100. Geburtstag von Joseph Beuys - Wer hat Angst vor Filz und Fett?

Heute wäre Joseph Beuys 100 Jahre alt geworden. Bis heute ist er einer der aufregendsten deutschen Künstler. Von Jahrhundertgenie bis Scharlatan reichen die Urteile. Warum ist das so? Und wer hat recht?

Beuys in seiner Heimat am Niederrhein, mit seinem eigenen Kinderbett und natürlich mit Hase - für Beuys ein „Außenorgan des Menschen“ / Caroline Tisdall
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Autoreninfo

Philip Ursprung ist Professor für Kunst- und Architekturgeschichte an der ETH Zürich. Im März erschien sein Buch „Joseph Beuys: Kunst Kapital Revolution“ im Verlag C. H. Beck.

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Längere Zeit war es still geworden um den Mann mit Hut. Jetzt, wo Joseph Beuys, der 1986 64-jährig starb, 100 geworden wäre, wiederholt sich ein Ritual, das sich schon zu seinen Lebzeiten herausgebildet hatte: Die Kunstwelt teilt sich in zwei Lager. Jubel für den „Jahrhundertkünstler“ auf der einen, Häme für den „Scharlatan“ auf der anderen Seite. 

In den Museen und Hochschulen herrscht im Rahmen von „beuys 2021“ ein Jahr lang staatlich geförderte Beuys-Begeisterung. Die Feuilletons reagieren mit Beuys-Bashing, noch bevor die Ausstellungen eröffnet sind. Der Spiegel fragt, ob Beuys der erste „Querdenker“ war, die Zeit suggeriert, dass er heute ein Aluhut-Träger wäre, und für die FAZ ist die Aktion „I like America and America likes me“ (1974) „essentialistischer Kitsch“. Die Meinungen stehen seit langem fest: Für die einen ist Beuys die Lösung, für die anderen die Verkörperung aller Probleme.

Jenseits des deutschen Sprachraums reibt man sich die Augen über die Debatte und fragt sich, wo das Problem liegt. In der Tat sind Personalisierung und Polarisierung eines Künstlers ein Spezifikum des deutschen Sprachraums, wo das Erbe des Geniekults bis heute schwer auf dem Diskurs lastet. Im Unterschied zum Starkult, der in der englischsprachigen Unterhaltungsindustrie wurzelt, ist der Geniekult religiös, rassistisch und sexistisch getränkt – Genies waren immer weiße Männer. Stars haben Fans, Genies haben Jünger. Entweder man gehört dazu oder nicht. Entsprechend verkrampft ist seit jeher die Diskussion um Beuys.

Jenseits des Geniekults

Es ist Zeit, die Diskussion zu entspannen und produktiv zu machen. Als Erstes muss der Geniekult dahin zurückgeschickt werden, wo er herkommt – ins ausgehende 19. Jahrhundert. Genies sind eine Fiktion, eine Erfindung der bürgerlichen Mittelklasse während der Formierung des Nationalstaats im Einigungsprozess des Deutschen Reiches. Das Bürgertum war zwar die treibende Kraft der Modernisierung und Industrialisierung, aber ökonomisch und politisch unterrepräsentiert. Trost für die politische Frustration fand es in Kultur und Bildung, dank der es sich sowohl von der Aristokratie wie auch dem Proletariat abgrenzen konnte. Als Kompensation für die fehlende politische Macht schließlich erfand es den kulturellen Heroen – das Genie.

Beuys war kein Genie, auch wenn seine Anhänger dies glaubten und er selbst sich in der Rolle gefiel. Es gibt keine Genies. Beuys war ein herausragender Künstler, geprägt von seiner Zeit, also der Weimarer Republik, der Diktatur der Nationalsozialisten, der Bundesrepublik Deutschland, der europäischen Integration und dem Kalten Krieg. Er war durchlässig für aktuelle Trends. Er absorbierte künstlerische Strömungen – wie Fluxus, wo die Kunst in den Alltag gezogen wurde – und gesellschaftliche Dynamiken – etwa die Studentenrevolten von 1968 – wie ein Schwamm und transformierte sie. Er experimentierte, hatte Erfolge und Misserfolge, schuf nie da gewesene Werke und manchmal auch misslungene, verstieg sich gelegentlich in Ideen, war zu Zeiten radikal, dann wieder opportunistisch. Dies sollten seine Bewunderer, die ihn für unfehlbar halten, allmählich ebenso akzeptieren wie seine Gegner, die ihn vom Sockel stürzen möchten, indem sie ihm Widersprüche und eine falsche politische Gesinnung vorwerfen.

Wie kommt es zu den Kontroversen?

