Kleinstlebewesen - Das geheime Leben der Parasiten

Bandwürmer, Larven, Zecken – all das fürchterliche Getier, das auf unsere Kosten lebt, löst Schrecken und Ekel aus. Doch wir können von der dunklen Seite der Natur auch profitieren und viel lernen.

Der Hakenwurm befällt Hunde und Katzen, durch den Darm ausgeschieden, dringt die Larve über die Haut wieder in den Wirt ein / Nicole Ottawa und Oliver Meckes
Anzeige

Autoreninfo

Lothar Frenz ist Biologe und Journalist und hat viele Expeditionen in abgelegene Weltregionen unternommen.

So erreichen Sie Lothar Frenz:

Anzeige

Gelbe, dicke Bandwürmer klauben Jäger vom Volk der Atbalmin auf Neuguinea aus den Därmen gerade erlegter Kletterbeutler. Dann wischen sie mit ihren Fingern Reste anverdauten Nahrungsbreis vom glitschigen Gewürm und schieben sich die noch lebenden Eingeweideschmarotzer in den Mund, um sie genüsslich zu verspeisen. Bandwürmer verschiedener Beuteltiere zu essen, sei auf Neuguinea durchaus üblich, so beschreibt es der Parasitologe Robin M. Overstreet. Warum auch nicht? Schließlich bestünden sie bis zur Hälfte aus energiereichen Glykogenreserven, dazu bis zu einem Drittel aus Fetten. Das macht sie extrem nahrhaft

Parasiten als Delikatesse! Mit dieser Antwort rechnet man bestimmt nicht, wenn man fragt, wozu Zecken, Moskitos, Bandwürmer und andere Schmarotzer denn nützlich sind. Doch es lohnt, einen etwas anderen Blick auf die Quälgeister zu werfen. Als real existierende und eigenständige Lebewesen werden Parasiten kaum beachtet – und wenn, dann im Zusammenhang mit Krankheit und Leid. Ihre verborgenen, uns kaum bewussten Lebensgeschichten sind unabdingbar an eine andere Spezies gekoppelt, ohne die sie nicht existieren können – und dieser anderen Art nehmen sie etwas weg. Meist beziehen sie Nahrung aus diesen „Wirten“. 
Auf fremde Kosten zu leben und zu überleben, hat den Parasitismus zu einem Erfolgsmodell der Evolution gemacht: Wer weiß schon, dass schätzungsweise mehr als die Hälfte aller Organismen zu den Parasiten zählen? Denn jede Spezies kann von mehreren, oft völlig unterschiedlichen parasitischen Arten befallen werden. Das erklärt die große Artenfülle und unglaubliche Vielfalt, zu der unterschiedlichste, meist hochspezialisierte Lebensformen zählen – Einzeller, Pilze, Würmer, Krebse, Insekten und sogar Wirbeltiere. 

Menschen sind Parasitentempel

Parasitologen um Andrew Dobson von der amerikanischen Princeton University gehen davon aus, dass allein die ungefähr 45.000 bislang bekannten Wirbeltierarten, die es gibt – also Fische, Amphibien, Reptilien, Vögel und Säugetiere – 75.000 bis 300.000 Spezies von Helminthen, also „Eingeweidewürmern“, beherbergen: Jede Säugerart ist durchschnittlich Wirt von zwei Bandwurm-, zwei Saugwurm-, vier Fadenwurmarten, und jede vierte Säugerspezies beherbergt dazu noch einen je eigenen Kratzwurm. Bei Vögeln ist es ähnlich – pro Vogelspezies gibt es durchschnittlich je drei artspezifische Band-, zwei Saug-, drei Fadenwürmer, und jede besitzt ebenfalls einen eigenen Kratzwurm.

