Politische Kultur - Der Liberalismus in der Krise

Die Krise des Liberalismus reicht tiefer als zukünftige Wahlergebnisse andeuten. Hier ist nicht nur eine Partei in Bedrängnis, die Idee des Liberalismus selbst zunehmend in Frage gestellt. Von Linken, von Rechten, von Umweltaktivisten, von Gerechtigkeitsfreunden und Solidaritätsromantikern

Frei wie ein Vogel? Der Mensch hat es schwieriger / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

So erreichen Sie Alexander Grau:

Anzeige

Die Wahlergebnisse am Sonntag werden es wieder einmal bestätigen: Der Liberalismus ist in der Krise. Und damit ist nicht das wahrscheinlich eher dürftige Abschneiden der FDP gemeint. Das absehbar bescheidene Ergebnis der Freidemokraten bei den morgigen Landtagswahlen ist eher ein Nebensymptom.

Nein, die Krise des Liberalismus reicht tiefer als zukünftige und vergangene Wahlergebnisse andeuten. Hier ist nicht einfach nur eine Partei in Bedrängnis, vielmehr wird die Idee des Liberalismus selbst zunehmend in Frage gestellt. Von Linken, von Rechten, von Umweltaktivisten, von Gerechtigkeitsfreunden und Solidaritätsromantikern.

Der Liberalismus in der Dauerkrise

Zugegeben: Der Liberalismus steht seit seinen Anfängen in der Kritik und ist sozusagen in der Dauerkrise. Doch erstmals wird der Liberalismus aus der Mitte einer liberalen Gesellschaft hinterfragt. Also von Menschen, die sich zumeist selbst als liberal bezeichnen oder zumindest alle Vorteile einer freien und offenen Gesellschaft genießen konnten. Das ist historisch neu und macht die Situation so brisant.

Ist der Liberalismus also gescheitert? Geht nach Faschismus und Sozialismus nun auch die letzte politische Großideologie des 20. Jahrhunderts unter? Möglich. Doch im Grunde führt schon die Frage in die Irre. Sie suggeriert, dass der Liberalismus an der Welt scheitert, an den Menschen, an den Gegebenheiten. Doch das ist falsch. Denn der Liberalismus funktioniert zunächst ausgezeichnet: nirgendwo gibt es größeren Wohlstand, mehr Rechtssicherheit und mehr Lebensqualität als in liberalen Gesellschaften – wer das bezweifelt, frage nach in Honkong, in Teheran oder in Pjöngjang. Der Liberalismus droht also nicht unterzugehen, weil er nicht funktioniert. Im Gegenteil. Der Liberalismus scheitert an seinem eigenen Erfolg.

Es geht allein um den Einzelnen

Denn alle Konzepte des Liberalismus basieren letztlich auf dem Individuum. Das macht zunächst die Größe des Liberalismus aus. Es geht ihm nicht um das Volk, nicht um die Nation, die Gesellschaft, die Gleichheit oder die Gerechtigkeit, sondern allein um den Einzelnen. Ihn gilt es vor Übergriffen zu schützen, die aus höheren und hehren Ansprüchen erwachsen.

Damit schafft das liberale Denken dem Einzelnen einen radikalen Selbstverwirklichungsraum. Losgelöst von Traditionen, überlieferten Rollenbildern und von Ansprüchen des Kollektives, die über die Einhaltung des Strafgesetzbuches hinausgehen, kann sich der Einzelne radikal entfalten. In Verbindung mit industriell bedingtem Massenwohlstand entwickelt der Liberalismus so eine Schlagkraft, unter der selbst als natürlich angesehene Konzepte wie das Geschlecht implodieren.

Der degenerierte Versorgungsstaat

Und hier beginnen die Probleme, da liberale Gesellschaften nicht in der Lage sind, sich auf Ideale zu verständigen, die jenseits des individuellen, ökonomischen Interesses des durchschnittlichen Individuums liegen. So beschließen liberale Gesellschaften kostenfreie Kindergartenplätze, Mindestlöhne, Mietpreisdeckel und alle möglichen Formen der Sozialabsicherung. Aus Sicht des sich selbstverwirklichenden Einzelnen ist das sinnvoll, zumal es alle anderen sozialen Sicherungen wie Familie und Herkunft gekappt hat. Auf das Ganze gesehen, stärkt diese Entwicklung aber den Staat, der erst zum Versorgungs- und schließlich zum Präfentionsstaat degeneriert. So führt die Idee des autonomen Einzelnen mit bitterer Konsequenz in den Bevormundungsstaat. Der Liberalismus kippt auf dem Gipfel seiner Selbstentfaltung in einen liberal verbrämten Antiliberalismus.

Dieser Grundwiderspruch des Liberalismus ist nicht durch ein Mehr an Liberalismus zu lösen. Feuer lässt sich mit Benzin nicht löschen. Um seine inneren Widerspräche aufzuheben, müsste der Liberalismus vielmehr auf Prinzipien zurückgreifen, die seiner Grundidee widersprechen: etwa einem Konzept von der Natur des Menschen und den Grenzen individueller oder kollektiver Entfaltung. Genau das aber ist im Rahmen liberalen Denkens nicht machbar. So drohen die liberalen Gesellschaften im Namen des Liberalismus nicht nur ihre Liberalität zu verlieren, sondern auch ihre Identität und Zukunft.
 

Anzeige