Zu den künstlerischen Anliegen von Beuys ab den frühen sechziger Jahren gehörte es, Grenzen infrage zu stellen – und zu übertreten. Die Aktion „Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt“ (1965) beispielsweise – als er genau dies stundenlang in einer Galerie tat, seinen Kopf dabei mit Blattgold, Goldstaub und Honig bedeckt – kreist um die Grenzen zwischen dem Menschlichen und dem Nichtmenschlichen, zwischen dem Belebten und dem Unbelebten. In „Wirtschaftswerte“ (1980), einer Ansammlung von DDR-Konsumgütern, geht es um die Grenzen zwischen Kapitalismus und Sozialismus, Konsumption und Produktion, Geld und Wert, Verpackung und Inhalt. Im jahrelangen Pflanzprojekt in Kassel „7000 Eichen: Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“ (1982) schließlich geht es um die Grenzen zwischen Behörden und Bürgern, Ausstellungspublikum und Laien, Naturwissenschaft und Esoterik. 

Die stärkste Wirkung erreichte Beuys dann, wenn er die Grenze zwischen Kunst und Politik überschritt. Seine Kunst im Unterschied zur Mehrheit seiner künstlerischen Zeitgenossen handelt nicht von Politik, sondern besteht darin, sich aktiv in Politik einzumischen. Die von Beuys mitbegründete Organisation für direkte Demokratie durch Volksabstimmung Anfang der siebziger Jahre blieb auf der Ebene der Politik folgenlos. Aber sie veränderte die Welt der Kunst grundlegend, nachdem er das Büro der Miniorganisation während der Documenta 5 1972 nach Kassel verlegte. Er war 100 Tage lang persönlich anwesend und diskutierte mit Besucherinnen und Besuchern. Niemand konnte dieses Werk besitzen, es war nicht einmal besonders fotogen – und dennoch bildet es den Grundstein dessen, was heute als Social Art und Partizipationskunst gilt.

Keine Scheu vor der Politik

Während die Angehörigen der Kunstwelt stillschweigend davon ausgehen, dass die Kunst auf der richtigen Seite steht und das Problem bei der Politik liegt, wollte Beuys sowohl die Politik wie auch die Kunst verändern. Statt aus sicherer Distanz mit dem Finger auf Probleme zu zeigen, legte er selbst Hand an und scheute sich nicht, sich diese im politischen Tagesgeschäft schmutzig zu machen. 

Im Rückblick stehen einem die Haare zu Berge, wenn man bedenkt, dass Beuys Mitte der siebziger Jahre ausgerechnet mit der Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher, einer Art Proto-AfD, kandidierte. Zugleich war die Kandidatur Teil seiner Suche nach einer alternativen Partei, aus der heraus seine Rolle als Mitbegründer der Grünen erwuchs. Für diese führte er Ende der siebziger Jahre dann Wahlkampf und kandidierte, allerdings ohne Erfolg, für den Europarat und den Bundestag.

Ihre Papiere bitte!

Wer Grenzen übertritt, muss mit Grenzwächtern rechnen. Beuys hat es bewusst darauf angelegt zu provozieren, gemäß seinem Motto „Provokation bedeutet im Kern nichts anderes als Produktion“. Zu Lebzeiten und auch nach seinem Tod, bis heute, heißt es immer mal wieder: „Ihre Papiere bitte!“ 1964 musste er beim Ministerium erscheinen, nachdem er als Professor der Düsseldorfer Kunstakademie und damit als Vertreter des Staates vorgeschlagen hatte, die Berliner Mauer aus Proportionsgründen um fünf Zentimeter zu erhöhen. Hinter der Fluxus-Ironie steckte ein Gedanke, der die Zeitgenossen damals wie heute schockierte: Man solle die deutsche Teilung nicht, wie in der Bunderepublik Deutschland üblich, als provisorisch ansehen, sondern als irreversibles Resultat des von den Deutschen begonnenen Zweiten Weltkriegs. Wer die Mauer für etwas Vorübergehendes hielt, so Beuys, hoffte, dass sich das Rad der Geschichte zurückdrehen ließe. 

Kein Wunder, dass sein Arbeitgeber danach mit Argwohn verfolgte, was er in der Kunstakademie tat. Seine Behauptung, „Lehrer zu sein, ist mein größtes Kunstwerk“, nahm man ihm noch ab. Er reformierte die Lehre, ersetzte die Vorlesungen durch Ringgespräche, zog die größten Talente im Land als Studierende an und setzte sich für die Internationalisierung des Lehrkörpers ein. 