Wir Menschen sind wahrscheinlich jene Spezies auf Erden, die die meisten Parasitenarten überhaupt beherbergt. Allein 70 Einzellerarten können sich in unserem Darm, unserem Blut oder anderswo im Körper tummeln; über 350 verschiedene „Eingeweidewürmer“ wurden in uns lebend nachgewiesen; dazu Hunderte Arten von Gliederfüßern, also Zecken, Läuse, Flöhe, Stechmücken, Milben, die uns meist von außen piesacken und dabei oft genug andere Parasiten übertragen. Sie sind der Preis unseres Karriereerfolgs als Homo sapiens in der Evolution. Denn im Laufe der Wanderungen unserer Vorfahren und Vorgängerarten von Afrika aus um die Welt besiedelten wir nicht nur andere Kontinente mit neuen, oft völlig unterschiedlichen Lebensräumen und Klimazonen, wir kamen auf diesem langen Marsch auch mit vielen anderen Spezies in Kontakt, die wir nicht in unserem ursprünglichen Lebensraum kannten: Wir haben diese Arten gejagt, gegessen, berührt, gestreichelt, uns ihre Felle als Kleidung umgehängt. Dabei sind wir unbeabsichtigt und oft unbemerkt mit ihren Parasiten in Berührung gekommen. Manche sind auf uns umgesiedelt, haben uns als neue Ressource ihres Daseins entdeckt, als neuen Lebensraum – als neuen Wirt. 

Die grünlichen Blattflöhe ( rechts ) ernähren sich von
Blattsäften an Obstbäumen. Ihr Honigtau verklebt Zweige
und Blätter

Um auf, in und mit ihren Wirten leben zu können und sie auszubeuten, haben Parasiten ein Instrumentarium wie aus Horrorfilmen entwickelt. Mit Saugnäpfen, -gruben und -glocken, oft gespickt mit enterhakenähnlichen Fortsätzen oder spitzen und zahnähnlichen Mundwerkzeugen heften sich Endoparasiten wie Band-, Platt- und Rundwürmer ins Gewebe ihrer Wirte – in Gehirn und Gedärm, in Leber, Lungen und Muskeln. Mit Klammerbeinen und Klauen halten sich Läuse und andere Ektoparasiten an der Oberfläche, im Fell, Feder- oder Schuppenkleid ihrer Wirte fest; Zecken verankern sich mit ihrem Unterkiefer voller Widerhaken in Mensch und Tier, nachdem sie zuvor mit scharfen Kieferklauen deren Haut anritzten. Alles, um nicht von ihren Wirten abgeschüttelt oder durch Darmperistaltik ausgespült zu werden – und um in Ruhe von den Nährstoffen zu zehren. Oft sind es Körperflüssigkeiten wie Blut oder der Nährstoffbrei im Darm, die der Wirt in gut aufbereiteter Form darbietet.

Kontrolle über den Geist

Als wären diese Folterwerkzeuge nicht gruselig genug, beherrschen manche Parasiten auch das Genre Psychothriller: Als Meister der Manipulation programmieren sie ihren Wirt wie bei einer Gehirnwäsche um. So stürzen sich japanische Grashüpfer, die von Larven des Saitenwurms befallen wurden, als ferngesteuerte Kamikazespringer in kleine Flüsse oder Bäche, wo sie ertrinken. Nun bohren sich die erwachsen gewordenen Würmer durch die Insektenhülle und sind im freien Wasser, wo sie einander finden können und sich paaren. Unter der Einwirkung des Einzellers Toxoplasma gondii verlieren Ratten ihre Angst vor Katzen: Katzenurin lockt sie an, die Nager werden leichte Beute – und der Einzeller kann in den nächsten Wirt wechseln, in dem er sich vermehren kann. 

Selbst wir Menschen lassen uns von so manchem Wurm nach seinem Dünken lenken: So hat der gut ein Meter lange Guineawurm Dracunculus medinensis, beheimatet in feuchtwarmen Regionen der Alten Welt vom tropischen Afrika bis hin nach Indien und Pakistan, unseren Körper „gehackt“ und zwingt uns bei Bedarf seinen Willen auf. Die Befallenen leiden unter der extrem schmerzhaften Krankheit Dracunculiasis: Ein Jahr lang lebt und wächst ein weiblicher Guineawurm im menschlichen Körper heran und wandert in dieser Zeit vom Darm bis in die Extremitäten der befallenen Person. 

