Evakuierung in Afghanistan - Good Morning, Kabul

Die Bilder vom Flughafen in Kabul 2021 ähneln auf verstörende Weise den Bildern aus der amerikanischen Botschaft in Saigon 1975. Ein Albtraum steckt in der Bilderschleife. Hier wie da endete eine Allmachtsphantasie. Doch diesmal ist es unsere eigene.

Ein Mitglied der Hubschrauberbesatzung hilft am 29.04.1975 amerikanischen und anderen ausländischen Staatsbürgern die Leiter zum Dach eines Saigoner Gebäudes hinauf, wo ein Hubschrauber bereitsteht / dpa
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Alle haben wir es gesehen – am Fernseher, in den Zeitungen, den bunten Illustrierten: „Wir verließen die Stadt inmitten des großen Exodus. Zum Flugplatz bewegte sich eine riesige Karawane landflüchtiger Menschen. Den Regierungsbeamten an den verschiedenen Stationen stand die Nervosität in den Gesichtern. Am Flughafen trafen wir hohe Funktionäre mit gepackten Koffern. Der Staat war am Ende.“

Es sind dramatische Schilderungen. Unvergessen, geradezu zeitlos. Sie stammen vom damaligen deutschen Botschafter Heinz Dröge. Nachdem sich der in einem gecharterten Flugzeug selbst in Sicherheit gebracht hatte, übermittelte er diesen letzten Lagebericht an das Auswärtige Amt. Von nun an waren es nur noch zehn Tage. Und mit jedem einzelnen Morgen, den Gott noch werden ließ, verschärfte sich die Situation in den Botschaften und am Flughafen. Am Ende schnappte die Falle zu.

Die grüne Hölle

Es war der 28. April 1975. Der amerikanische Radiosender spielte das verabredete Zeichen: White Christmas, eine Weihnachtsschnulze als letzter Ausweg – und das hier, mitten in der grünen Hölle von Vietnam. Von nun an hieß es: Nur noch raus! Die Bilder dieser Evakuierung gingen um die Welt: Menschenmassen, die zum Flughafen strömten. Frauen, die über Stacheldraht stiegen. Angst, Panik, nacktes Entsetzen. Zeichen einer visuellen Niederlage. Nahezu in Echtzeit gingen sie um die Welt.

Und jetzt, im Sommer 2021, sind all diese Zeichen wieder da. Wie ein Grabungsfund aus den Tiefenschichten einer schier unendlichen Geschichte. Flashbacks. Grüße aus dem kollektiven Unbewussten: Man sieht Männer, die ihre Ausweispapiere verbrennen, Unbekannte, die Briefe in die Luft recken: Wir haben für euch gearbeitet! Holt uns hier raus! Es sind Menschen, die sich an Menschen klammern. Ein Horrorfilm, gesplittet in unzählige kleine Video-Clips. Als würde die Geschichte nach fast 50 Jahren noch einmal zu einem gigantischen Loop anheben.

Der Krieg und das Orakel

Damals, im Jahr 1975 in Saigon, wurden 51.000 Vietnamesen von den abziehenden Amerikanern evakuiert, darunter unzählige Hilfskräfte; die Angehörigen der US-Botschaft, die Marines, Journalisten. Während sich der Amerikanische Traum im Sumpf von „Amerikas längstem Krieg“ längst festgefahren hatte und die kommunistischen Nordvietnamesen zu einer letzten blutigen Offensive vorrückten, setzten die Amerikaner alles daran, um ihre verbliebenen Leute aus dem Dreck zu ziehen.

Als man Henry Kissinger 1973 nach Unterzeichnung des Friedensabkommens von Paris gefragt hatte, wie lange sich der Süden des Landes wohl noch halten könne, soll der wie eine Sphinx orakelt haben: „Ich glaube, wenn sie Glück haben, eineinhalb Jahre“. Kissinger sollte Recht behalten.

