Shitstorm wegen alter Tweets - Verdammte Jugendsünden

Der neuen Sprecherin der Grünen Jugend fliegen derzeit alte Tweets um die Ohren. Dabei ist Sarah-Lee Heinrich nicht die erste und wird auch nicht die letzte öffentliche Person sein, die sich für Vergangenes im Netz rechtfertigen muss. Um der Empörungsspirale zu entkommen, hilft nur eins: mehr Ignoranz.

Veranstaltung der Grünen Jugend am Wochenende / dpa
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Autoreninfo

Ben Krischke ist Leiter Digitales bei Cicero, Mit-Herausgeber des Buches „Die Wokeness-Illusion“ und Mit-Autor des Buches „Der Selbstbetrug“ (Verlag Herder). Er lebt in München. 

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Im zarten Alter von 14 Jahren musste ich eine Nacht auf einer Polizeiwache schlafen. Die Beamten hatten mich zuvor mit zwei Mädchen gleichen Alters auf einem Parkplatz entdeckt. Wir hatten beschlossen, die Nacht durchzumachen. Und ich war dumm genug, den Polizisten von unserem Plan zu erzählen. Meine Ehrlichkeit kostete mich nicht nur eine vielleicht ziemlich aufregende Nacht, sondern meine Mutter auch viele Nerven, als sie morgens den Anrufbeantworter abhörte. „Hier spricht die Polizeidirektion Landsberg am Lech, wir haben ihren Sohn.“ Manche werden mit Kaffee geweckt, andere mit einem Anruf der Polizei. Teenager sind wahrlich kein Segen.

Hinterher ist man immer schlauer, will ich damit sagen. Vor allem, wenn das Vorher in die Pubertät fällt. Dieses eine Erlebnis war freilich nicht die einzige Dummheit, die sich meinem jugendlichen Leichtsinn zurechnen lässt. Daher, Gott sei Dank, bin ich froh, dass es Ende der Neunziger, Anfang der Zweitausender noch kein Twitter gab und auch sonst kein nennenswertes soziales Medium, über das ich mich hätte blamieren können. Meine verdammten Jugendsünden sind nur Notizen in meinem Kopf und in den Köpfen derer, die dabei waren. Und weil das so ist, bin ich vielfach fein raus.

Die rechte Bubble wieder

Bei jenen, die ein paar Jährchen jünger sind als ich, ist das anders. Das hat jüngst die WDR-Journalisten Nemi El-Hassan erfahren müssen, als ein Bild von ihr beim antisemitischen Al-Kuds-Marsch im Jahr 2014 die Runde machte. Und am Wochenende sah sich die neue Sprecherin der Grünen Jugend, die 20-jährige Studentin Sarah-Lee Heinrich, mehr als einem Shitstorm gegenüber, weil sich manch User ihre Twitter-Historie genauer angesehen hat. Die Recherchen förderten viel Dummes zutage und manches, das in Heinrichs wokem Milieu eigentlich als rassistisch, antisemitisch oder homophob gilt. Mindestens. Einmal twitterte sie von „Judenzeug“. Ein anderes Mal „Deine Schuhe sind schwul, meine sind teuer.“ Und einmal, dass sie irgendwann „einen Besen nehmen und alle weißen Menschen aus Afrika rauskehren“ wolle.

Das ist selbstredend nicht sehr nett. Besonders gegenüber Juden, Schwulen und Rausgekehrten. Aber man kommt auch nicht umhin, sich die Frage zu stellen, was eigentlich überflüssiger ist: Dumme Tweets einer jungen Frau, die sie mit 14 oder 15 Jahren in die Welt kippte, oder die Reflexe, die internettypisch meine Timeline fluteten. Die einen User waren angesichts all der Ismen, die sie identifiziert haben wollten, furchtbar aufgewühlt. Andere waren sich nicht zu schade, mal wieder der Woken liebstes Märchen vom Rassismus, den es gar nie gegen Weiße geben könne, zu erzählen. Und überhaupt sei das ganze Tohuwabohu um Heinrich doch nur eine Diffamierungskampagne der rechten Bubble.

