingezogen fühlt sie sich zu Kaputtem, Krankem, der Dunkelheit und Anonymität der Nacht; Sonnenschein kann jeder. „Meine Sensibilitäten sind teratologisch, monstrophil.“ Und beschreiben will sie eigentlich gar nicht, denn: „Beschreiben ist wie benutzen – es verschleißt. Beschreiben heißt vernichten.“

Eher Reisepsychologie als Reiseliteratur

In unterschiedlicher Länge und Textart begegnen dem Leser Schicksale von Menschen aus den vergangenen Jahrhunderten, aber auch aus dem Jetzt: Vom holländischen Anatomen und Entdecker der Achillessehne über die verzweifelt aus ihrem Habitat ausbrechende Ehefrau bis hin zur Schwester Chopins scheint alle Geschichten nur ein Faden zu verbinden: die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens, das sich am besten dadurch beschreiben lässt, wie es sich durch die Zeit bewegt, sich stets auf einer Reise befindet, von der es kein Zurück gibt. Aber warum gerade diese Personen und ihre Geschichten? „Es gibt zu viel Welt, besser konzentriert man sich auf Einzelheiten anstatt auf das Ganze.“

Reiseliteratur ist das nicht, eher Reisepsychologie: „Als ich also in den Anblick der Strömung versunken auf dem Flutwall stand, wurde mir klar, dass aller Gefahren zum Trotz das, was in Bewegung ist, immer besser sein wird, als das, was ruht, dass der Wandel edler ist als die Stetigkeit, dass das Unbewegliche Zerfall und Auflösung anheimfallen muss und zu Schutt und Asche wird, während das Bewegliche sogar ewig währen kann.“

Die Trägheit der Erzählung

Hier hat die 1962 geborene Olga Tokarczuk biografische Elemente eingebunden, indem sie ihr Psychologiestudium in Warschau, die Arbeit als Therapeutin in der Suchthilfe und das Dasein als Schriftstellerin auf ihre Protagonistin überträgt. Diese begegnet der Reisepsychologie auch auf Flughäfen, wo sie Vorträgen von Reisepsychologen lauscht: „Wohin wir auch reisen, wir reisen immer darauf zu. Es ist nicht wichtig, wo ich bin. Es ist egal, wo ich bin. Ich bin.“

Die Erzählerin verzichtet auf Reiseführer, weil keine Bücher schneller veralten. Doch ein einziges Buch, das ihr als probater Reiseführer gilt, empfiehlt sie ausdrücklich: „Moby Dick“. Sie fragt: „Ist es gut, dass ich erzähle? (…) Erzählungen haben eine eigene Trägheit, die sich nie ganz unter Kontrolle bringen lässt. Sie brauchen Leute wie mich, die unsicher sind, unentschieden, leicht an der Nase herumzuführen. Naive.“ Die Ich-Erzählerin ist vieles. Fremd, einsam, besessen. Aber eines ist sie nicht: naiv.

„Unrast“ erschien 2007 und wurde mit dem Nike-Literaturpreis, Polens bedeutendster literarischer Auszeichnung, geehrt. Im vergangenen Jahr erhielt der Roman internationales Lob durch den Man Booker Price. 

Olga Tokarczuk: „Unrast“. Aus dem Polnischen von Esther Kinsky. Kampa, Zürich 2019. 464 Seiten, 24€

Dieser Text ist in der Juni-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können. 

 

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