Karl Marx - Marx & Murx

Als Ökonom ist Karl Marx gescheitert. Als Philosoph hat er sich zu Tode gesiegt. Für das Renten- und Bildungssystem hält er aber Lektionen bereit

Erschienen in Ausgabe
Debatten über Kinderarmut und das Bildungssystem zeigen: In gewisser Hinsicht sind wir alle Marxisten / picture alliance
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Autoreninfo

Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Das Jahr 2018 löst anlässlich des 200. Geburtstags von Karl Marx ein formidables Konjunkturprogramm für Heuchelei aus. In der Linken wird Marx’ Existenz nicht einmal mehr zur Kenntnis genommen, dennoch gilt es als unstatthaft, die sozialistische Liturgie während der feuilletonistischen Gottesdienste zu stören. Potemkinsche Dörfer werden zyklisch mit neuem Anstrich versehen. Was hat uns Marx heute zu sagen? So gut wie nichts. Gerade weil uns eine primitive Fassung seiner Lehren in Fleisch und Blut übergegangen ist.

In seinem Grundlagenwerk „Das Kapital“ entwickelte Marx eine „Kritik der politischen Ökonomie“, die sich auf den wissenschaftlichen Nachweis des transitorischen Charakters des Kapitalismus beschränkte. Er traf den Nagel auf den Kopf: Der Kapitalismus ist ein hochinnovatives, dynamisches Wirtschaftssystem mit Hang zur planetarischen, kulturelle Unterschiede einebnenden Ausbreitung. Der Preis hierfür ist die innere Widersprüchlichkeit und permanente Krisenanfälligkeit des Kapitalismus. Für Marx war gewiss, dass er schließlich an seinen inneren Widersprüchen zugrunde gehen werde. Aber bisher? Pustekuchen!

Auf die Frage, wie man die scheinbar nie enden wollende Phase bis zum Eintritt in das sozialistische Himmelreich überbrücken könnte, findet sich bei Marx keine wirkliche Antwort. Er wollte mit seiner „Kritik der politischen Ökonomie“ nicht den Pfleger am Krankenbett des Kapitalismus mimen, sondern diesen in den Orkus jagen. Das Elend der Arbeiterklasse als Bedingung des Untergangs des Kapitalismus zumindest hinzunehmen, hat zwar etwas Zynisches, aber logisch Konsequentes. Vom Ökonomen Marx ist für die Gegenwart daher wenig zu holen. Außer, dass der Kapitalismus keine ungefährliche Angelegenheit ist. Immerhin!

Marx, der Philosoph

Anders verhält es sich mit dem Philosophen Marx. Dieser proklamierte in den „Thesen über Feuerbach“ bereits mit 25 Jahren das Ende aller Philosophie. Die Philosophen hätten die Welt „immer nur verschieden interpretiert“, während es auf deren Veränderung ankomme. Vielen Marx-Interpreten gilt dieses Selbstbekenntnis bis heute als die Mauer, die das angebliche philosophische Frühwerk Marxens von dessen ökonomischem Spätwerk scheiden soll. Dumm nur, dass die These vom Ende aller Philosophie selbst eine philosophische These ist und daher wie ein intellektuelles Perpetuum mobile immer wieder jenes hervorbringt, was endgültig zu beseitigen eigentlich ihre Absicht ist.

Philosophisch fundamentaler ist Marxens materialistische Grundlegung der Philosophie: „Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“ Im 19. Jahrhundert, im Ausgang des philosophischen Idealismus, war dies eine unerhörte Behauptung, wiewohl ihr Kern mit der Stoa eine antike Vorläuferin hatte. Die reduktionistische Überzeugung, dass der Mensch stets und allein von den Umständen gemacht werde und sein Bewusstsein oder Denken nichts anderes sei als „Reflexe und Echos“ seiner materiellen Lebensverhältnisse, ist erkenntnistheoretisch die unmittelbare Grundlage für seinen selbstwidersprüchlichen Abgesang auf die Philosophie.