Vom Entertainment-Faktor in etwa auf einem Level mit einem Hund, der Hut trägt, war dagegen die kreative Reaktion von Ricarda Lang, stellvertretende Bundesvorsitzende der Grünen. Die vermutete hinter den Shitstorms gegen Heinrich nicht etwa Empörung über gewisse Tweets, sondern die „Angst mancher Leute“ vor einer „linken, schwarzen Frau, die Menschen für Politik und für die Vision einer gerechten Zukunft begeistert“. Eine schwarze Linke schickt sich an, die Welt zu verbessern? Wenn das mal kein Grund für den nächsten Hamsterkauf ist.

Programmierte Peinlichkeiten

„Weisheit ist eine Tugend des Alters, und sie kommt wohl nur zu jenen, die in ihrer Jugend weder weise waren noch besonnen“, hat Hannah Arendt geschrieben. Da ist sicherlich was dran. Ich möchte noch anfügen: Wer frei ist von Sünde, der sende den ersten Tweet. Denn es ist nun mal so mit dem Internet, dass viele User schneller senden als denken. Da ist Heinrich keine Ausnahme. Ist ein Tweet aber erst mal in der Welt, lässt er sich nur schwer wieder einfangen. Da nutzt es auch nichts, später dann User zu blockieren, die zu anstrengend werden. Die Screenshots sind ja längst gemacht. Und da hilft es auch wenig, dass manch ein Tweet von Heinrich schon einige Jahre alt ist. Aktuell ist, was ich derzeit rezipiere. Das gilt für Hemingways „Paris, ein Fest fürs Leben“, das gerade wieder auf meinem Nachtisch liegt, genauso wie für Heinrichs „Twitter, ein Lokus meiner Gedanken“.

Selbstredend macht das die Sache nicht einfacher. Denn wie es aussieht, werden wir uns künftig noch viel häufiger streiten über einen alten Tweet oder ein altes Foto einer Person auf Instagram und darüber, was das Früher-Ich über das Heute-Ich zu berichten weiß. Wer in Deutschland im Jahr 2021 Jungpolitiker ist oder junger Medienmacher, der hat Teile seiner Pubertät qua natura für jeden öffentlich einsehbar in den sozialen Medien ausgelebt. Peinlichkeiten wie Ismen sind da programmiert. Hinzu kommt, dass wir in Zeiten leben, in denen es so semi-gut um die Debattenkultur bestellt ist. Da bist du leider auch als woke, grüne PoC nicht sakrosankt, weil den meisten Menschen egal ist, ob du im Uni-Seminar irgendwas über Safe Spaces gelernt hast.

„Eklig weiße Mehrheitsgesellschaft“

Was also tun? Wieder zurück zum Poesie-Album, wie Nikolaus Blome meint? Ich denke, wir sollten uns vor allem wieder mehr in Ignoranz üben. Das würde uns nicht nur eine Menge Zeit und Nerven sparen. Es hätte auch etwas wunderbar Reinigendes, eine Weile mit großer Gleichgültigkeit durch die Welt zu gehen. Hiermit offiziell: Die empörten Jahre sind vorbei. Und wenn Frau Heinrich auch im Alter von 14 Jahren twitterte, es nerve sie, dass so viele „weiße Bürgis“ bei Fridays for Future rumlaufen und von einer „eklig weißen Mehrheitsgesellschaft“ schwadronierte, lehnen wir uns trotzdem entspannt im Ohrensessel zurück und schauen durch das Fenster der Kohlmeise im Vogelhaus zu und den Wolken, wie sie langsam vorüberziehen.

Ach so, pardon, das mit den „weißen Bürgis“ und der „eklig weißen Mehrheitsgesellschaft“ hat Heinrich gar nicht während der Pubertät getwittert – sondern vor zwei Jahren im Youtube-Format „Karakaya Talks“ gesagt. Die Sendung hatte den schönen Titel „Fridays for Future: zu weiß?“ und keiner der Gäste, auch Moderatorin Esra Karakaya nicht, widersprachen. Stattdessen andächtiges Nicken in der Runde, als erzählte Heinrich gerade von Schildkröten-Babys, die sich in Plastikmüll verheddern. Hoffen wir einfach, Hannah Arendt hatte recht, und die Weisheit kommt irgendwann selbst zu jenen, die sich lange erfolgreich vor ihr versteckten. Im Internet.

 

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