Islam in Deutschland - „Angst kenne ich gut“

Agnostiker trifft auf Moslem, Islamkritiker auf Islamwissenschaftler: Thilo Sarrazin und Abdel-Hakim Ourghi streiten über den Glauben, die Gewalt und das künftige Deutschland

Erschienen in Ausgabe
/ Antje Berghäuser
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Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Herr Sarrazin, Sie sind promovierter Volkswirt, ehemaliger Politiker und Agnostiker ohne Kirchenmitgliedschaft. Warum interessieren Sie sich so sehr für den Koran?
Thilo Sarrazin: Als gelernter Christ kenne ich religiöse Texte. Mit dem Koran bin ich umgegangen wie früher mit der Bibel. Etwa einen Monat lang habe ich ihn voraussetzungslos gelesen. Er stellte sich als chaotisch und stellenweise kaum verständlich heraus. Das Bild, das ich gewann, als ich die Aussagen nach Themen ordnete, war jedoch erstaunlich klar.

Die Frage nach dem Warum Ihrer Lektüre ist damit nicht beantwortet.
Sarrazin: Mein Eindruck war, dass die Muslime sich in einer bestimmten Art und Weise systematisch unterscheiden von anderen Kulturen, Völkern, Staaten, Individuen. Dem Grund für diese Besonderheit wollte ich auf die Spur kommen – aus erster Hand. Also musste ich den Koran lesen.

Herr Ourghi, Sie sind deutscher Staatsbürger algerischer Herkunft und sunnitischer liberaler Moslem.
Abdel-Hakim Ourghi: Das stimmt.

Im Islam gilt das fünfmalige tägliche Gebet in der von Mohammed vorgegebenen Form als wichtige Pflicht. Das Früh-, das Mittags-, das Nachmittags-, das Dämmerungs- und das Nachtgebet sind vorgeschrieben. Halten Sie sich daran?
Ourghi: Ich bin Moslem, ich bete und faste. Alles Weitere ist Privatsache.
Sarrazin: Ich kenne Ihre Interpretation des Islam, Herr Ourghi, wie Sie sie etwa in den „40 Thesen“ zur Reform des Islam ausdrücken. Das akzeptiere ich, aber es gibt viele andere Interpretationen.

Herr Sarrazin nimmt in Anspruch, den Koran „sorgfältig, ohne innere Vorbehalte und ohne vorgefasste Meinung“ gelesen zu haben.
Ourghi: Jeder darf den Koran in seiner eigenen Sprache lesen.

Es wurde der Vorwurf erhoben, ohne arabische Sprachkenntnisse könne man sich nicht kompetent zum Koran äußern.
Ourghi: Das sehe ich nicht so. Die Herangehensweise ist entscheidend. Herr Sarrazin hat mit der Übersetzung Rudi Parets gearbeitet, wie ich es auch tue. Allerdings hat er Paret wiedergegeben ohne dessen Fragezeichen. Die interpretatorische Unsicherheit, die Skrupel von Paret finde ich in „Feindliche Übernahme“ nicht.

Sarrazin: Über die Fragezeichen hinaus ergab sich für mich eine gewisse Klarheit, als ich die Verse nach ihren thematischen Schwerpunkten angeordnet hatte. Eine Schar von Versen, die zu ähnlichen Aussagen gelangen, bewahrt vor zufälligen Urteilen. Die Subjektivität meiner Interpretation habe ich nie infrage gestellt.

Abdel-Hakim Ourghi: Der an der Pädagogischen Hochschule Freiburg/Breisgau lehrende Islamwissenschaftler veröffentlichte soeben das Buch „Ihr müsst kein Kopftuch tragen. Aufklären statt Verschleiern“. Zuvor erschien, ebenfalls im Claudius-Verlag, „Reform des Islam. 40 Thesen“

Sie gelangen aber zu absoluten Urteilen, wenn Sie etwa schreiben, der Islam sei eine Gewaltideologie.
Sarrazin: Mir kommt der Islam vor wie eine Gewaltideologie im Gewand einer Religion – eine Formulierung aus einem Leserbrief an die FAZ. Der Islam schillert zwischen Ideologie und Religion. Insofern erinnert er mich an den Marxismus. Auch da galten heilige Texte als sakrosankt.