Marx und der Antisemitismusvorwurf

Von welch fundamentaler Bedeutung dieses philosophische Axiom ist, zeigt ein Vergleich mit den Schriften des russischen Revolutionärs Lenin. Während Lenin noch im Jahre 1917 einer Logik der Vernichtung Vorschub leistete, indem er die Kulaken als „Auswurf der Menschheit“ und „Parasiten“ titulierte und ihnen nicht nur den Tod an den Hals wünschte, sondern auch empfahl, ihnen „gelbe Pässe“ auszuhändigen, auf dass sie jederzeit als „Ungeziefer“ erkennbar wären, findet sich im Werk von Marx Derartiges nicht. Im Gegenteil. Wenn der Mensch von den Umständen gebildet wird, müssen Kapitalisten wie Arbeiter als Träger „ökonomischer Charaktermasken“ aufgefasst werden, die Opfer ihrer sozialen Verhältnisse sind. Oder wie es mit Blick auf die Bourgeoisie im „Kapital“ heißt: „Weniger als jeder andere kann mein Standpunkt, der die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen Prozeß auffasst, den einzelnen verantwortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt, so sehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag.“

Dem scheint die Frühschrift „Zur Judenfrage“ (1844) entgegenzustehen, die Marx den Antisemitismusvorwurf eintrug: „Welches ist der weltliche Kultus des Judentums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz. Welches ist der weltliche Kultus des Juden? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld.“ Die Emanzipation des Judentums könne nur durch die „Emanzipation der Menschheit vom Judentum“ erreicht werden. Diese Sätze haben nach Auschwitz, Adolf Hitler und Gottfried Feder einen ganz eigenen Klang; Marx hätte sie mit unserem historischen Bewusstsein so sicher nicht geschrieben. Marx reagiert auf eine Schrift Bruno Bauers, der die politische Emanzipation des Judentums nur dann für möglich erklärte, wenn sich die Juden verweltlichten, sich vom Judentum als Religion lossagten. Marx widersprach vehement. Nicht die Juden hätten sich von ihrer Religion zu verabschieden, sondern der bürgerliche Staat von dessen religiöser Prägung. Die Juden seien als Staatsbürger zu behandeln wie alle anderen auch: „Die politische Emanzipation des Juden, des Christen, überhaupt des religiösen Menschen, ist die Emanzipation des Staats vom Judentum, vom Christentum, überhaupt von der Religion.“ Klingt so ein Antisemit? Wohl kaum.

In gewisser Hinsicht sind wir alle Marxisten

Wir befinden uns mit dem philosophischen Materialismus in der intellektuellen Herzkammer des Marxismus. An genau dieser Stelle findet sich der Schlüssel zur Auflösung des scheinbaren Paradoxons, dass der historisch so bedeutsame Marx uns heute vergleichsweise wenig zu sagen hat. Es verhält sich hier wie mit Galileo Galilei. Als dieser entdeckte, dass sich die Erde um die Sonne dreht, löste es eine weltanschauliche Revolution aus. Heute gilt dieses Wissen als unspektakulär, weil es selbstverständlich ist. Ebenso scheint die Marx-Lektüre überflüssig, weil sich der philosophische Kerngedanke des Marxismus zum selbstverständlichen Allgemeingut gemausert hat. In gewisser Hinsicht sind wir also alle ein wenig Marxisten.

Wer daran ernsthafte Zweifel hat, möge sich die Debatten über Kinderarmut oder unser Bildungssystem vergegenwärtigen. Mit jeder Pisa-Studie wird eifrig die Tatsache skandalisiert, dass ein Zusammenhang zwischen der sozialen Lage und dem Bildungserfolg von Schülerinnen und Schülern bestehe. Ja, wovon, muss man fragen, soll der Bildungserfolg der Schülerinnen und Schüler denn sonst abhängen? Es kann nach Marx nicht ohne Folgen bleiben, in welchen Verhältnissen Menschen aufwachsen. Die politische Forderung, deshalb habe der Staat dafür Sorge zu tragen, den Zusammenhang zwischen sozialer Lage und Bildungserfolg zu beseitigen, erweist sich als in einer Art und Weise politisch naiv, wie es sich nur eschatologische Kommunisten leisten können. Jedenfalls wird kein einziges benachteiligtes Kind dadurch klüger, dass das Kindergeld erhöht wird. Bildung entsteht nur durch Bildung – und durch Anstrengung. Und auch die vollständige Beseitigung von „Armut“ scheitert schon am Mathematikstoff der Sekundarstufe I, jedenfalls solange der Armutsbegriff an das Durchschnittseinkommen gekoppelt wird.

Wenn Vertreter der politischen Klasse oder Publizisten derart fatale Illusionen über die Handlungsmöglichkeiten des Staates verbreiten, bereiten sie mit diesen uneinlösbaren Versprechen die Delegitimation des Staates systematisch vor. Wenn der Mensch allein das Produkt seiner Umstände und einem Stück bunter Knete vergleichbar ist, aus dem alles geformt werden kann, sind der Abschied von der Idee menschlicher Freiheit und die Adressierung jedweder Verantwortung für schlichtweg alles an den Staat oder die Gesellschaft nicht mehr weit.

