Antisemitismus - „Es fällt vielen Leuten schwer, das Wort Jude auszusprechen“

Noch immer werden Juden in Deutschland mit Vorurteilen konfrontiert und teilweise sogar angegriffen. Wie es sich anfühlt als Jüdin in Deutschland aufzuwachsen, erzählt Dalia Grinfeld, die Vorsitzende der Jüdischen Studierendenunion Deutschlands

Beim Tragen der Kippa oder des Davidsterns gilt: Sicherheit geht vor / picture alliance
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Autoreninfo

Chiara Thies ist freie Journalistin und Vorsitzende bei next media makers.

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Dalia Grinfeld ist 23 Jahre alt. Sie ist Vorsitzende der Jüdischen Studierendenunion Deutschlands (JSUD) und studiert Politikwissenschaften und Jüdische Studien in Heidelberg.

Frau Grinfeld, Sie sind in einen jüdischen Kindergarten, eine jüdische Grundschule und ein jüdisches Gymnasium gegangen. Vor diesen Einrichtungen halten Polizisten Wache. Wie fühlte sich das an?
Ich kannte es nicht anders. Das zeigt, wie drastisch die Situation ist. Für mich war es normal, den Polizisten einen guten Morgen zu wünschen, dass überall Kameras und Metalldetektoren sind. Vor Schulaufführenden gab es immer lange Schlangen, weil man durch die Sicherheitskontrollen musste. Mir ist erst bewusst geworden, dass ich in einer anderen Realität lebe, als mich mal ein nicht-jüdischer Kumpel in der achten Klasse zur Schule begleitet hat. Der wollte einfach mal sehen wie meine Schule so ist und hat dann gefragt: „Wow, ist eure Schule neben einem Gefängnis?“ In dem Sinne leben wir doch – ein bisschen zumindest – in einer Parallelwelt. In Deutschland ist es immer noch nicht normal, jüdisch zu sein. Wir haben immer noch ein besonderes Sicherheitsbedürfnis, was schade ist. Aber als Kind und Jugendliche hat mich das nicht bedrückt. 

Die Schule bietet eine Art Schutzraum. Aber wie haben Menschen außerhalb reagiert, wenn die Sprache auf Ihren Glauben fiel?
Ich bin damit immer sehr offen umgegangen. Natürlich war mein Freundeskreis auch stark jüdisch geprägt, weil ich eben auf einer jüdischen Schule war. In meinem engeren Umfeld waren die Reaktionen positiv, und es gab ein großes Interesse mit vielen Nachfragen. Im Bekanntenkreis oder im Arbeitsumfeld gab es aber schon so diesen neugierigen Blick. In der neunten Klasse hatte ich ein Praktikum im Bundestag gemacht. Da habe ich meinen Davidstern getragen und die Blicke zum ersten Mal besonders gefühlt. Das war gar nicht negativ gemeint. Es fällt vielen Leuten in Deutschland immer noch schwer das Wort „Jude“ auszusprechen. Dann wird rumgedruckst: „Bist du eigentlich, ja ähm, also sag mal, ähm…“ Natürlich steht da eine Geschichte hinter, darum ist ein schwerwiegendes Wort in Deutschland. Aber ich merke schon, dass auch junge Leute sich nicht trauen, das Wort auszusprechen. Manchmal werden dann keine Fragen gestellt und es findet keine Annäherung statt. Da ist oft noch eine Distanz.

Hört sich an, als ob viele die Verbrechen von Adolf Hitler im Hinterkopf haben und gleichzeitig neugierig sind, was diese Religion ausmacht?
Wahrscheinlich so etwas in die Richtung. Viele haben sich auch nicht tiefgründig mit ihrer eigenen Familiengeschichte auseinandergesetzt. Man merkt, dass das dann in solchen Momenten wieder hochkommt und lieber nicht allzu genau nachfragt wird. Aber natürlich kenne ich auch andere Beispiele und habe Freunde, die sehr viel nachgefragt haben. Es gibt beides, nur schwingt oft in diesem Denken „das Andere“ mit. Das ist nicht wie bei Christen, man feiert nicht Weihnachten sondern „das Andere“.

Sie tragen Ihren Davidstern offen. Was lösen Angriffe auf Juden, wie vergangenen Monat in Berlin, bei Ihnen aus? 
Ich weigere mich grundsätzlich, meine jüdische Identität zu verstecken. Sollte jemals die Zeit kommen, in der ich hier nicht sicher leben kann, ist Deutschland leider nicht mehr mein Zuhause. Klar geht Sicherheit trotzdem immer vor. Wenn ich abends alleine unterwegs bin und seltsame Blicke kommen wie in Berlin-Neukölln, drehe ich den Davidstern um. Das ist traurig, und mir geht es damit schlecht, weil ich einen Teil meines Selbst verstecken muss. Im Großen und Ganzen lebe ich mein jüdisches Leben aber relativ offen aus. Zu Pessach habe ich Matze, das typische, ungesäuerte Brot, mit in die Uni gebracht. Es ist wichtig, sich nicht zu verstecken, damit wieder Normalität einziehen kann. 

