Marx-und-Wagner-Ausstellung in Berlin - Ungleiche Zeitgenossen

Der eine wollte die Welt entzaubern, der andere sie wieder-verzaubern: Das Deutsche Historische Museum in Berlin widmet Karl Marx und Richard Wagner eine Doppelausstellung. Der Kapitalismuskritiker und der Komponist waren in mancher Hinsicht einander recht ähnlich. Und einander unähnlich, wo man es nicht erwartet.

Wie viel Richard Wagner steckt in Karl Marx? Und andersherum? Das Deutsche Historische Museum widmet ihnen eine Doppelausstellung / dpa
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Autoreninfo

Herfried Münkler ist emeritierter Politikwissenschaftler. Zuletzt erschien sein Buch „Marx, Wagner, Nietzsche – Welt im Umbruch“.

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Als der griechische Schriftsteller Plu­tarch am Ende des ersten Jahrhunderts das Darstellungsformat der Parallelbiografie erfand, verfolgte er eine politische Absicht: Es ging ihm um den gegenseitigen Respekt zwischen Griechen und Römern, um das Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb des Imperium Romanum und um die Beruhigung von Separationsabsichten, die er im griechischsprachigen Teil des Reiches glaubte wahrnehmen zu können. Er wollte zeigen, dass beide Reichsteile zusammengehörten und aufeinander angewiesen waren, und zu diesem Zweck erzählte er in wechselseitiger Bespiegelung das Leben und Wirken eines griechischen und eines römischen Politikers, Militärs, Gelehrten oder Dichters. Er wollte deutlich machen, dass die Griechen nicht nur gelehrt und kultiviert, sondern auch politisch und kriegerisch versiert waren und dass Rom nicht nur glänzende Soldaten und Politiker, sondern auch hervorragende Redner und Schriftsteller hervorgebracht hatte. Was zusammengehörte, sollte auch als zusammengehörig wahrgenommen werden.

Das ist bei Richard Wagner und Karl Marx, obwohl sie Zeitgenossen waren und intellektuell wie ästhetisch ihre Nachwelt zutiefst beeinflussten, so nicht möglich. Ihre Verehrer und Anhänger standen sich im 20. Jahrhundert zumeist unversöhnlich bis feindselig gegenüber. Politische Revolutionäre hier, Anhänger der Tradition da – eine Entgegensetzung, die sich, zweifellos überpointiert, bis hin zu dem weltpolitischen Kampf zwischen dem Marxisten Stalin und dem Wagnerianer Hitler stilisieren lässt. So weit sind die Kuratoren des Deutschen Historischen Museums in Berlin in der Doppelausstellung zu Marx und Wagner nicht gegangen, als sie die eine unter die Überschrift „Marx und der Kapitalismus“ und die andere unter das Thema „Wagner und das deutsche Gefühl“ stellten. Auf der einen Seite die Analyse des sozioökonomischen Umbruchs in globaler Perspektive, auf der anderen die Arbeit an der deutschen Identität; Zukunftsentwürfe hier, Vergangenheitssemantiken da; bei Marx die harte Textur der ökonomischen Verhältnisse, bei Wagner die Intimität der nationalen Gefühle.

Marx und Wagner sind keine Gegensätze

Gegen diese Zuordnung lässt sich nichts einwenden, hat sich Marx doch sein halbes Leben lang um die Entschlüsselung der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung bemüht – und ist damit nicht fertig geworden. Und Wagner hat sich als den am meisten deutsch fühlenden Menschen bezeichnet – um dann in Wutreden über ein Philistertum auszubrechen, das er als typisch deutsch ansah. Doch auch Marx konnte sich mit Invektiven gegen die deutschen Philister nicht genugtun, und eine seiner großen Sorgen war, dass sich die kleinbürgerliche Behäbigkeit auch und gerade in der deutschen Sozialdemokratie ausbreiten werde. 

Zumindest in den Philistern hatten Marx und Wagner einen gemeinsamen Feind. Aber nicht nur das: Der Exilant Marx, der den größten Teil seines Lebens in London zubrachte, konnte sich gelegentlich sehr deutsch fühlen, etwa als er das Erscheinen des „Kapitals“ (Band 1) mit der Bemerkung begleitete, dieses Buch sei „ein Triumph der deutschen Wissenschaft“; oder als er nach der Niederschlagung der Pariser Kommune sich mit Engels darüber austauschte, dass nunmehr das Zentrum der Revolution von Paris nach Deutschland übergewechselt sei, sollte heißen, dass Marx’ Theorie über ­Proudhons gesiegt hatte. Auch von seinen Gegnern im sozialistischen Umfeld wurde Marx als „typisch deutsch“ wahrgenommen – und angefeindet. So einfach, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag, ist die Entgegensetzung von Wagner und Marx also nicht. In mancher Hinsicht waren sie einander recht ähnlich. Und einander unähnlich, wo man es nicht erwartet.