Ourghi: Der Koran ist ein religiöser Text mit literarischen Aspekten. Sie, Herr Sarrazin, interpretieren ihn wörtlich. Salafisten machen es genauso. Sie reißen den Koran aus seinem sprachlichen und historischen Kontext. Sie beziehen sich fast nur auf die medinensische Zeit Mohammeds von 622 bis 632, als er nicht nur Verkünder war, sondern auch Staatsmann. Sie vernachlässigen die Offenbarungsanlässe der Textstellen. Für uns liberale Muslime ist eine historisch-kritische Herangehensweise unverzichtbar.

Sarrazin: Natürlich ist es sinnvoll, den Koran ebenso wie die Bibel historisch-kritisch zu lesen. Die Mehrheit der islamischen Religionsgelehrten aber lehnt eine historisch-kritische Interpretation ab und hält den Koran für die wörtliche Offenbarung Gottes durch den Mund Mohammeds. Auf eine nähere Unterscheidung zwischen den Suren aus Medina und Mekka habe ich verzichtet, weil die meisten Muslime den Koran als Einheit betrachten. Sie, Herr Ourghi, haben in einem Aufsatz an einen 1985 hingerichteten Gelehrten aus dem Sudan erinnert, der deswegen getötet wurde: weil er zwischen den Versen aus Mekka und Medina unterschieden und Letztere in ihrer Bedeutung relativiert hatte. Ihre Meinung, Herr Ourghi, ist unter Muslimen nicht mehrheitsfähig.

Ourghi: Heute unterscheiden wir liberalen Muslime zwischen dem ethischen Koran, den wir auch in der Zeit von Mekka und Medina finden, und dem politisch-juristischen Koran, den es ausschließlich in Medina gab. Dieser Koran muss situativ bedingt verstanden werden. Eine solche historische Sichtweise verbreitet sich mehr und mehr in muslimischen Ländern. Sie, Herr Sarrazin, negieren das und kommen mir deshalb in Ihrer Denkweise vor wie ein Salafist, nur ohne Bart, ohne Gewand. Die Einheit des Islam, von der Sie ausgehen, gibt es nicht.

Thilo Sarrazin: Der ehemalige Berliner Finanzsenator gehört der SPD an und war Vorstand der Bundesbank. Er schrieb mehrere Bestseller, u. a. „Feindliche Übernahme. Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht“ (2018) und „Der neue Tugendterror“ (2014)

Sarrazin: Aber das habe ich doch geschrieben! Den einen Islam gibt es nicht. Als Ökonom, Soziologe, Historiker und Statistiker habe ich nach Ursachen in der islamischen Religion gesucht, warum die islamische Welt sich systematisch von anderen Welten und Kulturen unterscheidet, warum sie auf vielen Feldern so rückständig ist, warum die hier lebenden Muslime sich so stark von der aufnehmenden Gesellschaft unterscheiden. Ich werte Untersuchungen sekundärwissenschaftlich aus, etwa jene von Ruud Koopmans vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, der zufolge 70 Prozent der europäischen Muslime überzeugt sind, es gebe nur die eine wahre und bindende Interpretation ihrer Religion. Die Mehrheit der Muslime hängt einem Steinzeitislam an. Sie, Herr Ourghi, können gerne mit Ihrer Überzeugungsarbeit für einen liberalen Islam anfangen. Ich wünsche Erfolg.

Ourghi: Reden Sie von den islamischen Ländern oder den Muslimen im Westen?

Sarrazin: Ich sehe da eine Einheit.

Ourghi: Diese Einheit gibt es nicht.

Sarrazin: Aber ich bitte Sie! Wenn der türkische Staat über seine Religionsbehörde Ditib 900 deutsche Moscheen finanziert, dann ist der Islam, wie er mir in Deutschland begegnet, im Wesentlichen fundamentalistisch. Was Muslime bei uns glauben, wird von außen gelenkt, von Saudi-Arabien, der Türkei.

„Herr Sarrazin denkt in Tätern und Opfern und Feindbildern. Er ist Experte der Angst“, sagt Abdel-Hakim Ourghi

Ourghi: Das stimmt nicht. Wir haben eine schweigende Mehrheit. Nur rund 15 Prozent der Muslime sind in den vom Ausland finanzierten Dachverbänden aktiv. Wir liberalen Muslime wollen weder importierte Imame noch Predigten, die nicht auf Deutsch gehalten werden.

Sarrazin: Das fordere ich auch.

Ourghi: Sie übersehen vieles. Etwa die gelebte Religiosität der Muslime im Alltag. Viele Muslime zitieren den Koran nur, wenn sie beten, ansonsten spielt er keine Rolle. Ich halte es für grundlegend falsch, soziale und politische Probleme zu theologisieren, wie Sie es tun. Der Koran ist nicht an allem schuld. Sie erklärten in einem Interview, am Islam als Religion sähen Sie nichts Positives. Ist es nicht positiv, dass wir zwei hier beieinandersitzen?

