WDR schafft Literaturkritiken ab - Murks mit Murke

In einem offenen Brief an den Intendanten des WDR beklagen namhafte Kulturjournalisten das angekündigte Ende der Literaturkritik in der größten Sendeanstalt der ARD. Der Fall offenbart erneut, wie schlecht es um den Kulturauftrag im öffentlich-rechtlichen Rundfunk bestellt ist.

Liftabwärts für die Literatur / dpa
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Der Westdeutsche Rundfunk ist eine Fiktion. Ältere mögen sich vielleicht noch erinnern: Mit Doktor Murke, dem WDR-bediensteten Jung-Redakteur aus Heinrich Bölls unvergessener Kurzgeschichte „Doktor Murkes gesammeltes Schweigen“ ist eine der ältesten öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt für immer Teil des literarischen Kanons geworden. Generationen von Literaturliebhabern konnten seither mit dem schrulligen Murke eine „existentielle Turnübung“ vollziehen: Unvergessen nämlich ist die allmorgendliche Fahrt von Bölls Protagonisten mit dem legendären Funkhaus-Paternoster: Um einer existentiellen Angst zu begegnen, ließ Böll seinen Murke tagein, tagaus in den Personen-Umlaufaufzug im Funkhaus am Kölner Wallraffplatz springen, ließ ihn mit dem klappernden Gefährt weit über den zweiten Stock hinausfahren, ließ ihn sodann eine Kurve um den Leerraum an der Spitze des Haues drehen, nur um ihn dann unverrichteter Dinge wieder herunterfahren zu lassen. 

Das ist Radio, schien Böll mit dieser Eigenheit seines schweigsamen Helden sagen zu wollen: jeden Tag die gleiche Leier. Und das seit 1955, dem Erscheinungsjahr dieser noch immer großartigen kleinen Radio-Satire aus der Feder eines späteren Nobelpreisträgers. Der übrigens hatte aller Wiederholung zum Trotz seinen literarischen Lift-Boy kein einziges Mal im Paternoster hängenlassen. Und selbst wenn: „Murke hatte immer ein Buch in der Tasche, immer Zigaretten mit; doch seit das Funkhaus stand, hatte der Aufzug noch nicht einmal versagt.“

Ende einer Rundfahrt

Jetzt aber, nach 66 Jahren routinierter Laufzeit endet die literarische Rundfahrt mit dem wohl bekanntesten „Beamtenbagger“ der Literaturgeschichte. Zwar wird es im alten Funkhaus im Schatten des Domes auch weiterhin den legendären Paternoster aus Bölls Erzählung geben, und dann und wann wird man beim WDR wohl auch noch zur Zigarette greifen oder auf andere Art eine Angst bewältigen; doch ein Buch, so wie Murke - ein Buch wird im Funkhaus am Wallraffplatz bald niemand mehr in der Tasche haben. 

Anders nämlich ist es kaum zu erklären, was da 29 freie Literaturkritiker gerade in einem offenen Brief an WDR-Intendant Tom Buhrow, Hörfunkdirektorin Valerie Weber und Kultur-Programmbereichsleiter Matthias Kremin vor aller Ohren ausgeplaudert haben: „Am vergangenen Freitag wurden wir von der Literaturredaktion […] davon in Kenntnis gesetzt, dass die tägliche Buchrezension ersatzlos gestrichen werde. Neue Aufträge seien nicht zu erwarten, die Literatur werde bei WDR3 zwar noch eine Rolle spielen, aber in geringerem Umfang.“

Das Ende der Literaturkritik

Was war geschehen? Offensichtlich hatte die Redaktion der Sendung „Mosaik“ auf dem Kulturkanal WDR3 seinen freien Rezensenten mitgeteilt, dass man die bis dato täglich gesendeten Buchrezensionen ab März 2021 für immer einstellen werde. Ein Schnitt mit verheerenden Folgen: „Es werden im Jahr um die 250 Bücher weniger besprochen. Viele Verlage werden mit ihren Büchern im ‚Kulturradio‘ WDR3 gar nicht mehr vorkommen. Absehbar ist, dass nur noch die wenigen vermeintlich ‚wichtigen‘ Buchtitel besprochen werden. Bücher also, die ohnehin im Gespräch sind“, so die Klage der brüskierten Literaturkritiker, unter denen sich so namhafte Kulturjournalisten wie Kurt Darsow oder David Eisermann befinden.

