Stadtgespräche im September - Konsumrausch, rote Umweltsünder und ein Museumsneubau

In einem nicht ganz klimaneutralen Dienstwagen steuert der Berliner Bürgermeister Michael Müller ins Abseits. Franziska Giffey könnte den glücklosen SPD-Mann als Spitzenkandidaten bei der nächsten Wahl beerben. Und kostenlose Geldautomaten werden knapp in der Hauptstadt

Erschienen in Ausgabe
Unsere Berliner Stadtgespräche im September / Jan Rieckhoff
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Saufen und Kaufen

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es in Berlin rund 130 Brauereien; der Gerstensaft aus der Hauptstadt wurde nach ganz Europa exportiert. Heute kommen Touristen aus ganz Europa nach Berlin zum Saufen, aber auch zum Shoppen. So eröffnete dort im August bereits das 68. Einkaufszentrum – wie sollte es anders sein, in einer ehemaligen Brauerei im Stadtteil Moabit. Dass Einkaufsstraßen veröden, der alteingesessene Einzelhandel verdrängt wird, beklagen Berlins Politiker nur in ihren Sonntagsreden, ansonsten genehmigen sie alles, was ihnen auf den Tisch kommt. Auch die Tatsache, dass der Boom in anderen deutschen Großstädten bereits vorbei ist, stört in der Hauptstadt der Einkaufszentren niemanden. Mindestens vier weitere Einkaufszentren sind in Bau. Christoph Seils

Granatensicher

Berlins natürliche Ressourcen zu schützen und die grüne Infrastruktur zu stärken, sind Kernanliegen der Koalition“, heißt es im Koalitionsvertrag der rot-rot-grünen Landesregierung. Und weiter: „Im Fokus steht die Reduktion des Stickoxidausstoßes durch Kfz.“ Da könnte man doch mit gutem Beispiel vorausfahren, hatte sich Berlins Regierender SPD-Bürgermeister wohl gedacht. Laut einem Vergleich der Deutschen Umwelthilfe ist Michael Müllers Dienstwagen (Mercedes-Benz S-Guard 600, 530 PS) mit einem Spritverbrauch von 18 Litern auf 100 Kilometer das mit Abstand klimaschädlichste Dienstfahrzeug unter den deutschen Ministerpräsidenten. Immerhin hält Müllers Karre sogar die gleichzeitige Sprengung zweier Handgranaten aus. In Berlin muss man ja bekanntlich mit allem rechnen. Alexander Marguier

Bares wird Rares

Wer eigentlich benötigt heutzutage dank Paypal, Onlinebanking und Kartenzahlung noch Bargeld? Wohl nur Omas und Bankräuber, möchte meinen, wer die schwindende Geldautomatendichte auf Berlins Stadtkarte besieht. So ist etwa bei der Cashgroup, zu der Commerzbank, Deutsche Bank, Hypovereinsbank und Postbank gehören, mitten in der Hauptstadt von Moabit bis zum Prenzlauer Berg ein Versorgungsloch von zwölf Quadratkilometern entstanden. Hier gibt es keine Geldautomaten mehr. Abhilfe schaffen inzwischen Supermärkte, vorausgesetzt man kauft für 20 Euro ein. Auch fluten die Anbieter kostenpflichtiger Automaten, vornehmlich an Spätis, die Stadt und neppen Touristen wie Bewohner mit hohen Gebühren. Bankräuber sterben aus, und Räuberbanken gewinnen. Bastian Brauns

Kunstparkplatz

Berlin baut! Worte, die in den Ohren von Pfälzern oder Sachsen längst wie eine Drohung klingen, lösen unter Berlinern routiniertes Schulterzucken aus. Zumindest war kein Protest zu vernehmen, als Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) Mitte August bekannt gab, dass sich das in der Nähe eines Parkplatzes am Kulturforum geplante Museum der Moderne, das 2021 eröffnet werden sollte, verspäten wird. Der erste Spatenstich ist nun für 2019 terminiert. Dafür werde das Haus, das für 200 Millionen Euro zwischen Neuer Nationalgalerie und Philharmonie entstehen soll, am Ende kleiner und teurer werden. Später, kostspieliger – noch später. Klingt vertraut nach Berliner Baustelle. Man hört’s und geht gelassen weiter. Unmut äußert der Hauptstadtbewohner allenfalls über seine berüchtigte Schnauze: Von „Scheune“ bis zu „Aldi-Discounter“ reichen die Koseworte für den Entwurf der Architekten Herzog & de Meuron. An einer Petition indes, die dem Treiben bereits 2017 ein Ende bereiten wollte, beteiligten sich gerade einmal 1217 Bürger. In dieser Stadt sind selbst Steine geduldig. Gerade hat man ja auch eine Lösung für den vermeintlichen Flughafen BER gefunden: Bis auf Weiteres will die Volkswagen AG dort 8000 nicht zugelassene Pkws parken. Das wäre vielleicht auch was für die Kulturbrache am Tiergarten. Der Parkplatz wäre jedenfalls schon da. Ralf Hanselle