Sarrazin: Nie habe ich behauptet, alle Muslime wären verbohrt. Man muss immer unterscheiden zwischen den Menschen und der Religion, die sie prägt. Das Dritte Reich bestand auch nicht nur aus bösen Menschen, obwohl das System natürlich falsch war.

Das Argument ist nicht von der Hand zu weisen, dass Sie den Islam grundsätzlich für schuldig halten, wenn Muslime sich etwas zuschulden kommen lassen.
Sarrazin: Ich spreche von der Mehrheit der Muslime, die sich in Deutschland und Europa eben abschotten.

Sie befürchten eine „demografische Überwältigung durch den Islam“.
Sarrazin: Das stimmt.

Ourghi: Für mich sind Sie deshalb ein „Experte der Angst“.

Sarrazin: Ich habe auch Angst. Ich sorge mich um Deutschland. Die Beschäftigung mit den Themen meines Buches zeigte mir, dass ich zu Recht Angst habe.

Ourghi: Angst kenne ich gut. Ich habe Angst vor den Salafisten. Sie aber vermitteln eine Botschaft der Angst. Bei Ihnen ist der Islam eine Religion zum Fürchten. Sie schüren Angst in der Mehrheitsgesellschaft, indem Sie sie zum Opfer muslimischer Täter stilisieren. Eine solche Umkehrung ist unlauter. Wichtiger wäre es, Brücken zu bauen, damit unsere Kinder in Frieden und Toleranz zusammenleben können. Die Frage, ob der Islam zu Deutschland gehört, ist passé. Viele muslimische Kinder sind hier geboren worden, natürlich gehören sie zu Deutschland. Die Frage, die sich heute stellt, lautet: Welchen Islam brauchen wir in Deutschland?

Sarrazin: Muslime, die bei uns leben, sind Teil Deutschlands.

„Ich sorge mich um Deutschland. Die meisten Muslime hängen einem Steinzeitislam an“, so Thilo Sarrazin

Aber der Islam passt in Ihren Augen nicht zu Deutschland.
Sarrazin: Wenn ein unaufgeklärter Mehrheits­islam mehr und mehr an Boden gewinnt, ist das eine Gefahr für unsere Gesellschaft. Dazu stehe ich.

Geistige Arroganz, Hochmut, geringe Wissbegier und mindere Lernbereitschaft unterstellen Sie den Muslimen. Sind Muslime einfach dumm?
Sarrazin: Nein. Es handelt sich um pointierte Formulierungen am Ende eines Kapitels. Damit ist ein Profil der Muslime beschrieben, wie es sich aus internationalen Untersuchungen zur Bildungsleistung, zur Arbeitsmarktintegration, zur Kriminalität ergibt. Von Deutschtürken, die seit 60 Jahren bei uns leben, haben noch immer 60 Prozent keine abgeschlossene Berufsausbildung. Dass diese Botschaft vielen nicht gefällt, habe ich erwartet. Aber ich kann es nicht ändern.

Muss das alles am Islam liegen?
Sarrazin: Um den inneren Zusammenhang von disparaten Fakten zu finden, braucht man eine Theorie. Die Fakten stelle ich dar, die mich überzeugende Theorie liefere ich im ersten Kapitel. Demnach ist die islamische Weltsicht dem selbstständigen Denken nicht freundlich gesonnen. Wohl aber begünstigt sie Gewaltbereitschaft, Intoleranz und Unbildung.

Ourghi: Meinen Sie wirklich, auf der Basis von Zeitungsartikeln und Leserbriefen, die Sie zitieren, zu diesem Urteil gelangen zu können? Oder durch Verweise auf Jacob Burckhardt, der vor 120 Jahren gestorben ist?

Sarrazin: Wenn ein Zitat passt, warum soll ich es nicht verwenden, obwohl es aus der Zeitung stammt? Auch Sie habe ich mehrfach aus Interviews zitiert. Burckhardts „Weltgeschichtliche Betrachtungen“ sind ein bedeutendes Werk.

Ourghi: Sie lassen Neuerscheinungen und Sachbücher mit einer anderen Perspektive außen vor. Und Sie betrachten Muslime als dumm, wenn Sie von den Juden eine absteigende Linie der Intelligenz hin zu den Muslimen ziehen.