Akademischer Grenzgänger

Dass er die Trennung zwischen Kunsterziehung und Kunst aufhob, irritierte hingegen die Grenzwächter unter seinen Professorenkollegen. Beuys untergrub ihre Vorstellung der Hochschule als Hort der Elite und öffnete sie für die Massen. Und als er schließlich Ende der sechziger Jahre verkündete, die Aufnahmeprüfung durch ein Probesemester zu ersetzen und allen, die es wünschten, die Gelegenheit zu geben, sich zu bewähren, platzte seine Klasse aus allen Nähten und dem Minister der Kragen. Unter Missachtung der Gesetze (Beuys gewann den anschließenden Prozess und wurde rehabilitiert) entließ ihn der Minister 1972 fristlos. Das Problem, das Beuys sichtbar machen und beheben wollte, nämlich die Spannung zwischen der demokratischen Massenuniversität und der exklusiven Institution, die nur wenigen offensteht, ist bis heute nicht gelöst.

Die bis heute stärkste Provokation von Beuys ist sein Grenzübertritt zwischen Gegenwart und Geschichte. Anlässlich der Retrospektive im Solomon R. Guggenheim Museum in New York 1979 setzte er die bereits früher angedeutete Erinnerung seines Flugzeugabschusses auf der Krim in Umlauf. Die Geschichte des abgeschossenen Kampfpiloten Beuys, der zwischen den Fronten von Nomaden geborgen und mittels Fett und Filz geheilt wird, hatte enorme Wirkung. Einerseits bot sie eine Erklärung für Beuys’ Anspruch der Versöhnung und Heilung. Andererseits bot sie den Schlüssel zur Bedeutung der mysteriösen Materialien Filz und Fett. Die eigene Biografie, das eigene Trauma, die eigene Rettung fügten sich zu einem Bild. 

Mischung aus Fiktion und Fakten

Bereits damals erschien die Geschichte manchen Kritikern suspekt. Die Legendenbildung durch den Künstler wurde als Indiz aufgefasst, dass seine Kunst die Funktion habe, die Deutschen von der Schuld der Vergangenheit reinzuwaschen beziehungsweise den Krieg ästhetisch zu verklären. Seit bekannt ist, dass Beuys gar nie Pilot war, sondern Funker, dass das Kampfflugzeug nicht abgeschossen wurde, sondern abstürzte, dass er nicht tagelang im Nomadenzelt lag und zwischen Leben und Tod schwankte, sondern mit einer Gehirnerschütterung in einem deutschen Lazarett, suggeriert die „Fälschung“ des Lebenslaufs, dass Beuys die Geschichte fälschen wollte. 

„Ihre Papiere sind nicht in Ordnung!“ Natürlich nicht, könnte man einwenden, sie können es gar nicht sein, dürfen es gar nicht sein angesichts des historischen Abgrunds, vom dem sie zeugen. Wer wie Beuys in „Joseph Beuys: Lebenslauf / Werk-lauf“ (1964) bereits die eigene Geburt als „Ausstellung“ deklariert, mischt ganz bewusst Fakten und Fiktion und zeugt von der Verstrickung von Biografie und Geschichte. Wie der Vorschlag zur Erhöhung der Berliner Mauer wirkte die Legende vom Absturz auch deshalb so stark, weil sie ungelöste Probleme anspricht, die über Beuys’ eigene Biografie hinausweisen. 

Einerseits die in Westdeutschland lange Zeit verhinderte und bis heute nicht ganz gelöste Aufarbeitung der Geschichte (und die vielen geschönten Lebensläufe). Andererseits die in der zeitgenössischen Kunst verdrängte Tatsache einer historischen Kontinuität. Mittels jener Legende unterstrich Beuys, für den so etwas wie ein weißes Blatt Papier oder eine abstrakte Kunst sinnlos war, deutlich, dass die Gegenwartskunst kein Neubeginn nach dem Krieg, sondern Teil einer schmerzhaften Kontinuität war. 

Wie steht es um die politische Haltung?

Beuys berief sich zwar auf die Französische Revolution, aber er lag im Clinch mit den Linken – schließlich hatte ihn der SPD-Minister entlassen. Er koalierte wie erwähnt vorübergehend mit der Aktionsgemeinschaft Unabhängiger Deutscher und nahm die kruden, teilweise völkischen Ansichten von Exponenten der Splitterpartei in Kauf. Es gibt in seinen Texten und Werken viele Indizien einer wertkonservativen Haltung, aber keine Hinweise, dass er antisemitisch, rassistisch oder nationalistisch war. Er bewunderte Goethe, Novalis, Schiller und die deutsche Sprache, aber es gibt in seinem Werk kein Zeichen dafür, dass er Macht oder Gewalt verherrlicht hätte. Es ist unvorstellbar, dass Beuys als Vorbild für eine rechte politische Partei oder eine populistische Bewegung fungieren könnte. 

