Leistungsprinzip in der Schule - Der Wille zur „Einheitskost“

Nach Umfragen unter Eltern soll in der Schule vor allem Wert auf soziales Verhalten gelegt werden und auf gleiche Bildungschancen. Leistung in den Fokus zu stellen, unterstützt hingegen nur eine Minderheit. Warum ist es so unpopulär, im Bildungssystem am Leistungsgedanken festzuhalten?

Mädchen und Jungen dürfen zum ersten Mal ihren Klassenraum besichtigen / dpa
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Autoreninfo

Rainer Werner unterrichtete an einem Berliner Gymnasium Deutsch und Geschichte. Er verfasste das Buch „Fluch des Erfolgs. Wie das Gymnasium zur ,Gesamtschule light‘ mutiert“.

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Wenn man an einem Berliner Gymnasium eine Eingangsklasse unterrichtet, erlebt man die Risiken und Nebenwirkungen einer heterogenen Schülermischung. In Berlin gilt für den Übergang von der Grund- zur Oberschule der Elternwille. Er führt dazu, dass die 7. Klassen eine Heterogenität aufweisen, die man üblicherweise nur an der Gesamtschule findet. In meinem Deutschunterricht war die Diskrepanz zwischen den Schülern, die über einen elaborierten Sprachgebrauch verfügten, und denen, die Deutsch in nur sehr reduzierter Form sprachen, deutlich spürbar.

Als ich im Grammatikunterricht die Satzglieder durchnahm, verstanden die sprachgewandten Schüler die feinsten Unterscheidungen, wie beispielsweise die zwischen dem präpositionalen Objekt („ich verlasse mich auf deinen Rat“) und der adverbialen Bestimmung des Ortes („ich warte auf der Bank“). Die schwachen Schüler kamen über das Verständnis der drei Satzglieder Subjekt, Prädikat und Objekt nicht hinaus. Notgedrungen begann ich den Unterricht zu differenzieren.

Klüfte zwischen Lernstarken und Lernschwachen

Während die schnellen Lerner Arbeitsbögen mit kniffligen grammatischen Problemen zu lösen bekamen, übte ich mit den langsamen Lernern geduldig das Genitiv-, Dativ- und Akkusativobjekt. Auch in Mathematik tun sich zwischen lernstarken und lernschwachen Schülern riesige Klüfte auf. Die guten Schüler verstehen den Satz des Pythagoras nicht nur auf Anhieb. Mit ihnen kann der Lehrer sogar die mathematischen Beweise dieses Gesetzes besprechen. Die schwächeren Schüler müssen derweil lernen, woran man ein rechtwinkliges Dreieck überhaupt erkennt.

Diese Unterrichtsbeispiele zeigen das Dilemma eines Unterrichts mit Schülern, die sich hinsichtlich ihres Vorwissens, ihrer Auffassungsgabe und ihres Abstraktionsvermögens stark unterscheiden. Ein Unterricht, bei dem alle Schüler an den gleichen Gegenständen arbeiten, ist kaum noch möglich. Binnendifferenzierung ist dann der einzige Ausweg. Mit dieser Didaktik beschädigt man jedoch die gymnasiale Unterrichtskultur, die stets auf Homogenität gesetzt hat. Es ist dringend geboten, das Gymnasium wieder zu stärken, indem man es leistungsmäßig von den integrativen Schulformen abgrenzt. Dem Elternwillen sollten dadurch Grenzen gesetzt werden, dass in zweifelhaften Fällen die betroffenen Schüler am Gymnasium einen Probeunterricht absolvieren müssen.

Leistungsstarke Schüler als Last

Schüler mit überragender Auffassungsgabe eilen ihren Mitschülern im Verständnis des Lernstoffes so schnell voraus, dass sich die Lehrkraft genötigt sieht, sie zu bremsen, damit sie nicht mit einer einzigen klugen Antwort das sorgfältig geplante und zeitlich getaktete Stundenziel „verraten“. Deshalb sind solche „Überflieger“ bei den Lehrern nicht unbedingt beliebt. Anstatt ihrem Wissensdrang das „Futter“ zu geben, nach dem er verlangt, versucht man sie immer wieder auf das langsame Lerntempo der Klasse zu verpflichten.