Spahnende Frage

Das Ritual ist geübt und erprobt: Wie alle Male vorher wird die Bundeskanzlerin in Absprache mit dem CSU-Vorsitzenden vorschlagen, dass ihr treuer Vorarbeiter Volker Kauder Ende September wieder zum Unionsfraktionsvorsitzenden gewählt wird. Es könnte aber sein, dass dieses „Dinner-For-One“-Ritual zum ersten Mal in Angela Merkels Amtszeit durchkreuzt wird. Die Wut unter den Abgeordneten ist nämlich seit den denkwürdigen Sitzungen im Showdown zwischen Seehofer und Merkel um die Asylpolitik nicht verflogen. Und bei dieser Wahl könnte sie sich Bahn brechen. Jens Spahn, Antipode Merkels in der Flüchtlingspolitik, möge doch bitte als Gegenkandidat antreten, wünschen sich namhafte CDU-Politiker und versuchen, ihn dazu zu bewegen. Als Fraktionschef hätte Spahn ungleich mehr Beinfreiheit denn als Gesundheitsminister – und er könnte sich in der Nachfolgefrage profilieren auf dieser Machtposition. Bei einem Parteitag hatte Spahn der Kanzlerin bereits einmal erfolgreich die Stirn geboten: 2016 erhielt sein Antrag gegen die doppelte Staatsbürgerschaft eine Mehrheit bei den Delegierten – gegen Merkels Willen. Diese erklärte den Beschluss hinterher als nicht bindend für ihre Regierungspolitik. Aber eine erfolgreiche Kampfkandidatur um den Fraktionsvorsitz hätte noch einmal eine ganz andere Dimension als ein Parteitagsbeschluss gegen die Vorsitzende. Christoph Schwennicke

Schnee in der Wüste

Dass ein Regierungschef während seiner Amtszeit von den eigenen Leuten demontiert wird, ist in der Politik nicht neu. Die Art und Weise aber, wie Berlins glücklos Regierendem Bürgermeister mehr oder weniger auf offener Bühne das Vertrauen entzogen wird, ist dann doch bemerkenswert. Neuköllns einstiger SPD-Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky hatte unlängst auf die Frage der Welt am Sonntag, ob Müller angesichts desaströser Zustimmungswerte noch einmal SPD-Spitzenkandidat werden könne, in seiner gewohnt unverstellten Art so geantwortet: „Eher fällt Schnee in der Wüste.“ Deswegen wird jetzt allerorten darüber spekuliert, wen die Sozialdemokraten in drei Jahren gegen Monika Grütters von der CDU ins Rennen schicken könnten. Da sich Michael Müllers ewiger Rivale Raed Saleh, seines Zeichens SPD-Fraktionschef im Berliner Abgeordnetenhaus, durch diverse Intrigen und allzu durchschaubare Machtspielchen selbst aus dem Rennen genommen hat, setzen viele SPDler in der Hauptstadt jetzt ihre Hoffnung in Franziska Giffey. Die 40-Jährige war vor ihrem überraschenden Wechsel an die Spitze des Bundesfamilienministeriums übrigens Buschkowskys Nachfolgerin im Neuköllner Rathaus gewesen. Dort hatte sie sich als Pragmatikerin bewährt – eine Tugend, die etlichen Berliner Genossen aus dem linken Lager allerdings suspekt erscheinen dürfte. Alexander Marguier

Illustrationen: Jan Rieckhoff

Dieser Text stammt aus der September-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Onlineshop erhalten.

 

 

 

 

 

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