In dieser Zeit reifen oft Hundertausende von Larven im Körper des Wurmes. Wenn die schlupfreif sind und ins Freie zum nächsten Zyklus ausschwärmen wollen, provoziert Dracunculus eine extrem schmerzhafte Entzündung an Fuß oder Bein, die die geplagte Person ans kühlende Wasser treibt. Als wisse jener blässliche Wurm ohne Bewusstsein, dass in den heißen Gegenden, in denen er lebt, Wasser für den Menschen eine kühlende Erleichterung für brennenden Schmerz sein kann. Im Wasser platzt die quälende Blase auf und der Nachwuchs strebt ins Freie. Die Larven wandern zunächst in winzige Hüpferlingkrebschen, die später beim Trinken des Flusswassers vom Menschen verschluckt werden können. Ein neuer Lebenszyklus des gruseligen Parasiten kann beginnen.

Ein ständiges Ringen

„Mitesser“ – nichts anderes bedeutet das aus dem Altgriechischen stammende Wort parásitos, das heute als Synonym für faul rumsitzende Schmarotzer benutzt wird und Schimpfwort geworden ist. Dabei wurden so – zunächst ohne negative Bedeutung – jene Menschen bezeichnet, die bei Festen im Tempel mit den Priestern speisten. Erst später in der Antike, so der Londoner Sprachwissenschaftler Andreas Musolff, wurde daraus eine Metapher für eine Person, die dank „Schmeichelei und Speichelleckerei“ auf Kosten seines Wirtes lebe. 

„Den historisch folgenreichsten und international berüchtigtsten Fall solchen Gebrauchs bildet die den Holocaust vorbereitende und begleitende Nazipropaganda gegen Juden und andere Minderheiten, die als Parasiten bezeichnet wurden, die den deutschen Volkskörper befallen hätten“, so Musolff. Ein negativer Blick war auch lange in der Biologie vorherrschend: Parasiten wurden vor allem als Erreger individuellen Leides, von Krankheiten und Seuchen wahrgenommen. Denn der Ressourcenerwerb erfolgt immer zum Schaden des befallenen Wirtes. Anders als Raubtiere allerdings möchte ein Parasit seinen Wirt am Leben halten und nicht endgültig auffressen. Denn schließlich will der Parasit möglichst lange von und mit ihm leben; da wäre er schlecht beraten, würde er seine eigene Lebensgrundlage vernichten. (In manchen Fällen – wie etwa bei den japanischen Grashüpfern – kommt ein Wirt doch ums Leben, vor allem dann, wenn er für den Parasiten nur ein Zwischenwirt ist, der für das Durchlaufen eines bestimmten Entwicklungsstadiums benötigt wird.) 

Wenn Bandwürmer sich aber von Darmbrei ernähren oder Mücken Blut abzapfen, dann schadet das großen Wirten wie uns Menschen nicht, solange diese Parasiten uns nur kleiner Mengen berauben. Je länger der gemeinsame evolutionäre Weg von Wirt und Parasit ist, desto besser sind beide aufeinander eingespielt; umso weniger sollte ein Parasit seinen Wirt beeinträchtigen. 
Der versucht dennoch, irgendwie den Parasiten loszuwerden, der ihm seine Energie raubt – mit einer Vielzahl von Abwehrmechanismen. Dazu zählen mechanische Barrieren wie die äußere Haut und Schleimhäute im Inneren eines Lebewesens, die ein Eindringen zumindest erschweren, aber auch einfache chemische Agenzien wie Magensäure, die manchen Eindringling frühzeitig abtöten. Höhere Organismen besitzen ein Immunsystem zum Schutz vor den Einflüssen der belebten Umwelt, das genau zwischen „fremd“ und „eigen“ unterscheiden kann. Es soll körperfremde Substanzen, vor allem infektiöse Partikel wie Viren, Bakterien, Pilze und weitere Parasiten erkennen und eliminieren. Wirt und Parasit sind in dauerndem Ringen darum, wer die Oberhand behält. 

Die lange vergessene Biomasse

Natürlich versucht ein Parasit, im Lebensraum Wirt zu bleiben und dem drohenden Rausschmiss durch das Immunsystem aus dem Körper etwas entgegenzusetzen. Kleine Organismen wie Bakterien können sich dank rascher Fortpflanzungsrate schnell vermehren und sich dabei auch rasant verändern, sodass das Immunsystem ständig neue Mechanismen oder Abwehrmoleküle entwickeln muss, um sie zu bekämpfen. Vielzellige Organismen wie Würmer erwehren sich mit allerlei Tricks und Kniffen gegen unser Abwehrsystem: Oftmals manipulieren sie es mit Signalmolekülen, dämpfen es oder schalten es sogar aus. Manche haben eine Reihe von Möglichkeiten entwickelt, erst gar nicht als „fremd“ erkannt zu werden – sie haben Schutzkleider gebildet, die im Körper wie Tarnkappen wirken.