Manche Lehrer empfinden die geistigen Höhenflüge solcher Schüler sogar als Kränkung. Von Hermann Hesse ist der Satz überliefert, ein Lehrer habe in seiner Klasse lieber zehn Esel sitzen als ein Genie („Unterm Rad“). Bei ihren Mitschülern führen die Geistesblitze der flinken Lerner häufig zu verbalen Anfeindungen, ja Aggressionen. „Streber“ und „Lehrerkind“ sind noch milde Formen der Ablehnung. Oft werden sie aus der Klassengemeinschaft ausgegrenzt oder nicht zu Freizeitaktivitäten eingeladen.

Wenn ein solcher Schüler nicht über ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein verfügt, wird er aus dem Drang heraus „dazuzugehören“ versuchen, seine Geistesgaben zu verstecken. Er schreibt dann absichtlich mal eine Drei, um sich dem akzeptierten Mittelmaß anzupassen. Es sind aber auch Fälle bekannt, dass intelligente Kinder durch das Mobbing der Klassenkameraden so zermürbt wurden, dass sie die Lust am Lernen gänzlich verloren haben. Von Psychologen mussten sie erst wieder mental „aufgebaut“ werden. An Schulen mit speziellen Fördermaßnahmen für lernstarke Schüler und einer Kultur der Akzeptanz intellektueller Leistungen haben sie dann wieder zu ihrem alten Leistungsvermögen und Wissensdrang zurückgefunden.

Feindbild Leistung

Umfragen unter Eltern ergeben seit Jahren ein eindeutiges Bild: In der Schule solle vor allem Wert auf soziales Verhalten gelegt werden (84 Prozent). Auch gleiche Bildungschancen für alle stehen hoch im Kurs (80 Prozent). Die Forderung, in der Schule müsse Leistung im Vordergrund stehen, unterstützt nur eine Minderheit (24 Prozent). Warum ist es so wenig populär, auch im Bildungssystem am Leistungsgedanken festzuhalten? Im Showbusiness und im Sport gilt es als selbstverständlich, dass der Sieger oder die Siegerin im harten Ausscheidungswettbewerb ermittelt wird. Spitzenkönner werden wie Ikonen verehrt und in die Hall of Fame aufgenommen. Kein Mensch käme auf die Idee, in die deutsche Fußballnationalmannschaft einige Spieler aus der Kreisklasse aufzunehmen, damit der Chancengleichheit und der sozialen Gerechtigkeit Genüge getan wird.

Warum will man in der Bildung die „Einheitskost“, indem man diejenigen, die die Masse an Geistesgaben überragen, an der optimalen Entfaltung ihrer Anlagen hindert? Anscheinend ist es kränkender, weniger intelligent zu sein als weniger sportlich. Die Vertreter der Gleichheit in der Bildung können es nicht ertragen, dass ein Gut wie Intelligenz nicht gerecht unter den Kindern und Jugendlichen verteilt ist, weil der eine offensichtlich mehr von diesem kostbaren „Rohstoff“ abbekommen hat als der andere.

Der Kampf um egalitäre Schulformen, der zum Kernbestand der Bildungspolitik vornehmlich linker Parteien und Verbände gehört, ist Ausdruck einer tiefsitzenden Kränkung darüber, dass es junge Menschen gibt, denen – unverdient – alles zufliegt, weil sie das Glück haben, in bildungsbeflissenen Elternhäusern heranzuwachsen, während andere – unverschuldet – in Milieus hineingeboren werden, die sie von Anfang an in ihrer geistigen Entwicklung benachteiligen.

Hochbegabte Schüler – eine missachtete Minderheit

Bisher war nur von „besonders begabten“ und „leistungsstarken“ Schülern die Rede. Es gibt aber noch eine weitere Gruppe von Schülern, die besondere Beachtung verdient: die Gruppe der Hochbegabten. Dazu ist ein kleiner Exkurs in die Intelligenz-Forschung vonnöten. Intelligenz ist ein von Wissenschaftlern geprägter Begriff. Er dient dazu, die kognitiven Fähigkeiten von Menschen zu messen. Das Denkvermögen von Menschen ist nicht direkt beobachtbar, wie etwa ihre Größe oder ihr Gewicht. Es erschließt sich nur indirekt, indem man es testet und die Ergebnisse in eine mathematische Skala einträgt.

