Nachruf auf James Levine - Kunst und Schuld

James Levine ist tot. Einer der größten Dirigenten des 20. Jahrhunderts kann nach den Missbrauchs-Enthüllungen am Ende seiner Karriere kaum unbefangen gewürdigt werden. Dennoch ein Versuch.

James Levine wirkte bis 2016 als Dirigent an der Metropolitan Opera in New York. / dpa
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Jens Nordalm leitete bis August 2020 die Ressorts Salon und Literaturen bei Cicero.

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Sie gehören zu den berührendsten, emotionalsten Stunden meines bisherigen Konzerterlebens: Die Stunden Ende Oktober 2017 in der Berliner Philharmonie, in denen James Levine mit der Staatskapelle Mahlers 3. Sinfonie wie neu gebar. Stunden, in denen er jeden Takt nahm, als wenn er ihn selbst zum ersten Mal hörte. Sich jeder Geste der Musik mit einem dermaßen intensiven Interesse hingab, dass man als Hörer fast zwei Stunden wie durch ihn hindurch in keinem Moment den Kontakt zu diesem sich plastisch entfaltenden Riesenwerk verlor. Levine war das energetische Zentrum dieser Mahler-Messe mit Chor – wie ich mich nicht erinnere, es sonst einmal derart deutlich bei einem Dirigenten empfunden zu haben.

Sexuelle Dienste

Er war dieses energetische Zentrum an jenem Abend aus seinem Elektro-Rollstuhl heraus. Den brauchte James Levine, Jahrgang 1943, damals aus Altersgründen schon nicht mehr Musikdirektor der New Yorker Metropolitan Opera, wegen seiner Parkinson-Erkrankung. Und so nahm er in der Philharmonie auch eine Erholungspause zwischen zwei Sätzen, während das Publikum sitzen blieb. Es war ergreifend. Der gebrechliche Mann, dessen Körper so sichtbar nicht in Betracht kam, schuf in der vollbesetzten Philharmonie einen gemeinschaftlichen Rausch, den niemand vergessen wird, der dabei war.

Zwei Monate später war seine Karriere zu Ende und sein Ruf ruiniert. Seinem 75. Geburtstag im Juni 2018 begegnete die Welt mit Schweigen. James Levine hatte über Jahrzehnte junge Männer missbraucht – und einige von diesen machten das im Dezember in einem Zeitungsartikel öffentlich. Sexuelle Dienste gegen Karriereförderung. Es ging auch um den Missbrauch Minderjähriger, die Taten waren aber verjährt.

Levine der Unantastbare

Und all das war noch mehr als eine persönliche Verfehlung und Katastrophe. Es wurde deutlich – und gehört auch durch seinen Fall heute zum Allgemeinwissen –, dass sein Treiben so lange möglich war und blieb, weil die männlichen Stars, die Dirigenten und Sänger, sich als die Unantastbaren gerieren konnten. Und auch in diesem Fall, wie in so vielen anderen, hatten längst Manche Vieles gewusst und umgekehrt.

James Levine gehörte zu diesen Unantastbaren. Seit den frühen 70er Jahren unter den Großen, hatte er vor genau 50 Jahren an der New Yorker Met debütiert, zwei Jahre später, mit 29 Jahren, wurde er dort Chefdirigent, 1976 Musikdirektor auf Lebenszeit. Er war ständiger Gast bei den Berliner und den Wiener Philharmonikern, auch in Bayreuth und in Salzburg bei den Festspielen. 1999 wurde er Chefdirigent der Münchner Philharmoniker, 2004 wechselte er zum Boston Symphony Orchestra. Alles parallel zu seiner Aufgabe in New York.

„Dennoch“

Wenn man, wieder persönlich, überlegt, warum man unter den mehreren Versionen gerade von Werken des 20. Jahrhunderts im CD-Regal immer wieder zu den Levine-Versionen griff, dann lag das an einem modernen, durchsichtigen, rhythmusstarken Tonfall, der gleichwohl ohne wilde Übertreibungen auskam und süffig blieb. Carl Orffs Carmina Burana mit dem Chicago Symphony Orchestra sind für diesen gemäßigten und doch lustvollen Modernismus Levines ein schönes Beispiel, um nur eines zu nennen.

Aber da haben wir uns schon wieder in die Musik verirrt und es meldet sich das „Dennoch“. Warum bekommt man diese beiden Seiten des James Levine so viel schwerer im Gefühl zusammen als in anderen Fällen, etwa bei Placido Domingo? Wahrscheinlich, weil das Bild des lächelnden Sonnyboys zum Unwesen seiner Übergriffigkeit ganz gut passt.

Ratlosigkeit und Lähmung

Während das Bild James Levines in seinen letzten Jahren unseren Respekt vor dem Alter erzwingt, unser Verneigen vor beglückendsten Leistungen, die der Krankheit abgerungen waren – und wir zugleich ebenso gezwungen sind zu Abscheu und Distanzierung. Kaum zu schaffen, beides zu fühlen.
Man wünschte sich, man könnte das Fleisch, das da so schrecklich schwach war, vom Geist so leicht trennen wie man an jenem Abend in der Philharmonie den gebrechlichen Körper im Rollstuhl von der ungeheuren schaffenden Energie dieses Mannes trennen konnte.

Wie erst jetzt bekannt wurde, ist James Levine, einer der größten Dirigenten des 20. Jahrhunderts, bereits am 9. März in Palm Springs gestorben. Noch diese Verzögerung des Bekanntwerdens zeigt wohl die unheilbare Trübung, die seine Taten für seine Musik bedeuten, und die Ratlosigkeit und Lähmung, mit denen wir all dem menschlich gegenüberstehen.

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