Keine schwäbischen Hausfrauen

Lebensweltlich war Marx eher konservativ, was einer der Gründe war, warum er notorisch über seine Verhältnisse lebte: Es sollte nicht auffallen, wie schlecht er seine Familie materiell versorgen konnte, weswegen man sich eine Haushälterin leistete, für die Kinder ein Klavier auslieh, um ihnen die in bürgerlichen Kreisen übliche Musikausbildung zuteil werden zu lassen. Zeitweilig hatte Marx auch einen Privatsekretär, der sich um den Briefwechsel kümmerte und Marxens Texte in eine leserliche Fassung brachte. Als dieser Privatsekretär, wie Marx ein deutscher Emigrant, auf besagtem Klavier Auszüge aus Wagners Opern vorspielte, konnte Marx mit dieser Musik nichts anfangen, ja er lehnte sie sogar dezidiert ab: Ihm fehlte die strenge Form des Sonatensatzes, wie er sie von Mozart und Beethoven her gewohnt war. Wagners unendliche Melodie war seine Sache nicht. In Fragen der Kunst, aber auch der Lebensform war Wagner der Revolutionär und Marx der Traditionalist.

Wie Marx war auch Wagner ein Schuldenmacher, freilich in sehr viel größerem Stil als der. Ging es bei Marx bloß um offene Metzgerrechnungen, bei denen Ehefrau Jenny ein ums andere Mal nicht wusste, wie sie beglichen werden sollten, oder um ins Pfandhaus gebrachte Kleidung, die ausgelöst werden musste, damit Marx wieder auf die Straßen gehen konnte, so lebte Wagner als ein Verschwender, dem das Beste nicht gut genug war und keine Wohnung genügend groß sein konnte. Pflegte Marx einen gutbürgerlichen Lebensstil, den er sich freilich nur auf Pump leisten konnte, so bevorzugte Wagner eine aristokratische Lebensführung, die zur Folge hatte, dass er binnen kürzester Zeit Schuldenberge aufhäufte, die aus eigenen Mitteln nie und nimmer abzutragen waren.

Der Hasardeur Napoleon

Bestand für Marx die finanzielle Rettung schließlich in einer regelmäßig ausgezahlten Rente vonseiten des Industriellen Friedrich Engels, so bedurfte es bei Wagner der Schatulle eines Königs, um aus der Schuldenfalle herauszukommen. Zuvor hatte Wagner sich seinen Gläubigern mehrfach durch Flucht entzogen – ein Verhalten, das für Marx völlig undenkbar war. Dafür war er viel zu bürgerlich. Wagner dagegen war ein Hasardeur, einer, der darauf setzte, dass das Glück ihm schon irgendwie günstig sein werde, und der für sein künstlerisches Schaffen offenkundig darauf angewiesen war, unter Stress zu stehen, sei es nun der Schulden wegen oder infolge ständig neuer Liebschaften.

Marx hat Hasardeure und Verschwender verachtet, in seinen politischen Schriften ebenso wie in seiner ökonomischen Theorie. Das prominenteste Beispiel eines politischen Hasardeurs war für ihn Napoleon III., gegen den zu polemisieren er sich nicht genugtun konnte, nicht nur, weil er in ihm die komödiantische Reinszenierung seines großen Onkels Napoleon I. sah. Vielmehr war er zu dem Ergebnis gekommen, Louis Bonaparte, wie er ihn zu nennen pflegte, habe durch betrügerische Tricks und verbrecherische Machenschaften dafür gesorgt, dass die gescheiterte Revolution von 1848/1849 in Paris nicht wieder aufgeflammt war und sich stattdessen in der Hauptstadt des Aufstands eine bürgerliche Ruhe breitgemacht hatte, wie es sie nach Marxens theoretischer Konstruktion im „Kommunistischen Manifest“ nicht geben durfte. Dass ausgerechnet ein Glücksspieler seine geschichtsdeterministischen Vorhersagen durchkreuzt hatte, empörte Marx.

Wie ist Louis Bonaparte einzuordnen?