Sie sind Vorsitzende der Jüdischen Studierendenunion Deutschland. Wenn es um die AfD geht, verwenden sie in ihren Posts oft den Hashtag #Afnee. Kommt der von ihnen?
Ja, der kommt von uns.

Wieso?
Wir positionieren uns als junge Juden ganz klar gegen die AfD. Sie sind für uns genauso gefährlich wie für andere Randgruppen. Wir wollen aufzeigen, was die AfD macht und sagt. Zum Beispiel das Zitat von Stephan Brandner, eine typisch syrische Familie bestehe aus „Vater, Mutter und zwei Ziegen“. Natürlich sind das gewählte Abgeordnete, aber wir sind gegen manche ihrer Aussagen. Wir wollen uns von ihnen nicht instrumentalisieren lassen. Als es einen Angriff auf ein jüdisches Denkmal gab, verkündete die AfD hinterher, dass sie mit der jüdischen Gemeinde stehe. Daraus haben wir den Tweet gemacht: „Stellt euch bitte woanders hin.“ Nur weil die AfD in dem Fall für Juden war, heißt das nicht, dass sie nicht gleichzeitig versuchen, andere Minderheiten zu marginalisieren. 

Nun kann Antisemitismus nicht nur von rechts kommen, sondern auch von links. Was halten Sie von der Linken?
Natürlich beobachten wir nicht ausschließlich nur die AfD. Auch bei allen anderen Parteien haben wir im Blick, was da gesagt wird. Wir äußern uns auch bei denen, wenn es nötig wird. Bei der AfD sehen wir allerdings eine Ausnahmestellung. In ihrer Mitte leugnen Menschen den Holocaust und fordern eine 180-Grad-Wendung der Gedenkkultur. Das wird von der gesamten Partei und Fraktion toleriert. Natürlich haben wir diese Probleme auch von links, besonders wenn es um Israel geht. Da äußern wir uns ebenfalls immer, wenn laut der „International Holocaust Rembrandt Alliance“ (IHRA) die Israelkritik aufhört und israelbezogener Antisemitismus beginnt. Wir trennen da nicht nach Parteilinien, es geht uns allein um Prinzipien. 

Auch für diese Fälle gibt es jetzt einen Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung. Ist das gut oder schlecht?
Das ist super! Wir haben das zusammen mit dem Zentralrat der Juden und vielen anderen jüdischen Organisationen zusammen gefordert. Das ist eine wichtige Instanz, die überparteilich arbeiten kann. Bisher gab es hie und da mal kleinere Projekte und Aktionswochen. Jetzt können die endlich zentral koordiniert werden. Man darf sich nicht wundern, wenn das Problem des Antisemitismus bestehen bleibt, wenn es niemanden gibt, der das im Großen angeht. Noch ist das Büro nicht vollständig ausgestattet. Momentan sind sie sogar nur zu zweit. Daran fehlt es gerade noch.

Was sollte die Gesellschaft in ihrem Umgang mit Juden ändern?
Mir ist wichtig, dass wir positive jüdische Akzente setzen können und unsere Identität nicht verstecken müssen. Juden werden immer nur angesprochen zu den Themen Antisemitismus, Holocaust und Israel. Es gibt aber so viel mehr, was jüdisches Leben, Religion und Traditionen ausmacht. Ich wünsche mir, dass in den Medien, der Zivilgesellschaft und der Politik jüdisches Leben nicht nur in Brennpunkten relevant wird. Sondern dass wir die Normalität des jüdischen Lebens zeigen können. Wir sind Teil der Gesellschaft, studieren an den Universitäten und sind in Parteien aktiv. Natürlich haben wir auch unsere Besonderheiten und Wünsche. Jüdisch sein soll nicht mehr merkwürdig sein, das ist mein Traumbild.

„Wie es im wirklichen Leben aussieht, davon habt Ihr doch keine Ahnung“ – diesen Vorwurf hören Politiker immer wieder, aber auch Journalisten. Gerade wenn sie – wie wir in der Cicero-Redaktion – in der Hauptstadt Berlin leben und arbeiten, wirkt das auf viele offenbar so, als seien wir auf einem fernen Planeten unterwegs. Und sie kritisieren, dass wir zwar gern über Menschen sprechen und schreiben, aber kaum mit ihnen reden. Der Vorwurf trifft uns hart, und wir nehmen ihn sehr ernst. Deswegen starten wir auf Cicero Online eine Serie, in der wir genau das tun: Mit Menschen sprechen, die nicht in der Öffentlichkeit stehen, aber mitten im Leben, und dort täglich mit den Folgen dessen zurechtkommen müssen, was in der fernen Politik entschieden wird. Den Auftakt haben wir mit einem Gespräch mit einem Mann gemacht, der illegal in Deutschland lebt. Es folgte eine Unterhaltung mit einer Rentnerin.

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