Solche Intelligenztests haben ergeben, dass sich die Intelligenzquotienten in der Bevölkerung „normal“ verteilen. Sie lassen sich in der bekannten Glockenkurve, die der Mathematiker Carl Friedrich Gauß entdeckt hat, abbilden. Demnach besitzen 60 Prozent der Bevölkerung einen mittleren Intelligenzquotienten zwischen 85 und 115. Nur zwei Prozent liegen mit ihrem Intelligenzquotienten unter 70. Aber zwei Prozent haben einen besonders hohen Intelligenzquotienten von über 130. Bei diesen Personen spricht man von Hochbegabung. Wenn man diese zwei Prozent auf die gegenwärtige Schülerpopulation in Deutschland umrechnet, kommt man auf die Zahl von 220.000 hochbegabten Schülern. Dies entspricht der Einwohnerzahl einer Stadt wie Mainz.

Das Profil der Hochbegabung

Bildungsexperten gehen davon aus, dass es in jeder Schulform solche außergewöhnlich begabten Schüler gibt, auch an Gesamtschulen. Oft kann man sie auf Anhieb nicht als solche erkennen. In ihrem Verhalten und ihren Vorlieben sind sie ihren Mitschülern nämlich ähnlicher, als frühere Studien vermuten ließen. Die Längsschnittstudie des Marburger Hochbegabtenprojekts von Professor Detlef Rost (Beginn der Erhebung: 1987) hat ergeben, dass es unter den hochbegabten Schülern solche mit herausragenden schulischen Leistungen, aber auch solche mit schlechten Schulnoten – sogenannte Minderleister – gibt. Ihre schlechten schulischen Leistungen resultieren oft daraus, dass die Pädagogen die besondere Begabung dieser Kinder nicht erkennen, ihr Verhalten im Unterricht mitunter als „störend“ missverstehen.

Wenn diese Schüler weiterführende Fragen stellen, werden sie manchmal mit dem Satz abgespeist: „Das gehört jetzt nicht hierher.“ Irgendwann geben diese Schüler dann das Fragen auf. Die Studie hat auch untersucht, welche Faktoren die positive Entwicklung Hochbegabter erleichtern. Dies sind eine auf Förderung und Ermutigung angelegte Umgebung des Kindes in den ersten Lebensjahren, eine früh beginnende gezielte fachliche Förderung, geeignete Rollenvorbilder, zum Beispiel durch die Eltern oder Geschwister, und eine positive Bestätigung auch bei schwierigem oder schwer verständlichem Verhalten.

Vom richtigen Umgang mit hochbegabten Schülern

Warum sollte man in der Schule diese hochbegabten Schüler fördern? Zeigen nicht die Erfahrungen, dass sie ihre schulische Laufbahn auch ohne besondere Unterstützung meistern? Die Förderung der Anlagen dieser Kinder ist ein Gebot der Menschlichkeit. Jede Begabung verdient es, dass man sie gebührend entwickelt, indem man stimulierend und herausfordernd auf das Kind einwirkt. Die Anlagen hochbegabter Schüler entwickeln sich nämlich keinesfalls von allein.

Bei Musikern hat man beobachtet, dass aus einem „Wunderkind“ nur dann ein Spitzengeiger oder ein Spitzenpianist wird, wenn das Kind unter professioneller Anleitung einen beharrlichen Übungsfleiß – bei Virtuosen der Geige etwa 10.000 Übungsstunden – an den Tag gelegt hat. Es ist keinesfalls so, dass Kinder und Jugendliche Leistung verabscheuen. Wer einmal Kinder beobachtet hat, mit welcher Energie und Geduld sie ihren Hobbys nachgehen, fragt sich, warum es der Schule so wenig gelingt, diesen Eifer und Elan auch im Unterricht „herauszukitzeln“. Anscheinend bietet der herkömmliche Unterricht mit seinen oft sehr eintönigen Routinen hochbegabten Kindern wenige Anreize, ihre überragenden Fähigkeiten zur Entfaltung zu bringen.