Die feindselige Verachtung gegen Louis Bonaparte teilte Marx im Übrigen mit Wagner, der Ende der 1840er Jahre ebenfalls darauf gesetzt hatte, dass das revolutionäre Feuer in Paris schon bald wieder auflodern werde. Dass er sich damit geirrt hatte, war für Wagner indes nicht der Grund seiner Napoleon-Verachtung. Er nahm dem Kaiser vor allem übel, dass die Pariser Aufführung seines „Tannhäuser“ zu einem Desaster geworden war; bei Wagner waren also persönliche Gründe dafür ausschlaggebend, dass er über den 1870 erfolgten Untergang Napoleons und seines Kaiserreichs nicht genug frohlocken konnte.

Für Marx dagegen war der Untergang des Second Empire das Ende einer Zwischenphase politischen Hasardierens, wodurch die geschichtliche Entwicklung nunmehr den Verlauf nehmen konnte, den er mit Engels zusammen im „Manifest“ vorhergesagt hatte.

Um den Sturz Napoleons zu bewerkstelligen, entwickelte Marx sogar für kurze Zeit Sympathien für Bismarck und das preußische Heer, von denen die Schein- und Trugwelt Louis Bonapartes in Stücke geschlagen wurde. Aus Marx’ Sicht waren die Preußen ein Instrument der Weltgeschichte, deren zwangsläufigen Gang er im „Manifest“ beschrieben hatte; für Wagner waren sie ein Mittel zur Befriedigung seiner persönlichen Ressentiments.

Aber konnte überhaupt ein Einzelner, ein Glücksspieler zumal, der mit Tricks und Betrügereien arbeitete, den Gang der Geschichte so lange aufhalten? War das nicht eine ins Lächerliche gedrehte Theorie der „großen Männer“, ein auf den Kopf gestellter Carlyle, worauf Marx hier zurückgriff? Louis Bonaparte, das war Marx klar, konnte das nicht allein geschafft haben. Um dessen Rolle in der Revolutionsgeschichte zu erklären, nahm Marx bei einer Moralisierung der Ökonomie Zuflucht, die in seiner Kapitalismusanalyse eigentlich keinen Platz hat – und die sich in seinen ökonomietheoretischen Arbeiten auch nicht findet. In seinen politischen Schriften spielt sie jedoch eine zentrale Rolle. Man kann sie im klassentheoretischen Präfix des „Lumpen“ zusammenfassen: der Verdopplung des sozialen Tableaus, das im „Manifest“ nur aus Bourgeoisie und Proletariat bestand, durch die Hinzufügung der Lumpenbourgeoisie und des Lumpenproletariats.

Lumpenproletariat und -bourgeois

Zum Lumpenproletariat gehören nach Marx all jene, die nicht den langfristigen soziopolitischen Interessen ihrer Klasse folgen, sondern sich von politischen Glücksrittern kaufen lassen, um auf Plätzen und Straßen als Schlägertrupps für deren Ziele aufzutreten – eine Vorstellung, die in den Faschismusanalysen der 1920er und 1930er Jahre noch einmal relevant wurde. Lumpenproletarier sind Angehörige der unterbürgerlichen Schichten, die zur Konterrevolution übergelaufen sind.

Lumpenbourgeois hingegen sind nicht deren gespiegelter Widerpart, also der Bourgeoisie Angehörende, die sich den Revolutionären angeschlossen haben. Sie sind vielmehr eine bunte Mischung aus Personen, die nicht dem bourgeoisen Imperativ einer über den Konkurrenzmechanismus angetriebenen permanenten Revolutionierung der Produktionsmittel folgen und deswegen eher asketisch leben. Sondern solche, die ein opulentes und verschwenderisches Leben führen, da sie das kapitalistische Mehrprodukt hemmungslos verprassen. Dadurch dämpfen sie die kapitalistische Konkurrenz und entschleunigen den Gang der Geschichte, wie ihn Marx dechiffriert zu haben glaubte. 

Marxismus im „Ring des Nibelungen“

Lumpenbourgeois sind weniger Konterrevolutionäre als Verweigerer einer kapitalistischen Revolutionierung der Produktion. Lumpenbourgeoisie – das ist für Marx die Gesellschaft des Second Empire, wie sie in den Operetten von Jacques Offenbach dargestellt wird. Mit dessen Operetten war Marx im Übrigen leidlich vertraut, wie sein während der ersten Bayreuther Festspiele gemachter Vorschlag zeigt, die dort um Wagner versammelte Gesellschaft – Cosima, die mit Wagner zwei außereheliche Kinder hatte; deren gehörnter Ehemann Hans von Bülow, Dirigent in Bayreuth; sowie Wagners Schwiegervater Franz Liszt, Vater zweier unehelicher Töchter, der inzwischen Abbé geworden war – sei ein vorzügliches Sujet für eine Operettentetralogie Offenbachs.