Das Vorhandensein der trickreichen Parasiten hat aber nicht nur das Innere unserer Körper mitsamt dem Immunsystem geprägt, sondern auch unsere gesamte äußere Welt: Erstaunlicherweise hatten selbst Ökologen jene oft übersehene Hälfte der Biodiversität nur wenig im Blick. „Es werden mehr Tiere von innen nach außen gefressen als von außen nach innen“, so grenzt der Ökologe Andrew Dobson Parasiten von fleischfressenden Raubtieren ab – und beschreibt damit die enorme und unterschätzte Rolle, die Parasiten in Ökosystemen zukommt. 

Der Katzenbandwurm benutzt Mäuse und Ratten als
Zwischenwirt, um seine Larven heranreifen zu lassen

Weil wir die meisten Parasiten nicht sehen, machen wir uns oft nicht bewusst, welch erstaunliche Menge an Biomasse sie in den unterschiedlichsten Lebensräumen ausmachen. So wogen die Parasiten in drei mexikanischen und kalifornischen Flussmündungen jeweils mindestens genauso viel wie andere wichtige Tiergruppen dieser Ökosysteme – Vögel, Fische und Krabben. „Niemand hat Parasiten aus der Perspektive ihres Gewichts betrachtet, weil immer angenommen wurde, dass sie fast nichts wiegen“, so der amerikanische Meereswissenschaftler Ryan Hechinger. „Jetzt wissen wir, dass das nicht stimmt.“ Wenn wir an Ökosysteme denken – etwa an die Serengeti mit ihren großen Herden von Gnus und Zebras, den Löwen und Hyänen, die den Huftieren als Räuber nachstellen –, dann betrachten wir meist nur die Beziehungen zwischen den Pflanzen- und den Fleischfressern, die in der klassischen Nahrungspyramide zum Ausdruck kommen: Der größte Teil der Biomasse ist pflanzlicher Natur; sie wird vom Mittelbau der Pflanzenfresser genutzt und verwertet. Diese wiederum dienen den Räubern als Nahrung, die an der Spitze der Pyramide nur einen kleinen Teil der Biomasse des gesamten Systems ausmachen.

Doch einen großen Teil des Ökosystems haben wir damit nicht berücksichtigt: die Zecken, Flöhe, Bakterien, die vielfältigen Würmer im Darm der unterschiedlichen Arten etwa – mitsamt ihrer großen Biomasse und ihren komplexen Lebenszyklen, die oft Wirtswechsel beinhalten. So manche Bandwurmlarve wächst im Muskelgewebe eines Pflanzenfressers heran und kann sich nur in Fleischfressern einer ganz bestimmten Art zum ausgewachsenen Wurm entwickeln. Für den Beutetierparasiten ist es also lebensnotwendig, dass ein Löwe kommt und seinen Zwischenwirt reißt und frisst. Betrachtet man Parasiten in einem Ökosystem wie dem der Serengeti, ergeben sich erstaunlich lange, kreuz und quer verlaufende Nahrungsketten. Ein solches Nahrungsnetz ist so komplex, dass von der übersichtlichen Pyramidenstruktur nicht mehr viel übrig bleibt. Es ist viel verstrickter, weil deutlich mehr Spezies beteiligt sind – mit Verknüpfungen, die nach außen zunächst unsichtbar sind.

Wie sähe eine Welt ohne Parasiten aus?

Bislang wurden also einige der stärksten Beziehungen in der Natur kaum beachtet. Über die Rolle von Parasiten in Ökosystemen wissen wir nur wenig. Um ihre Bedeutung einzuordnen, hilft ein Gedankenspiel: Was wäre, wenn alle Parasiten von einem Tag auf den anderen verschwänden? Innerhalb von Stunden wären viele Menschen „gesund“ – chronische Krankheiten wie Malaria und Bilharziose wären mit einem Mal von der Erde getilgt, genauso Wurmerkrankungen, Schnupfen, Aids und Ebola. Wir Menschen würden stärker und kräftiger, könnten besser arbeiten, unser Leben mehr genießen. Auch unsere Nutztiere und Nutzpflanzen würden besser gedeihen ohne Nagana-­Rinderseuche und Schweinepest, ohne Mehltau, Weizenrost und Bananenpilz. Natürlich wären ebenso die wild lebenden Tiere und wild wachsenden Pflanzen auf einen Schlag „befreit“.