Die Rentenversicherung unter Bismarck

Entscheidungen über die Ausgestaltung der Gesellschaft wandeln sich von der Auseinandersetzung über politische Konzepte in einen Wettbewerb um die höchsten leistungslosen Ausgabenversprechen des Staates. Der historische Materialismus metastasiert zum konsumistischen Materialismus. Die vielfach beklagte Ununterscheidbarkeit der etablierten Parteien findet darin einen Grund. Der Staat wird von einer die Gesellschaft ordnenden, Gemeinsinn stiftenden Institution zu einer „Auszahlungskasse“ und „Milchkuh“ (Arnold Gehlen) umfunktioniert. Wer den Eindruck erweckt, dass nicht jeder Einzelne für sein Leben zuallererst selbst verantwortlich ist, sondern der Staat für das Lebensglück von uns allen, aber zugleich das deutsche Wohlfahrtsstaatsprinzip von Leistung und Gegenleistung aufkündigt, braucht sich über Staats- und Politikverachtung nicht zu wundern.

Bismarck führte 1899 mit der deutschen Rentenversicherung auf Druck der Arbeiterbewegung ein System ein, in dem die Generationen füreinander einstehen, und mit dem die Höhe der Rente davon abhängt, was man während seines Erwerbslebens geleistet hat. „Wer sein Leben lang gearbeitet hat, der soll später auch essen“, so einfach lässt sich das Reziprozitätsversprechen des deutschen Sozialstaats mit biblischen Anleihen auf den Punkt bringen. Dieser generationenübergreifende Vertrag begründete gesellschaftliche Solidarität ebenso wie er Gemeinsinn stiftete und Stabilität des politischen Systems garantierte.

Die Quellen dieser Solidarität wurden in den letzten Jahrzehnten unter der intellektuellen Vorherrschaft des Neoliberalismus verdampft. Die empfindliche Kürzung des garantierten Rentenniveaus bei gleichzeitigem Aufbau einer kapitalgedeckten Rente, die durch die Logik der Eigenvorsorge die mentale Basis gesellschaftlicher Solidarität Schritt für Schritt untergräbt, stellt das wichtigste Legitimationsprinzip des deutschen Sozialstaats infrage. Plötzlich ist nicht mehr garantiert, dass derjenige, der sein Leben lang anständig gearbeitet und zum Gedeihen des Gemeinwesens beigetragen hat, risikofrei in die Zukunft blicken kann. Mit der von der Großen Koalition verabredeten „Solidarrente“ werden die Auswirkungen des Irrwegs abgefedert. Aber diese Maßnahme bleibt Stückwerk angesichts des massiven Vertrauensverlusts in die staatlichen Institutionen.

Die Rekonstruktion des Sozialstaats

Der Aufstieg der AfD hat herzlich wenig damit zu tun, dass sich die Zahl der Rassisten in den letzten Jahren sprunghaft vermehrt hätte. Er ist auch Folge der Tatsache, dass das Reziprozitätsversprechen des deutschen Sozialstaats Scheibchen für Scheibchen beschädigt wurde. Wenn dann „über Nacht“ mehr als eine Million Flüchtlinge in diesen Sozialstaat ganz außerhalb des Prinzips der Gegenseitigkeit eingegliedert und somit auch von denjenigen finanziert werden, die um die Auskömmlichkeit ihrer eigenen gesetzlichen Rente fürchten, braucht man sich über den mentalen Zustand der deutschen Gesellschaft nicht zu wundern.

Ein Ausweg wird sich nur über eine auf Leistung und Gegenleistung basierende Rekonstruktion des Sozialstaats unter den Bedingungen der Globalisierung erreichen lassen – von der Asyl- und Flüchtlingspolitik, über die Renten- bis zur Arbeitsmarktpolitik. Von Marx kann man lernen: Ohne die Einbeziehung von Fragen der Einkommens- und Vermögensverteilung hat seine Realisierung keine Chance. Ohne die Preisgabe eines subkutanen Marxismus auf „Horst Schlämmer“-Niveau allerdings auch nicht. Wer dem Materialismus huldigt, muss auf die Idee der menschlichen Freiheit verzichten und auf den Begriff Verantwortung. Ohne diese lassen sich Menschen nicht auf Gegenseitigkeit verpflichten. Früher hielt man diese Reziprozität für den Kerngehalt von Solidarität.

Dieser Text stammt aus der Juli-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Onlineshop erhalten.
















 

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