Sarrazin: Beim Thema kognitive Kompetenz stütze ich mich auf wissenschaftliche Primärquellen. Ich zitiere Studienergebnisse von Pisa und TIMSS, greife auf Pew Research und die psychologische Wissenschaft zurück. Es ist ein Faktum: Muslime hinken in der Bildungsentwicklung weit hinterher.

Ourghi: In der ersten Auflage von „Deutschland schafft sich ab“ (2010) sprechen Sie von „Erbfaktoren“, die für das schlechte schulische Abschneiden vieler Deutschtürken verantwortlich seien. Später haben Sie diese Formulierung in anderen Auflagen getilgt. Im neuen Buch umkreisen Sie die genetische Veranlagung. Und Sie theologisieren das Böse, das es natürlich auch unter Muslimen gibt, weil das Böse etwas Menschliches ist. Für Sie sind Muslime einfach anders. Die eigene Identität versuchen Sie durch Abwertung des Islam und der Muslime zu stärken. Dieses Muster kennen wir aus dem Rassismus und Sozialdarwinismus.
 

Abdel-Hakim Ourghi: „Ist es nicht positiv, dass wir zwei hier beieinandersitzen?“

Sarrazin: Genetik kommt nur zweimal in einer sehr eng gefassten, qualifizierten Form ins Spiel. Der britische Ökonom Gregory Clark hat dargelegt, dass sich aus der islamischen Kopfsteuer gewisse Selektionsprozesse ergaben, über die Generationen hinweg. Außerdem zeige ich, dass die Verwandtenehe in vielen muslimischen Ländern einen gewaltigen Umfang angenommen hat. In Marokko betrifft sie 30 Prozent aller Eheschließungen, knapp 40 Prozent in der afrikanischen Subsahara, in Syrien 47 bis 60 Prozent, im Irak 30 bis 40 Prozent, in der Türkei 20 bis 30 Prozent. Das sind aktuelle Zahlen, die man nicht bestreiten kann. Der negative Einfluss der Verwandtenheirat auf die Intelligenz ist breit belegt. Dass ich meinem damaligen Verlag entgegenkam und ab der vierten Auflage von „Deutschland schafft sich ab“ auf den Begriff der „Erbfaktoren“ verzichtete, war ein Fehler.

Ourghi: Fünf Wochen war ich jetzt in Algerien. Ich kann Ihnen sagen, Menschen entwickeln sich, auch Muslime. Es gibt viele moderne Muslime, es gibt Familien mit zwei Kindern, in denen Frau und Mann arbeiten.

Sarrazin: Das freut mich.

In Ihrem neuen Buch „Ihr müsst kein Kopftuch tragen“ nennen Sie, Herr Ourghi, das Kopftuch „Symbol der Unterdrückung“ der Frau durch den Mann und fordern einen Aufstand gegen die „patriarchalische Gesellschaftsordnung“. Ist diese Ordnung nicht untrennbar mit dem Islam verknüpft?
Ourghi: Die Frauen sind leider Menschen zweiter Klasse in der muslimischen Gesellschaft. Die Männer haben das Sagen. Wir dürfen jedoch die Macht der Frauen nicht unterschätzen. Sie können ihre Sexualität als Waffe einsetzen. Ein Wort noch zur Behauptung, es finde eine Islamisierung statt, weil die muslimischen Frauen mehr Kinder bekommen. Daran werde sich, unterstellen Sie, Herr Sarrazin, nichts ändern, weil der Islam unbeweglich sei. So sprechen Sie den Muslimen die Fähigkeit zur vitalen Existenz ab. Leben heißt Veränderung. Sollte das für Muslime nicht gelten?

Sarrazin: Ich argumentiere da extrem differenziert.

Ourghi: Sie zitieren eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Pew Research von 2011, unterschlagen aber deren Einbettung. Nicht zitiert von Ihnen wird: „Der Einfluss der Religion auf die Geburtenrate ist schwer zu messen. Man sollte nicht annehmen, dass der Islam die Ursache hierfür bildet. Kulturelle, soziale, ökonomische, politische, historische und andere Faktoren können eine ebenso große oder größere Rolle spielen.“ Die Studie nimmt an, dass die Geburtenrate bei den Muslimen im Jahr 2030 bei 2,0 liegen wird gegenüber 1,6 bei den Nichtmuslimen. Sogar Ihre Statistiken sind nicht sauber.