Wahrscheinlich würden diese paradiesischen Zustände aber schon bald vorübergehen. Unser Immunsystem ist weiterhin da: hochgerüstet und ständig abwehrbereit. Sein Arsenal an Waffen liegt nun brach, seine spezielle Fähigkeit, „fremd“ von „eigen“ zu unterscheiden, ist kaum gefordert. Die Geschütze sind geladen, und sie wollen feuern; dazu genügen kleinste Anlässe. Unser Immunsystem hätte viel weniger zu tun, und die unterbeschäftigten Abwehrzellen würden im Körper neue Betätigungsfelder suchen – die Zahl an Allergien und Autoimmunkrankheiten nähme rasch zu. Sie könnten bei vielen sogar außer Kontrolle geraten und durch anaphylaktischen Schock oder andere Extremreaktionen unseres Organismus zum Tode führen. Dies beträfe natürlich auch einen großen Teil der Tierwelt. 

Nicht nur das Immunsystem vieler Arten geriete außer Kontrolle, schon bald hätte das weltweite Verschwinden der Parasiten noch ganz andere Folgen. Viele halten genau jene pflanzenfressenden Insekten oder andere Lebewesen in Schach, die wir als Schädlinge bezeichnen. Innerhalb von Monaten würden deren Populationen geradezu explodieren und sich über unsere Ernten hermachen, sodass wir immer mehr Pestizide einsetzen müssten, damit für uns etwas übrig bliebe – eine große Belastung für die Umwelt und viele Spezies. Überhaupt nähmen die Populationen vieler Spezies zu, die nun nicht mehr durch Parasiten an ihrer Entfaltung gehindert würden.

Das Männchen des Katzenflohs ist nur einen Millimeter
groß. Sein Stich kann Krankheiten übertragen 

Auch die Weltmeere würden sich schnell massiv verändern. Grundlage des Lebens dort sind die Algen des Phytoplanktons, die sich mit einer Vielzahl von Viren herumschlagen müssen. Wenn diese plötzlich verschwänden, würden sich die Algen ohne Ende vermehren. Es sei schwer vorherzusehen, so der Evolutionsbiologe Luis Zaman, was ohne diese Viren geschehen würde. Die Ozeane könnten bald von dicken grünen Algenmatten bedeckt sein. Oder der Lebensraum Meer könnte zwischen Zuständen üppigster Vegetation und beinahe blanker Wasserwüste oszillieren. „Mit großer Sicherheit“, so Zaman, „würde all das nicht gut enden.“

Der Hintergrund des Äskulapstabes

Eine Welt ohne Parasiten wäre also nicht unbedingt eine bessere. Wir müssen Parasiten nicht mögen, aber vielleicht sollten wir versuchen, sie mit neutralen Augen zu betrachten. Denn, so Andrew Dobson: „Sie könnten der Faden sein, der die Struktur ökologischer Gemeinschaften zusammenhält.“ Dies würde bedeuten, dass sie durch ihre Existenz eine wirklich große und wichtige Dienstleistung erbringen: stabile und damit gesunde Ökosysteme. 

Erstaunlicherweise scheint just der Erreger der fürchterlichen Dracunculiasis Vorbild für das weltweite Zeichen der Heilung zu sein: Bis heute ist der Äskulapstab das Symbol der Ärzteschaft – als Logo der Weltgesundheitsorganisation (WHO), des deutschen Hartmannbunds und etlicher weiterer Ärzteorganisationen. Um den Stab des griechischen Gottes Asklepios, des mythologischen Begründers der Heilkunst, ringelt sich eine Schlange. Hinter der Schlange könnte sich, so eine Erklärung vieler Parasitologen, jener schmerzhafte Beulen an den Extremitäten verursachende Guineawurm verbergen, der schon in über 3000 Jahre alten ägyptischen Mumien nachgewiesen wurde. Denn bis heute gibt es nur eine Möglichkeit, ihn aus dem menschlichen Körper zu entfernen: Man muss seinen vorderen Teil zu fassen kriegen, wenn er wie eine Glasnudel aus der Eiterbeule herausbaumelt. Um ihn dann wie Garn auf eine Spule langsam auf ein Stöckchen zu wickeln, damit er nicht in den Körper zurückschlüpfen kann. 

