Kriegsende am 8. Mai 1945 - Die Geschichte kennt keine Stunde Null

Wenn der 8. Mai in Berlin nun erstmalig zum „Feiertag“ erhoben wird, umweht diese Entscheidung der Hautgoût von politischem Opportunismus und Geschichtsrevisionismus. Dies wird der vielschichtigen Dimension des Ereignisses nur unzureichend gerecht, schreibt Ulrich Schlie.

Berlin nach Kriegsende 1945 / dpa
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Autoreninfo

Ulrich Schlie ist Historiker und Henry-Kissinger-Professor für Sicherheits- und Strategieforschung an der Universität Bonn.

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„Wir kapitulieren nie“, stand in großen weißen Lettern an den Mauerwänden, an den zerlumpte, geschundene Menschen vorbeizogen. Menschen mit ausgezehrten Gesichtern, oft in abgerissenem Tuch, dem seine ursprüngliche Bestimmung als Wehrmachtsuniform noch anzusehen war.

Bei S-Bahneingängen oder von Balustraden baumelten erhängte Soldaten, ein Pappschild um den Hals mit der Aufschrift: „Ich hänge hier, weil ich zu feige war, mein Sturmgeschütz aufzumunitionieren und mich dem Feind entgegenzustellen“ oder einfach nur: „Ich bin ein Deserteur“. Mai 1945 war auch die Zeit des kollektiven Selbstmords in Deutschland. SS-Angehörige erschossen sich gegenseitig, in den Notlazaretten in den Katakomben war namenloses Elend zuhause.

Tage des Überlebens

Vom tausendjährigen Reich war nicht viel mehr als Ruinen übrig geblieben, als die stummen Zeugen eines Größenwahns. Malcolm Muggeridge, britischer Geheimdienstoffizier und Schriftsteller, bemerkte süß-sauren Verwesungsgeruch als Wolke über Berlin und bemühte als Vergleich für das trostlose Landschaftsbild, das sich ihm bei seinem Besuch bot, die Krater des Mondes. Alles war brüchig, auch der Boden der Zivilisation.

Es waren, wie Margret Boveri schrieb, Tage des Überlebens. Deutschland lag am Boden, weil Hitlers Regime niedergeworfen werden mußte. Gewiss, der 8. Mai war auch ein Tag der Befreiung, die Befreiung von der Herrschaft des Nationalsozialismus, und weil der Krieg in Europa zu Ende gegangen war, ein Krieg, der Europa ausgebrannt, um seine Mitte gebracht hatte. Aber die Gründe zum Feiern waren begrenzt.

Hitlers Selbstmord war die eigentliche Zäsur

Der Krieg war nun de facto zu Ende, aber das ganze Ausmaß der politischen und moralischen Katastrophe drang erst allmählich ins Bewusstsein vor. Noch waren die Umrisse dessen, was kommen sollte, gar nicht erkennbar, und die Dimension des von Hitler entfesselten Zweiten Weltkrieges war buchstäblich unermesslich. Hitler war die Klammer, die die ungleichen Verbündeten der Anti-Hitler-Koalition zusammenhielt; ohne Hitler war das Dritte Reich nicht vorstellbar.

Hitlers Selbstmord, seine Höllenfahrt am 30. April, war die eigentliche Zäsur. Doch es war angezeigt, gegenüber Todesnachrichten aus Deutschland misstrauisch zu sein. Großadmiral Dönitz, Hitlers Nachfolger, hatte noch in der Nacht vom 30. April auf den 1. Mai, als er noch nichts vom Selbstmord seines „Führers“ wusste, seinem „größten Helden“ ein Ergebenheitstelegramm geschickt.

Rumpf-Deutschland

Sein erster Tagesbefehl an die Wehrmacht war eine Lüge: „Getreu seiner großen Idee, die Völker Europas vor dem Bolschewismus zu bewahren, hat er sein Leben eingesetzt und den Heldentod gefunden. Mit ihm ist einer der größten Helden der deutschen Geschichte dahingegangen.“ Herbert Lüthy hat in einem hellsichtigen zeitgenössischen Artikel über „Europa – Sommer 1945“ das Verschwinden des deutschen Staates als „letzte[n], heimtückische[n] Triumph des Nationalsozialismus“ bezeichnet.