Die ewige Wiederkehr 

Wie sich das ganze Geschehen doch ähnelt: Auch diesmal hatten die Propheten längst gemutmaßt. Wenige Wochen, so sagten die Klügsten unter ihnen, würde sich die Regierung von Ashraf Ghani und Abdullah Abdullah noch halten können. Dann würde Afghanistan von den anrückenden Taliban überrannt werden. Und auch diesmal sollten sie recht behalten, auch diesmal hieß die Botschaft „Nichts wie raus!“

100.000 Menschen sollen mittlerweile von den amerikanischen Truppen in Sicherheit gebracht worden sein wiederum Einheimische, Ortskräfte, ein paar versprengte US-Bürger. Doch diesmal waren auch deutsche Soldaten und KSK-Kräfte an der Evakuierung beteiligt. Bis vorigen Donnerstag sollen sie 4.200 Afghanen und 500 Deutsche aus dem Land ausgeflogen haben – und all das, während im Rücken bereits der Tod mit den Hufen schart. 

Wir kennen diesen Film bereits. Seine Wiederkehr in der Wirklichkeit wirkt wie wie ein „Phantasma zweiten Grades“. Wir haben das doch alles schon geträumt. In den Dokumentationen über die letzten Tage von Saigon, in den Spielfilmen über Vietnam: Good Morning, Kabul! Das alles scheint eine bizarre Wiederholung zu sein. Doku-Fiction der unheimlichsten Art, bei der sich Story und History ineinander verkeilen. Es ist genauso, wie es der Filmkritiker Georg Seeßlen bereits über die Bilder von 9/11 geschrieben hat: „Wir sehen seit geraumer Zeit Menschen beim Verrücktwerden zu. Wir sehen uns selbst beim Verrücktwerden zu.“

Kein Happy End

Denn diesmal ist das auch unser Albtraum: Deutschlands Showdown als Unhappy-End. Denn, wie gesagt, wir kennen den Film, wir kennen das Script, wir kennen all seine Folgen und Fortsetzungen. Die Bilder vom Showdown in Saigon sollten Amerika beim Schopfe fassen. Scham, Sprachlosigkeit, Schuldgefühle. Stuart Herrington, ein einstiger Captain der US-Army, der damals in Saigon mit dabei war, fasste all die Schuld und alle Zweifel in eine große Frage zusammen: „Waren es die richtigen Leute, die wir ausgeflogen hatten? Wer sagte uns denn, dass es genau die Menschen waren, die es verdient hatten, das Land zu verlassen?“

Doch auf die Bilder der Niederlage gab es keine Antwort. Über Jahrzehnte hinweg verfiel Amerika in eine Art Trauma. Die Bilder von Saigon, ihre ewige Wiederkehr im Fernsehen und im Kino, sollten das Land der ehedem doch so Braven und Freien aus den Armen einer verklärten Romantik entreißen. Die Zeit der Helden jedenfalls war vorerst vorbei, die Vorturner nationaler Höhenflüge waren gescheitert. „Wie schon der Bürgerkrieg veränderte der Krieg in Vietnam die Vorstellung und Sichtweise eines bedeutenden Prozentsatzes der amerikanischen Bürgerinnen und Bürger sowie die Art, wie sie sich selbst und ihren Platz in der Welt sahen“, schrieb vor mehr als zehn Jahren bereits Stephen Maxner, Direktor des Vietnam Center in Texas über einen Konflikt, den selbst der einstige Verteidigungsminister Robert McNamara später als „furchtbaren Irrtum“ bezeichnet hatte.

Es war einmal in Amerika

Damals war es Amerika. Doch diesmal ist es auch unser Irrtum, unsere Niederlage in unserem Film. Hatte Deutschland es fast 20 Jahre lang geschafft, den Krieg am Hindukusch als Auslassung und als quasi „nicht stattgefunden“ in den Nachrichten zu präsentieren, so reißen uns die Bilder vom Kabuler Flughafen nun aus dem Schlaf der Gerechten heraus. Wir haben das alles schon geträumt. Ein Klartraum, der uns die Zukunft weist: Diese Bilder jedenfalls werden uns verändern. Wir können uns wehren, wie wir wollen: Die Geschichte, wenn sie sich wiederholt, kommt auch in der x-ten Bilderschleife immer nur als Tragödie daher.

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