Die qualvolle Prozedur kann sich über viele Wochen hinziehen; sie muss extrem vorsichtig erfolgen, damit der Wurm nicht abreißt und im Körper schlimme Entzündungen verursacht. Diese Beschreibung macht deutlich, weshalb nicht eine Schlange, sondern jene gruselige Existenz hinter dem alten Symbol der Ärzteschaft stecken könnte. Jenes Hölzchen, um den sich am Ende der tote Wurm wickelt, ist bis heute die einzige Behandlungsmethode geblieben. 

Von Parasiten lernen

Denn der Guineawurm ist im Laufe unserer gemeinsamen Evolution so gut an unseren Körper und sein Immunsystem angepasst, dass keine Medizin, keine Wurmkur, keine Impfung gegen ihn hilft. Nur dank einer breit angelegten Kampagne mit strengen Hygienemaßnahmen konnte der Guineawurm mitsamt seiner fürchterlichen Krankheit fast vollständig ausgerottet werden. Ein großer Erfolg: Noch in den 1940er Jahren litten fast 50 Millionen Menschen unter ihm, meist in den ärmsten Regionen ihrer Länder. 

Viele bestellten vor lauter Schmerz ihre Felder nicht mehr oder ließen die Herden unbehütet. Wegen der wirtschaftlichen Verluste nicht nur für einzelne Familien, sondern für ganze Dörfer heißt die Dracunculiasis in Mali auch die „Krankheit der leeren Kornkammern“. Sollte seine Ausrottung vollständig gelingen, verschwände aber auch unglaubliches und unbekanntes Wissen über unser Immunsystem: Neben potenten Morphinen, die der Guineawurm ausschüttet, während er durch unseren Körper wandert, die als Schmerzmittel medizinisch hilfreich sein könnten, würde das Wunder seiner Tarnkappe verschwinden, mit der er unserem Immunsystem entgeht, sodass er nicht als „fremd“ erkannt und eliminiert wird – wie transplantierte Organe, deren Abstoßung mit großem Aufwand verhindert werden muss. Er könnte uns lehren, wie man unser hochgerüstetes Immunsystem in Schach hält, das unserer zivilisierten Welt immer mehr Allergien und Autoimmunkrankheiten beschert. Der fürchterliche Wurm an Äskulaps Stab könnte für die Medizin noch zu einem ganz anderen Heilsbringer werden.

Parasiten haben uns und unsere Körper seit Jahrmillionen geprägt, weitaus mehr, als wir es ahnen. Sie halten unsere Ökosysteme gesund, die wir zum Überleben brauchen. Sie könnten uns sogar noch viel mehr sein: Sind wir als Spezies doch dabei, die Lebensgrundlagen unseres Wirtes, des Planeten Erde, so stark auszubeuten, dass wir nach Ansicht des Stockholm Resilience Centre, das sich Fragen der Nachhaltigkeit widmet, schon längst einige ökologische Belastungsgrenzen überschritten haben, was unsere Existenz bedroht. 

Wir sollten uns daher so manch hirnlosen Wurm zum Vorbild nehmen. Denn ein guter Parasit, das haben wir gelernt, bringt den Wirt nicht um, bei dem er mitisst, den er beraubt, von dem er lebt, den er ausnutzt. Das würde nämlich sein eigenes Überleben infrage stellen. Um den Kollaps unseres komplexen Ökosystems Erde zu verhindern, um unsere Lebensgrundlagen zu erhalten, sollten wir danach eifern, zum Homo parasiticus zu werden. Das wäre unsere Chance, dauerhaft zu überleben.

 

Dieser Text stammt aus der Oktober-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

Sie sind Cicero-Plus Leser? Jetzt Ausgabe portofrei kaufen

Sie sind Gast? Jetzt Ausgabe kaufen

Anzeige