Zum Tod von Karl-Heinz Bohrer - Einer der letzten ...

Ein großer Essayist und Verachter: Karl-Heinz Bohrer war der Kämpfer wider die Jägerzäune und Gartenzwerge. Kaum jemand hat mit seiner spitzen Feder so sehr gegen die deutsche Spießerseele angeschrieben wie der zuletzt in London lebende Intellektuelle. Jetzt ist Bohrer im Alter von 88 Jahren gestorben.

Karl-Heinz Bohrer im Jahr 2017 / dpa
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Er war ein großer Antimoralist. Im positiven Sinne. Das klebrige Moralisieren, das schmierige Gutsein, die kleinbürgerliche Entrüstung waren ihm zutiefst zuwider. Mit aller Inbrunst und aller Verachtung schrieb er gegen die Parvenüs des richtigen Meinens, die Spießer der guten Gesinnung an. Er war einer der wenigen verbliebenen freien Geister in einer Gesellschaft die zunehmend enger, biederer und einfältiger wird: Karl-Heinz Bohrer, Essayist, Journalist, Herausgeber, Intellektueller, Analytiker. Am 4. August ist er im Alter von 88 Jahren in London verstorben.

Bohrer war nicht nur ein großer Antimoralist, er war vor allem auch ein brillanter Verachter. Allerdings hat das eine mit dem anderen zu tun. Verachtet hat er alles Kleingeistige, alles Dumpfe und Bemühte. Und da diese Eigenschaft unglücklicherweise vor allem im Land seiner Väter kultiviert wird, arbeitete sich Karl-Heinz Bohrer auch immer an Deutschland und den Deutschen ab. Sein Bannstrahl traf den deutschen Biedermann und die deutsche Biedermännin in all ihren hässlichen Ausformungen. Vor allem als schlecht gekleidete und linkische Oberlehrer der richtigen Haltung. Berühmt seine Analyse des Jägerzauns als Symbol deutscher Mentalität und deutscher Kultur.

Kampf gegen die Provinzialität

Karl-Heinz Bohrers Leben war ein andauernder Feldzug gegen die Provinzialität. Dass er einem Land entstammte, in dem der provinzielle Gestus mit dem Anspruch an Weltläufigkeit überproportional zunimmt, hat seinen beißenden Spott provoziert. In seinem wunderbaren Essay über den „Großen Stil“ beschreibt er die Eröffnung der Dependance einer deutschen Bank in London durch deutsche Banker. Selten wurde die tumbe Provinzialität der sich weltmännisch wähnenden deutschen Eliten treffender skizziert.

Es verwundert daher auch nicht, dass eine Gestalt wie Helmut Kohl Bohrer besonders herausforderte. Und das gerade deshalb, weil Bohrer eben nicht zu jenen selbstgefälligen Provinzlern gehörte, die sich über die Provinzialität des in jeder Hinsicht schwerfälligen Pfälzers mokierten. Für Bohrer war Kohl vielmehr Ausdruck eines Systems und einer Unkultur, der der Altkanzler ebenso entstammte wie dessen selbstgefällige Kritiker.

Geboren wurde Karl-Heinz Bohrer 1932 in Köln. Als Achtjähriger erlebte er die ersten Bombenangriffe auf seine Heimatstadt. Fasziniert von der Schönheit des Schrecklichen sammelte er jene Granatsplitter, die den Titel für den ersten Band seiner 2012 erschienenen Autobiografie abgaben. Ein Leben lang begleitet hat ihn die Faszination für das Schönen und der unbedingte Wille, es gegen alles Durchschnittliche und Banale zu verteidigen – gegen die Moralinsauren, gegen die Tumben und Pragmatischen. Der Kampf für die Autonomie der Kunst gegenüber Ethik, Politik und Ideologien aller Art markiert eine der Konstanten seines Schaffens. Insofern war Karl-Hein Bohrer einer der wenigen Geistesdandys und Ästhetizisten, die Deutschland hervorgebracht hat.

Journalist, Hochschullehrer, Herausgeber

Nach dem Krieg besuchte Bohrer das von dem Philosophen Georg Picht geleitete Internat Birklehof in Hinterzarten. Nach Studium und Promotion wurde er Volontär bei der Welt und ging danach zur FAZ, wo er ab 1968 das Literaturressort leitete. Ende der Siebzigerjahre kehrte Bohrer in den Wissenschaftsbetrieb zurück, habilitierte und erhielt einen Lehrstuhl an der Universität Bielefeld. Ab 1984 wurde er Herausgeber der Kulturzeitschrift Merkur, die unter seiner Ägide zu einem bedeutenden Zentrum kontroverser intellektueller Debatten wurde – nicht zuletzt durch Bohrers eigene Beiträge.

Es liegt nahe, Karl-Heinz Bohrer mit der Wendung „einer der letzten ...“ zu charakterisieren. Einer der letzten Antimoralisten, Ästheten, Geistesgrößen, Dandys, freien Geister oder was auch immer. Und tatsächlich erinnert uns der Verlust von Karl-Heinz Bohrer daran, wie dieses Land immer ärmer wird und immer piefiger. Schon lange haben genau jene die Macht übernommen, gegen die Bohrer immer anschrieb: die Betulichen und Achtsamen. Er selbst hat sich nie um irgendwelche Korrektheiten bemüht, wenn sein intellektuelles Interesse erwacht war, verkehrte mit Ernst Jünger ebenso wie mit dem noch mehr geächteten Carl Schmitt.

Das Ende der Analyse

Von erstaunlicher Aktualität erweist sich Bohrers Analyse der Wahlkampfästhetik der Grünen von 1984: „Heitere gelbe Sonnen und lachende Wichtelmännchen: eine neue Zivilisation der pathetisierten Herzenseinfalt. Eigentlich war es auch ein Versprechen auf Kuchen. Alles in gelber Farbe.“

Es hat sich wenig geändert. Nur die ebenso kühle wie schneidende Analyse Karl-Heinz Bohrers wird in Zukunft fehlen. Dabei hätten wir sie so dringend nötig.

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