Erfolg mit homogenen Lerngruppen

Der Schlüssel zur wirkungsvollen Förderung hochbegabter Schüler liegt in homogenen Lerngruppen. Wenn solche Schüler unter sich sind, sprühen ihre Geistesfunken, dass es eine Freude ist. Am neunjährigen Gymnasium (G 9) können diese Schüler in „Schnellläuferklassen“ unterrichtet werden. Studien belegen, dass Begabtenförderung mittels eigener homogener Klassenverbände besonders effektiv ist. Auch in fachlich geprägten Klassen, beispielsweise in Mathematik, Naturwissenschaften oder Sprachen, können hochbegabte Schüler besser lernen als in normalen Klassen.

Manche Gymnasien bieten hochbegabten Schülern die Möglichkeit, sich stunden- oder tageweise aus dem regulären Unterricht zu befreien und besonders anspruchsvolle Aufgaben selbstständig zu lösen. Außerschulische Lernorte sind für solche Zusatzaufgaben besonders gut geeignet. Die meisten Universitäten bieten inzwischen ein „Juniorstudium“ an, das Gymnasiasten zusätzlich zur Schule besuchen können. Erfahrungen mit dem vorgezogenen Studium zeigen, dass die teilnehmenden Schüler den Anforderungen des Studiums voll genügen, dass sie teilweise die regulären Studenten leistungsmäßig überragen. In einigen Bundesländern gibt es spezielle Fördermöglichkeiten für Hochbegabte in Sommercamps und Junior-Akademien.

Entscheidend ist ein Kulturwandel, eine Einstellung, die die Förderung hochbegabter Schüler nicht länger unter Eliteverdacht stellt. Neid und Missgunst gegenüber den Geistesakrobaten sollten der Vergangenheit angehören. Wenn Schulen ihre Hochbegabten fördern, färbt das auf die ganze Schule ab. Dann entsteht eine begabungsgerechte, intellektuelle Lernkultur. Nur ein leistungsfähiges Schulwesen kann dem Einzelnen persönliche Erfüllung und der Gesellschaft eine gedeihliche Zukunft garantieren.

Bildungspolitische Krähwinkelei

Die schulpolitischen Diskussionen in Deutschland muten manchmal erschreckend provinziell an. Der internationale Kontext, die Wissenskonkurrenz unter den Industriestaaten, wird völlig ausgeblendet. Der Bildungsvergleich mit den leistungsfähigsten Ländern der Erde macht deutlich, wie weit Deutschland inzwischen zurückgefallen ist. Bei der Pisa-Vergleichsstudie von 2018 rangieren Deutschlands Schüler nur auf Platz 20. Unter den ersten zehn Ländern finden sich vier aus Asien. Bei der Anzahl der gemeldeten Patente ist Deutschland auf den 5. Platz zurückgefallen. An der Spitze liegen Japan, die USA und die VR China.

Zwischen 1901 und 1918 ging in den Naturwissenschaften mehr als ein Drittel aller Nobelpreise an Forscher aus Deutschland. Goldene Zeiten! Zwischen 1990 und 2020 erhielten in den wichtigen Fachdisziplinen Physik, Chemie und Biochemie gerade mal sechs Wissenschaftler aus Deutschland die höchste internationale Auszeichnung. Wenn man sich jahrelang an den Schulen nur um „soziale Gerechtigkeit“ bemüht, muss man sich nicht wundern, dass man in der Leistungsfähigkeit des Schulsystems nach hinten durchgereicht wird. Irgendwann wird sich der Abschied vom schulischen Leistungsprinzip in einem niedrigeren Lebensstandard bemerkbar machen. Dann wird es für diejenigen, die in der Bildungspolitik nur die „soziale Gerechtigkeit“ verfochten haben, ein böses Erwachen geben.

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