Noch allerdings gab es in Rumpf-Deutschland für drei Wochen, bis zur Verhaftung durch die Alliierten am 23. Mai 1945, eine Restregierung unter Führung von Großadmiral Dönitz mit eigenen Hoheitszeichen, der als Hoheitsgebiet eine kleine Enklave in Flensburg-Mürwik verblieben war. Der Geist dieses Kabinetts war noch immer nationalsozialistisch, Zielsetzungen und Erwartungen illusionär. Dönitz und seine Mitstreiter Speer, Backe, Dorpmüller und Schwerin-Krosigk hingen der Illusion an, die Anti-Hitler-Koalition könne bald zerfallen und das Kabinett eingefleischter Nationalsozialisten sei für das Management des Übergangs unentbehrlich.

Unübersichtlichkeit als Euphemismus

Kabinettssitzungen fanden auf Schloß Glücksburg statt, der Übersichtlichkeit der Themen halber waren sie auf Vormittage beschränkt. Eifrig wurden Memoranden geschrieben für Besprechungen in Reims, zu denen es nie kommen sollte. Es gab weiterhin einen Chef des Militärkabinetts und einen Chef des Zivilkabinetts. Die Schnapsvorräte aus den Lagerbeständen des Reichsernährungsministers Backe sorgten dafür, daß die Stimmung besser war als die tatsächliche Lage. Die Lage war, milde formuliert, unübersichtlich.

Nie waren die Spannungen in den amerikanisch-sowjetischen Beziehungen größer als in den Monaten April und Mai 1945. Molotow hatte durch seine starre Haltung, mit der er auf der Forderung nach einem sowjetischen Veto und dem Abstimmungsverhalten im Sicherheitsrat beharrte, die seit 25. April tagende Konferenz von San Francisco lahmgelegt. Erst als Truman den einstigen Roosevelt-Vertrauten Harry Hopkins zu Verhandlungen vom 26. Mai bis 6. Juni nach Moskau schickte, gelang es, den toten Punkt in den sowjetisch-amerikanischen Beziehungen zu überwinden.

Mehr Verlierer als Sieger

Am 5. Juni 1945 übernahmen die vier Hauptsiegermächte die oberste Regierungsgewalt in ganz Deutschland und setzten einen Alliierten Kontrollrat ein. Eigens wurde in dieser „Berliner Erklärung“ festgehalten, daß die Übernahme der gesamten Gewalt und Befugnisse keine Annexion bedeute; doch wer auf Grund dieser Bestimmungen „in Anbetracht der Niederlage Deutschlands“ künftig das Sagen hatte, daran konnte kein Zweifel bestehen.

Am Ende des Zweiten Weltkriegs gab es mehr Verlierer als Sieger, und auch die Grenze zwischen Siegern und Verlierern war bisweilen verwischt. Verlierer: Das war neben dem besetzten und zerstörten Deutschland zunächst Europa als ganzes. In Europa hatte Hitler den Krieg im Sommer 1939 entfesselt, im Mai 1945 war Europa eine Trümmerlandschaft. Auch wenn der Krieg im Pazifik noch fortdauerte, in Europa war er im wahrsten Sinn des Wortes ausgekämpft worden. Der 8. Mai wurde von den Alliierten zum Victory in Europe-Day proklamiert, ein Sieg für Europa war es am wenigsten.

Europa – das Objekt außereuropäischer Mächte

Europa war verzwergt, wie Toynbee schrieb, oder, wie es der Historiker Herbert Lüthy formulierte, „desaxé“, es hatte seine Mitte verloren, war eine Art „Weltbalkan“ geworden: Ausländische Intervention, Besatzungsherrschaft, Zonenaufteilung, Schlagbäume, Demontage, Demokratie kam von außen, auf den Schießkrieg folgt der kalte, dies war die Wirklichkeit Europas der Jahr 1945 und folgende. Europa, einst Zentrum der Weltpolitik, war vom Subjekt zum Objekt außereuropäischer Mächte degradiert.

