Entlassung von Bild-Chefredakteur Julian Reichelt - Die mörderische Frage, wer mit wem schlief

Es ist unmoralisch, wenn in Redaktionen herumgeschlafen wird und Frauen deswegen Vor- oder Nachteile haben, wenn sie also als sexuelle Objekte markiert werden. Und sich markieren lassen. Aber der Mann ist nicht immer der Täter. Oft ist der Täter unsere Sozialisation. Was, müssen wir fragen, führt dazu, dass eine Frau ja sagt und nein denkt?

Der Axel-Springer-Verlag beendete am 18. Oktober 2021 die Zusammenarbeit mit Reichelt, der seit 2017 Vorsitzender der Chefredaktionen und Chefredakteur Digital der Bild-Zeitung gewesen war / dpa
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Autoreninfo

Sophie Dannenberg, geboren 1971, ist Schriftstellerin und lebt in Berlin. Ihr Debütroman „Das bleiche Herz der Revolution“ setzt sich kritisch mit den 68ern auseinander. Zuletzt erschien ihr Buch „Teufelsberg“

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Zu Beginn meines Studiums der Publizistik an der FU Berlin, es war in den 90er-Jahren, klärten uns der Professor, eine geladene Reporterin und ein Redakteur erst mal auf. Die meisten von uns wollten schreiben. Aber, mahnte der Professor, wir sollten das Studium unbedingt abschließen, auch wenn wir vorher schon erfolgreich seien. Unbedingt! Der Redakteur sagte auch irgendwas, ich habe vergessen was. Und dann wandte sich die Reporterin an uns Frauen im Saal. Sie war blond und hübsch und gab uns einen Karrieretipp: Als Anfängerin in der Redaktion sollten wir uns einen Mann in gehobener Position suchen, er dürfe auch etwas älter sein, und ihn zu unserem Mentor machen.

Ich habe das damals nicht mitgeschrieben und kann mich nicht für den Wortlaut verbürgen. Aber es ging eindeutig um den förderlichen Einsatz weiblicher Reize. So also begann unser Schreiben, in Lankwitz, wo die Vorgärten blühten, und auf dem Campus lagen die Steinplatten fahl in der Sonne. Vielleicht dachte einer an die schönen Reportagen von Erich Kästner, dem die Frauen ja auch zu Füßen lagen, bei der wilden Weltbühne damals, und eine andere dachte an die Essays von Susan Sontag und wollte frei und politisch sein. Aber niemand dachte an so etwas wie #metoo.

Und jetzt würde ich am liebsten in Großbuchstaben weiterschreiben, die mindestens so riesig sind wie die Überschriften der Bild-Zeitung. Es war die Frau, die uns diesen entscheidenden, entwürdigenden Hinweis gab und dabei charmant ins Publikum lächelte. Nicht der Mann. Es war die Frau und nicht der Mann. Sie erklärte uns nicht, wie wir zu unserer Sprache finden. Sie wies uns nicht in die Kunst der journalistischen Selbstvergessenheit ein, die es erst möglich macht, die anderen und das Fremde zu verstehen. Und sie sagte uns nicht mal, was wir tun sollen, wenn uns jemand in der Redaktionskonferenz über den Mund fährt. Oder wie wir Frauen uns vernetzen können. Sie sagte einfach nur, dass wir einen überlegenen Mann brauchen.

Das Wesen von Sexualität

Und damit zu Julian Reichelt. Der Weg, der in den undeutlich flirrenden Bereich aus sexueller Anziehung, Macht, Missbrauch, Instrumentalisierung und, ja, auch Liebe führt, ist lang und labyrinthisch. Und nicht überall beginnt er mit einem so offenherzigen Tipp wie im Berliner Institut für Publizistik. Aber alle wissen, dass es die Möglichkeit gibt, Macht über Sexualität auszuüben oder zu erlangen. Und dass es den Frauen meistens nicht gut tut, diesen Weg zu beschreiten. Etwas in ihnen, nennen wir es ruhig die Unschuld, wird dabei unwiederbringlich zerstört. Und trotzdem passiert es immer wieder.

Soweit ich weiß, waren Julian Reichelts Beziehungen zu Frauen in seinem Berufsumfeld, die ihm hierarchisch untergeordnet waren, nicht im strafrechtlichen Sinne missbräuchlich. Sie waren einfach nicht angemessen. Aber das ist das Wesen von Sexualität. Sie ist oft nicht angemessen. Darum findet sie ja im Verborgenen statt, und ich gebe zu, dass ich erst mal lachen musste, als ich las, dass sich ein ganzes Investigativteam des renommierten Spiegel mit der Frage beschäftigte, wer mit wem schlief. Überall in der Welt der Erwachsenen schläft irgendwer mit irgendwem, und das wird wohl auch immer so bleiben. Und immer wird ein Geheimnis die Sexualität umgeben, das sich nicht unbedingt investigativ ermitteln lässt. Fluch oder Segen der Sexualität: Wir werden ihr Geheimnis nicht los.

Nein, ich will Julian Reichelt nicht verteidigen, ich finde die ganze Geschichte nicht nur unappetitlich, sondern bescheuert. Ja, es ist unmoralisch, wenn in Redaktionen herumgeschlafen wird und Frauen deswegen Vor- oder Nachteile haben, wenn sie also als sexuelle Objekte markiert werden. Und sich markieren lassen. Aber der Mann ist nicht immer der Täter, und das vergessen wir gern. Oft ist der Täter unsere Sozialisation. Was, müssen wir fragen, führt dazu, dass eine Frau ja sagt und nein denkt? Und selbst das so oft viel zu spät, manchmal Jahre zu spät? Wer bringt ihr bei, so kalt gegen das eigene Herz zu handeln?

Traumatische Selbstbeteiligung

Viele nur scheinbar einvernehmlichen sexuellen Begegnungen beginnen ja so, dass eine Frau die Situation als unlustvoll oder ambivalent erlebt und dann nicht weiß, wie sie da wieder rauskommt. Sie glaubt aber, dass der Mann es wissen, dass er aufhören müsste. Sie hält ihn diesbezüglich für kompetent, sich selbst aber nicht. Erst tritt sie Macht an ihn ab, dann fürchtet sie ihn. Später, wieder in Sicherheit, wirft sie ihm vor, dass nicht nur er, sondern auch sie selbst etwas tat, was sie nicht wollte.

Diese traumatische Selbstbeteiligung ist der dumpf vor sich hinpochende Kern von #metoo, und sie entsteht nicht erst in der intimen Begegnung mit irgendeinem Julian Reichelt, sondern an einem viel früheren Punkt in der weiblichen Biografie. Diesem Kern müsste die Debatte sich stellen, diesen Fragen: Wann und wo beginnt die Schule der Unterwerfung? Und wann sind die Frauen selbst, Mütter, Erzieherinnen, Freundinnen und Kolleginnen, die eigentlichen Lehrmeister?

Nein, ich will die Männer nicht ihrer Verantwortung entbinden. Aber ohne Ehrlichkeit mit sich selbst wird es auch in diesem so begrüßenswerten Diskurs weibliche Selbstermächtigung nicht geben.

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