Kirchenaustritte - Wer, bitte, braucht Gott?

Eine halbe Million Menschen haben die beiden großen Kirchen 2019 verlassen. Als Gründe werden immer wieder die Missbrauchsskandale und das Kirchensteuersystem genannt. Dabei liegt die Ursache für die Entfremdung der Christen von der Kirche viel länger zurück.

Ein seltenes Bild: So voll sind die meisten Kirchen nur noch an Weihnachten /dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Eine Epoche geht zu Ende. Eine Epoche, die die Geschichte der Menschheit im Guten wie im Schlechten mehr geprägt hat als alle anderen Epochen zuvor: die Epoche des christlichen Abendlandes. Romanische Dome, gotische Kathedralen, das Papsttum, die Reformationen, die Renaissance, Messen, Oratorien und Lieder, christliche Theologie und Philosophie, zudem Alltagsrituale, Feste und Wertvorstellungen, die das Leben in Europa seit der Spätantike prägten: Es ist vorbei. Das Abendland, es war einmal christlich und wird es nie wieder werden. Was danach kommt, es ist ungewiss.

Eine halbe Millionen Menschen haben im vergangenen Jahr die beiden ehemals großen Kirchen verlassen. Einsamer Rekord. Dabei hoffte man, insbesondere in der katholischen Kirche, auf eine Trendwende. Zumindest auf eine Konsolidierung. Vergebens. Knapp 273.000 Menschen verließen im letzten Jahr die Una Sancta Catholica et Apostolica Ecclesia. Im Jahr zuvor waren es 216.000. Seit der Jahrtausendwende kehrten insgesamt 6,5 Millionen Menschen dem institutionalisierten Christentum den Rücken. Nur noch die Hälfte aller Menschen hierzulande gehört einer christlichen Kirche an. Vor siebzig Jahren waren es noch 95 Prozent, nach der Wiedervereinigung immerhin 72 Prozent.

Christsein ist kein Verwaltungsakt

Nun ist Christsein nicht identisch mit der Zugehörigkeit zu einer Kirche. Christsein ist kein Verwaltungsakt und noch weniger ein steuerrechtlicher Status. Christsein ist innere Glaubenshaltung, zumindest ein kulturelles Bekenntnis. Aber auch aus dieser Perspektive befindet sich das Christentum im Rückzug. Nur noch 55 Prozent aller Deutschen glauben an einen Gott. Und die christliche Bildung ist ohnehin im Verschwinden. 

In vierzig Jahren, so die Prognosen, wird sich die Anzahl der Kirchenmitglieder auf deutlich unter 30 Millionen halbiert haben. Lediglich ein Viertel der Deutschen wird dann noch einer christlichen Kirche angehören. Und diese Schätzung ist eher optimistisch.

Austrittsgrund: Missbrauchsskandale? 

Auf der Suche nach den Gründen für diesen Exodus verweisen Kirchenvertreter gerne auf die Missbrauchsskandale und das Kirchensteuersystem. Beide Aspekte spielen ohne Frage eine Rolle. Sie zu den Hauptursachen des Niedergangs des Christentums in Europa zu machen, ist jedoch Augenwischerei. Denn das Hauptproblem ist die christliche Erzählung selbst.

Seit Beginn des 19. Jahrhunderts ist das Christentum in der Defensive, insbesondere im städtischen Bürgertum. Bestsellerwie David Friedrich Strauß'  Das Leben Jesu oder Feuerbachs Das Wesen des Christentums oder Ernst Haeckels Die Welträtsel markieren den Triumphzug historischen und wissenschaftlichen Denkens im Zeitalter der Industrialisierung. Die Pracht und Größe neugotischer Backsteinkirchen in den Gründerzeitvierteln unserer Städte darf nicht über die Krise hinwegtäuschen, in der sich das Christentum schon damals befand – und die diese Bauten kaschieren sollten.

Sinnsuche in der Natur oder im Hedonismus

Endgültig in sich zusammen brach das Christentum im Schlamm und Elend der Schützengräben des Ersten Weltkriegs. Das industrialisierte Massensterben war mit dem Bild eines gütigen, allmächtigen Gottes schlicht unvereinbar. In den 20er Jahren suchte insbesondere die städtische Jugend dann nach neuen Sinnangeboten, sei es in utopistischen Heilslehren vom neuen Menschen, in der Natur oder schlicht in einem emanzipatorischen Hedonismus.

Es war der protestantische Theologe Rudolf Bultmann, der mitten in Zweiten Weltkrieg das nüchterne Fazit zog: „Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben.“ Entsprechend befindet sich das Christentum, zumal nach dem Modernisierungsschub der 60er Jahre, in einer Daueragonie.

Die Infantilisierung des Christentums

Die hilflosen Versuche der Kirchenführungen, traditionelle Glaubensinhalte durch einen neulinken Jargon zu ersetzen und die Botschaft des Evangeliums zu einem Aufruf für eine multikulturelle, sozialökologische Politik umzuinterpretieren, ist Ausdruck dieser Krise. Keine Frage: Die damit einhergehende Infantilisierung des Christentums ist ästhetisch kaum zu ertragen. Allerdings darf bezweifelt werden, dass ein anderer politischer Kurs sehr viel erfolgreicher gewesen wäre.

Denn mit dem Christentum kam die Idee des autonomen, allein Gott verantwortlichen Individuums in die Welt. Diese Idee hat Europa groß gemacht. Zugleich legte sie die Lunte an die eigene religiöse Erzählung. Autonome Individuen brauchen irgendwann keine Götter mehr. Sie sind sich selbst genug. So gesehen ist der Untergang des Christentums Zeugnis seines Erfolges. Zumindest daran sollten wir uns in dem postchristlichen Abendland der Zukunft erinnern.

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