„Murks mit Murke!“, möchte man da ausrufen. „Murks mit Heinrich Böll, Jürgen Becker, Rolf Dieter Brinkmann, Günter Wallraff, Ralph Giordano, Navid Kermani …!“ Kurz: Murks mit der großen Geschichte einer Rundfunkanstalt, die bis dato wie keine zweite verwoben war mit der (west-)deutschen Literaturgeschichte. Im WDR, damals noch NWDR, fand 1947 die Erstausstrahlung von Wolfgang Borcherts Kriegsheimkehrer-Hörspiel „Draußen vor der Tür“ statt, hier verteidigten Böll, Lenz und Grass die deutsche Trümmerliteratur, und hier schaffte man es sogar, seine Hörer an experimentelle Tonstücke zu gewöhnen, wie sie etwa der einstige WDR-Mitarbeiter Jürgen Becker ab den Sechzigerjahren über den Äther schickte. 

Lesetipps statt Kritik

Doch mit derartiger Experimentierfreude ist Schluss! Statt Avantgarde gibt’s im WDR künftig allenfalls formidables Formatradio, statt Literaturkritik gibt’s Lesetipps. Dabei steht der Westdeutsche Rundfunk mit der Abflachung seiner Tonkurve beileibe nicht alleine da: Im Juni 2019 etwa sorgte der Hessische Rundfunk für Wirbel, als er bekanntgab, seine bisherige Kultur-Welle hr2 zu einer reinen Abspielstation für klassische Musik umzuformatieren. Auf diese Weise, so schwebte es damals der Programdirektion vor, sollte die öffentlich-rechtliche Radiostation „durchhörbar“ gemacht werden. 

Ein Jahr später dann war der NDR dran: Im Mai 2020 verkündete man bei der gebührenfinanzierten Fernsehanstalt für den ganzen Norden, dass man zum Jahresende das „Bücherjournal“ einstellen wolle. Grund: „Diese Sendung hat durchschnittlich im vergangenen Jahr eine Quote von 2,5 Prozent gehabt“, so NDR-Kulturleiterin Anja Reschke in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. Dann folgte das ZDF: Im September 2020 gab man auf dem Mainzer Lerchenberg bekannt, die Kultursendung „aspekte“ nicht nur zu einem Reportage-Format umgestalten zu wollen, mit der Reform würde man die gute alte Tante der Fernsehkultur auch gleich im Dunkel des Nachtprogramms versenken. Auf die Sendung, die seit 1965 Journalisten-Legenden wie Johannes Wilms oder Wolfgang Herles hervorgebracht hat, dürfte nun allenfalls noch der schleichende Tod warten.

Murke bleibt stecken

Mit dem im Rundfunkstaatsvertrag festgelegten Kulturauftrag der öffentlich-rechtlichen Medienanstalten dürften all diese Einschnitte nur schwer vereinbar sein. Doch da der hehre Auftrag zur Kultur, den die Sender an anderen Tagen wie eine Monstranz vor sich hertragen, im Gesetzestext nicht näher definiert ist, lassen die Programmverantwortlichen ihren bewährten Mitarbeiter Murke nun immer öfter im Aufzug verhungern. „Murke wusste, dass seine Angst unbegründet war: selbstverständlich würde nie etwas passieren“, schrieb Böll noch 1955 voller Vertrauen auf die schier unendliche Kreislaufwirtschaft in den kulturaffinen Rundfunkanstalten. Heute würde der Literaturnobelpreisträger die Sache sicherlich anders sehen. Der WDR und die Kultur beenden dieser Tage die literarischsten Jahre unseres Lebens.
 

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