Die Rote Armee hatte neben der Hälfte Deutschlands auch noch Polen, Rumänien, Ungarn, Bulgarien, große Teile der Tschechoslowakei und Ostösterreichs erobert, sie stand im dänischen Bornholm, war über Nordfinnland bis nach Nordnorwegen vorgedrungen und hatte sich aus den von ihr gemeinsam mit Titos Partisanen im Oktober 1944 „befreiten“ Teilen Jugoslawiens mit der Hauptstadt Belgrad schon wieder zurückgezogen. Und welche Bilanz konnte die Sieger ziehen? Großbritannien hatte – in den bekannten Worten Dean Achesons – zwar ein Imperium verloren, aber noch keine Rolle wiedergefunden.

Politik der Überschätzung

Der Niedergang war lang und schmerzlich – er dauerte von der Mitte der 1930er Jahre bis in die 1980er Jahre. Was blieb, war die Erinnerung an die "finest hour" 1940/41, als Britannien allein dem nationalsozialistischen Europa trotzte. Bald vermischten sich im Rückblick Mythos und Realität. Das klägliche Ende des Suezabenteuers 1956 und der Verlust der Kolonien in den 1960er und 1970er Jahren trugen endgültig dazu bei, dass sich der Blick zurück auf die letzte große Stunde der Weltmacht Großbritannien verklärte.

Auch in Frankreich, das im Nachhinein zum Sieger des Krieges erklärt und damit formal zur Großmacht ernannt wurde, führte die Verkennung der eigenen Stellung zu einer Politik der eigenen Überschätzung. Vom Kriegsheld General de Gaulle mit dem besoin de grandeur und dem Appell an das ewige Frankreich geschickt getarnt, konnte diese Politik den Franzosen doch nicht die Traumata von Dien Bien Phu (1954) und Algerien (1962) ersparen. Die Demütigung von 1940, als nicht nur die "Dritte Republik" zusammenbrach, sondern auch die im Hafen vor Oran liegende französische Flotte durch britische Luftbombardements versenkt wurde, hatte sich zudem tief ins Gedächtnis der Nation eingeprägt.

Gefahr der Geschichtsvergessenheit

Wenn der 8. Mai in Berlin nun erstmalig zum „Feiertag“ erhoben wird, umweht diese Entscheidung der Hautgoût von politischem Opportunismus und Geschichtsrevisionismus. Dies wird der vielschichtigen Dimension des Ereignisses nur unzureichend gerecht. Gewiss, Adolf Hitler war auch an der deutschen Teilung schuld, aber der Umstand, dass ein Teil der Deutschen nach dem 8. Mai den Weg in der Unfreiheit fortsetzen musste, und dass Flucht und Vertreibung zu diesem Schicksal gehörten, darf nicht aus den Augen verloren werden.

Eine zu einseitige Betrachtung für ein derart vielschichtiges Ereignis wie das Kriegsende in Europa läuft Gefahr, zu weiterer Geschichtsvergessenheit zu führen. Es wäre heute vielmehr an der Zeit, nicht nur genau hinzusehen, sonder den Blick auch noch stärker als bisher auf die europäische Dimension zu weiten. Der 8. Mai ist seit jeher ein Gedenktag, aber kein nationaler Feiertag gewesen, und sollte in einem zusammenwachsenden Europa mehr denn je Anlass zum Nachdenken für europäische Geschichte sein, vor allem Grund zur Empathie mit den europäischen Völkern, denen der von Hitler aufgezwungene Krieg in der Ordnung von Jalta einen noch höheren Preis der Unfreiheit auferlegte als es die schmerzliche Teilung für die Deutschen bedeute.

Die Geschichte kennt keine Stunde Null. Ende und Anfang, das lehrt auch und gerade der 8. Mai, sind in der Geschichte oft ganz nah beieinander. Die Lehren der Vergangenheit können dabei Ansporn für die Zukunft sein. Die Bemühungen um das humanitäre Völkerrecht, um einen verbesserten Schutz der Menschenrechte, und um eine im besten Wortsinn Europäische Union werden nur gelingen, wenn wir wachsam gegenüber jedweden Gefährdungen der Freiheit bleiben und auch unser Wissen und Verständnis dafür vertiefen, was das Kriegsende jeweils in den Staaten Europas bedeute und was vor 75 Jahren in Europa begann.

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