Die in Wagners „Ring des Nibelungen“ um die Macht konkurrierenden Gruppen lassen sich im marxschen Sinn entweder als Lumpenbourgeoisie oder als Lumpenproletariat bezeichnen: Die um Wotan gescharten Götter pflegen im Prinzip einen dem Genuss des Bestehenden gewidmeten Lebensstil als „ewige Schwelger“, wie Alberich sie einmal nennt. Dass dann doch die Sorge in ihr Dasein einbricht, hat mit Wotans Amouren und seinem Repräsentationsbedürfnis zu tun, das ihn größer bauen lässt, als er bezahlen kann. Aber auch die Riesen, die durch Wotans Vertragspolitik verdrängten einstigen Herren der Welt, inzwischen proletarisierte Bauarbeiter, die an Produktionsmitteln nichts besitzen als ihre Muskelkraft, streben nicht nach Umsturz, sondern sind auf der Suche nach einem Weib, das sie ihre trostlose Existenz vergessen lässt. Dabei lassen sie sich auch noch durch hinterhältige Goldangebote gegeneinander ausspielen.

Ein Verhältnis von Ignoranz und Arroganz

Die Nibelungen schließlich, zunächst selbstständige Berg­arbeiter, die unter Tage arbeiten, um ihre Frauen mit Gold und Silber zu schmücken, denken von sich aus nicht über einen Aufstand nach, sondern werden erst durch einen aus ihrer Mitte, Alberich, dafür instrumentalisiert. Aber Alberich will keine andere Gesellschaft, sondern nur selbst ein Leben wie die Götter führen. Das ist ihm freilich von Anfang an verwehrt, denn um zu Macht zu kommen, hatte er der Liebe abschwören müssen. Zu sorglosem Liebesgenuss ist er unfähig. Wenn man so will, ist Alberich der Inbegriff eines den unteren Schichten Angehörenden, der die Macht an sich reißt, um nach oben zu kommen, aber dafür auf alles verzichten muss, weswegen sich das Nach-oben-Kommen lohnen könnte.

Wagner und Marx haben einander entgegengesetzte Vorstellungen vom Verlauf der Revolution, ihren Ergebnissen und den Ursachen ihrer Verzögerung oder ihres Scheiterns entworfen. Sieht man einmal darüber hinweg, dass Marx als Gesellschaftsanalytiker arbeitete, der sich tagtäglich in der Bibliothek des Britischen Museums mit harten Daten versorgte, um seine theoretischen Entwürfe empirisch zu validieren – während Wagner germanische Mythen aufbereitete, um in ihnen ein der Kontingenz geschichtlicher Verläufe überhobenes Muster des gesellschaftlich-politischen Auf und Ab zu finden –, so haben sie doch über ein und dasselbe Problem nachgedacht: die Frage, wie der große Umbruch der Verhältnisse, dessen Zeitgenossen sie waren, zu begreifen und was das Wünschenswerteste seiner Ergebnisse war. 

Marx hat dabei im Anschluss an die Religionskritik Feuerbachs auf die Entzauberung der Welt gesetzt, die für ihn eine Voraussetzung für die tatsächliche Veränderung und den Anbeginn eines gänzlich Neuen war. Wagner dagegen hat, ebenfalls zutiefst durch Feuerbach beeinflusst, die Wiederverzauberung der Welt als Lösung bevorzugt, und diese Lösung sollte durch seine Kunst bewerkstelligt werden. Da war es nur naheliegend, dass er im „Parsifal“ Kunst und Religion ineinander verschwimmen ließ. Vermutlich hat Wagner immer wieder über gemeinsame Bekannte von Marx und seinem Werk gehört; explizit geäußert hat er sich dazu nicht. Marx scheint sich einige Male mit dem „Ring“ beschäftigt zu haben. Als alternative Gesellschaftstheorie ernst genommen hat er Wagners Werk nicht, ebenso wenig als eine Revolutionierung des musikalischen Schaffens. Über die Bayreuther Uraufführung des gesamten „Ringes“ äußerte er, es handle sich dabei um „das Narrenfest des Staatsmusikanten Wagner“. So sind sich die beiden in Ignoranz und Arroganz begegnet.

Dieser Text stammt aus der März-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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