Kippa, Kreuz und Kopftuch - Warum Söder Recht hat

Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder musste für seine Kruzifix-Initiative viel Spott über sich ergehen lassen. Die Kritiker aber missverstehen die Funktion religiöser Symbole in säkularen Gesellschaften. Von Alexander Grau

Koran, Kippa, Chanukkaleuchter, Kaaba, Kreuz und Torarolle / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

So erreichen Sie Alexander Grau:

Anzeige

Ohne Religion keine Kultur. Und ohne Kultur keine Religion. Denn beide sind Techniken der Zähmung des Bedrohlichen und Unbekannten, des Unberechenbaren und Chaotischen. Kultur und Religion stiften einen Raum der Sicherheit, der Ordnung und des Geregelten, also all dessen, was die Bedeutung des lateinischen cultura umfasst: Anbau, Pflege und Bearbeitung, aber auch Veredlung und Verehrung.

Kultur im Moment ihrer Erfindung bändigte also das Ungezähmte. Ein Mittel dazu war der Ackerbau, der die Landschaft ordnete. Ein anderes heilige Zeremonien, die das Jahr gliederten und die Götter berechenbarer machten. 

In säkularen Gesellschaften ist jedoch genau diese Verschmelzung von Religion und Kultur ein Problem. Denn der säkulare Mensch der Moderne will sich seine Kultur nicht religiös kontaminieren lassen.

Hinzu kommt, dass in den vergangenen Jahrzehnten in überaus großer Zahl Menschen nach Europa eingewandert sind, die eine sehr traditionelle Vorstellung von Kultur und Religion haben, die also davon überzeugt sind, dass das eine nicht von dem anderen zu trennen ist.

Der Bedeutungsverlust der Religion

Spätestens hier wird es kompliziert. Denn in westlichen Gesellschaften haben alle relevanten Subsysteme ein hohes Maß an Autonomie erlangt: Wissenschaft, Wirtschaft, Recht, Religion, Kultur. Sie alle funktionieren weitgehend unabhängig voneinander und nach ihrer eigenen Logik. Die Religion hat ihre normierende Funktion anderer Diskurse verloren. Deshalb ist man stets so peinlich berührt, wenn Geistliche sich zum Wirtschaftsleben äußern oder zu wissenschaftlichen Fragen.

Je deutlicher sich gesellschaftliche Diskurse jedoch von der Normierung durch die Religion befreien, je mehr sich Religionen also faktisch aus dem öffentlichen Raum zurückziehen, desto leichter sind ihre Symbole für areligiöse oder scheinbar religiöse Anliegen benutzbar. Das Ergebnis: Eben weil so gut wie alle gesellschaftlichen Diskurse autonom von der Religion verlaufen, werden ihre Symbole für außerreligiöse Anliegen instrumentalisiert. Das religiöse Symbol – oder was man dafür hält – wird zur Ikone gesellschaftlicher Auseinandersetzungen umgedeutet: sei es das Kreuz durch die Kruzifix-Initiative Markus Söders, die Kippa bei „Berlin trägt Kippa“ oder das leidige Kopftuch, das vor wenigen Jahrzehnten als das traditionelle Kleidungsstück der Muslima entdeckt wurde.

Schon klar: Die drei genannten Fälle unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht. Ihnen gemeinsam ist dennoch, dass es darum geht, mit Hilfe eines religiösen Symbols gesellschaftspolitische Anliegen zu formulieren.

Söder fortschrittlicher als seine Kritiker

Angesichts der zunehmenden Präsenz religiöser Symbole in der Öffentlichkeit von einer Rückkehr des Religiösen zu sprechen, geht daher an der Sache vorbei. Markus Söder hat das, anders als seine mitunter etwas einfältigen Kritiker, durchaus begriffen.

Wenn der bayerische Ministerpräsident davon spricht, dass das Kreuz „nicht ein Zeichen einer Religion, sondern für die geschichtlich-kulturelle Identität und Prägung Bayerns“ sei, so mag man in theologischen Seminaren die Stirn runzeln. Doch Söder hat mit seiner semiotischen Intervention die kulturellen Umformungsprozesse der Moderne auf den Punkt gebracht: Religiöse Symbole, egal ob Kleidungsstück, Fest, Ritual oder Zeichen, haben aufgrund der Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften ihre spezifische Bedeutung verloren. Nicht zuletzt aus der Außenperspektive stehen sie für die Kultur als Ganzes – vollkommen unabhängig wie religiös sie tatsächlich noch ist.

Das Gute daran

Der ebenso absehbare wie dümmliche Hohn und Spott, der Söder in den vergangenen Tagen aus dem Milieu der Modernen und Progressiven entgegen schlug, geht daher vollkommen an der Sache vorbei. Mehr noch: In gewissem Sinne ist der bayerische Ministerpräsident – ob bewusst oder unbewusst – seinen Kritikern intellektuell Jahrzehnte voraus. Denn tatsächlich stehen religiöse Symbole heutzutage vor allem für kulturelle Identität und Geschichte.  

Es ist bezeichnend, dass insbesondere die sich fortschrittlich wähnenden Religionsverächter einschlägiger Milieus die Funktion religiöser Symbole in säkularen Gesellschaften so missverstehen. Dass sie ausgerechnet von dem Konservativen Söder darüber aufgeklärt werden, wie religiöse Symbole in einer säkularen Gesellschaft funktionieren, macht die Sache allerdings schon wieder ganz unterhaltsam.

Anzeige