Und wie steht es mit seiner Affinität zu Rudolf Steiner? Obwohl er der anthroposophischen Gesellschaft nie beitrat, berief Beuys sich ab den siebziger Jahren auf Steiners Lehren. Er interessierte sich für die „Dreigliederung des sozialen Organismus“, also die Vorstellung, dass es einen Bereich des Geisteslebens, des Rechtslebens und des Wirtschaftslebens gebe, die sich voneinander unterscheiden. Er berief sich auf Steiner bei seiner Kritik am herrschenden Geldwesen, das er durch die Vorstellung des Geldes als „Rechtsdokument“ ersetzen wollte – indem Geld beispielsweise nicht zu Spekulationszwecken dem Wirtschaftskreislauf entzogen werden sollte. Er griff auf die von Steiner verwendeten Tafeln und Diagramme zur Veranschaulichung von Gedanken zurück. Und er bezog sich auf Steiners Idee von den Beziehungen zwischen Pflanzen und menschlichen Körpern. 

Dennoch lässt sich Beuys’ Werk nicht auf die Ideenwelt Steiners reduzieren. Es öffnet die Grenzen der Kunst zur Esoterik, aber es gründet nicht darauf. Beuys’ Kunst als bloße Illustration eines bestehenden Weltbilds zu interpretieren, greift ebenso zu kurz wie die Vorstellung, dass die mittelalterliche Kunst sich in der Darstellung der Bibel erschöpfe.

Plädoyer für einen Neustart

Die Diskussion zu entspannen und neu zu aktivieren, heißt nicht, Beuys von den Interpretinnen und Interpreten zu befreien. Die Grenzwächter beider Lager, also der Adepten wie der Kritiker, sind untrennbar Teile des Werkes. Es ist nicht produktiv, zwischen dem Werk und der Wirkung, zwischen Biografie und Karriere, ja zwischen Fakten und Fiktion radikal zu unterscheiden. Denn Beuys reagierte ja konstant auf Zustimmung und Ablehnung und setzte ganz bewusst Kontroversen in Gang.

Interessant ist, dass sich die Debatte in erster Linie um die vermutete politische Haltung und um die ideologische Ausrichtung von Beuys dreht. Sowohl von Anhängern wie von Kritikern ist zu hören, dass die Werke weniger belangvoll seien als die Ideen dahinter. Diese Fixierung, die Beuys selbst beförderte, indem er die Kunstobjekte gelegentlich als „Vehikel“, „Zwischenträger“ oder gar „Abfall“ bezeichnete, steht der Erneuerung der Diskussion wohl am meisten im Weg. Beuys war kein systematischer Denker, es gibt von ihm kein Buch, keine Theorie. Wenn wir heute bloß seine Vorträge und Interviews hätten, wäre das Werk längst ad acta gelegt. Und wenn es zuträfe, dass die Kunstwerke Relikte sind, die ohne Präsenz des Autors nicht wirken, hätte es seit 1986 wohl kaum noch eine Ausstellung gegeben.

Immer noch nicht ausdiskutiert

Wenn die Diskussion wieder in Gang kommen soll, dann über die Kunstwerke, ihre Materialität, Anordnung und Form – und über das, was Anhänger und Skeptiker dazu sagten. Niemand würde von Picasso als dem „Pinsel- und Leinwandkünstler“ sprechen, niemand von Gerhard Richter als dem „Rakel- und Farbenkünstler“. Dass Beuys der „Filz- und Fettkünstler“ ist, deutet auf einen ungelösten Rest hin, also darauf, dass der objekthafte, materielle Aspekt des Werkes noch immer nicht adäquat diskutiert ist, dass auch die vielfache Wiedererzählung der Absturzlegende den Fall noch nicht gelöst hat.

So wie Fett überall Spuren hinterlässt und nie ganz fest wird, und so wie Filz sich nie ganz ergründen und fassen lässt, so bleiben die Kunstwerke von Beuys im Gedächtnis haften. In ihnen sind Aktion und Material, Prozess und Produkt, Geschichte und Gegenwart verwoben. Sie lassen sich nicht kontrollieren, nicht in die Schranken verweisen, sie stellen Grenzen infrage. Beuys’ Kunst nutzt die künstlerische Freiheit bis zum Äußersten. 

Im verbreiteten Ekel vor Filz und Fett schwingt eine tief liegende Angst mit, dass diese Freiheit der Kunst Schule machen könnte. Die Werke fungieren wie ein Spiegel. Es geht nicht um die Frage, was Beuys heute getan hätte. Sondern darum, ob wir, wenn wir auf das Werk blicken, den Eindruck haben, das Richtige zu tun.

 

Dieser Text stammt aus der Mai-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.
 

 

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