Sarrazin: Einspruch! Da muss ich auf meinen Anhang mit den demografischen Eckdaten verweisen. Dort finden Sie die Uno-Bevölkerungsprognose mit exakten Annahmen für jedes einzelne Land. Ich beschreibe exakt, wie es ist: In der Subsahara bleibt die Geburtenrate hoch, in Pakistan ist sie höher als in Indien und in Bangladesch, in Ländern, in denen Krieg herrscht, in Syrien, Irak, Afghanistan, ist sie besonders hoch. In Ägypten steigt die Rate wieder. Pew Research geht davon aus, dass die Rate bei den europäischen Muslimen sinken und dennoch auch im Jahr 2050 höher sein wird als bei den Nichtmuslimen.

Sie behaupten: Weil muslimische Frauen so viele Kinder bekommen, ist der Islam eine Gefahr für den Westen.
Sarrazin: Das ist auch richtig. Durch die höhere Geburtenrate wird eine Gruppe, die aufgrund ihrer Einstellungen und ihrer Kultur nicht dem Westen angehört und dessen Werte überwiegend nicht teilt, in zwei oder drei Generationen zur Mehrheitsgruppe. Darin liegt eine zentrale Gefahr. Weil ich weiß, dass dieser Punkt stark angegriffen wird, habe ich ihn zahlenmäßig besonders sorgfältig aufbereitet.

Ourghi: Sie reden mit einer solchen Inbrunst über Statistiken, als wären sie heilige Schriften für Sie.

Sarrazin: Überhaupt nicht.

Ourghi: Statistiken sind ein Hilfsmittel, um ein bestimmtes Phänomen für eine gewisse Zeit zu verstehen. Sie verlieren schnell ihre Geltung. Durch frühe Heirat und hohe Kinderzahl sehen Sie den Islam zur dominanten Macht in Europa aufsteigen. Von Stadtviertel zu Stadtviertel vollziehe sich schleichend eine „feindliche Übernahme“. Ich wohne in Freiburg in einem Viertel, in dem es zwei muslimische Familien gibt. Natürlich ist die Lage in manchen Berliner Vierteln anders. Aber eine sogenannte Islamisierung lässt sich mit dem Blick auf deutsche Stadtviertel nicht belegen.

Thilo Sarrazin: „Meine Lösungsvorschläge für das Problem werden leider von der Politik nicht aufgegriffen“

Sarrazin: Sie täuschen sich. Diese Islamisierung von Stadtviertel zu Stadtviertel findet statt. Muslimische Professoren leben natürlich nicht in diesen Vierteln, sondern dort, wo Professoren eben gerne leben. Unlängst war ich anlässlich der Buchmesse wieder einmal in Frankfurt am Main. Vom Messegelände ging ich über den Eisernen Steg zum Bahnhofsviertel und über den Römer zur Alten Oper, vier Stunden lang. Ich schaute mir die Menschen an und stellte fest, dass der Anteil von Frauen mit Kopftüchern sich seit 2009/10 mindestens verdreifacht hat und dass rund 70 Prozent dieser Frauen einen Kinderwagen schoben, erkennbar schwanger waren, ein kleines Kind neben sich hatten oder alles zusammen. Die Islamisierung ist optisch evident und wird durch meine Zahlen gestützt. Statistiken verwelken keineswegs so schnell. In „Deutschland schafft sich ab“ prophezeite ich bei einer jährlichen muslimischen Zuwanderung von 100 000 Menschen eine muslimische Bevölkerungsmehrheit in den nächsten 100 Jahren. Der Prozess vollzieht sich mit weitaus höherem Tempo.

Ourghi: So funktioniert Angstmache, Herr Sarrazin. Wir wissen, dass nur rund 30 Prozent der Musliminnen ein Kopftuch tragen.

Sarrazin: In Neukölln trägt die Mehrheit der Musliminnen ein Kopftuch, sogar an den Schulen. In Wedding ebenso.

Ourghi: Da muss man sich die Frage stellen, was ist politisch in diesen Vierteln schiefgelaufen?

Sarrazin: Wedding und Neukölln sind keine Viertel, sondern Städte mit jeweils 300 000 Einwohnern.

Ourghi: „Kopftuch“ für „Hidschab“ ist übrigens eine unglückliche Übersetzung von Rudi Paret. Der Koran kennt kein Kopftuch. Es ist auch kein religiöses Kleidungsstück, sondern ein historisches Produkt der männlichen Herrschaft über Körper und Geist der Frau.

Sarrazin: Es ist Teil der islamischen Kultur geworden.

Muslimische Frauen, die Kopftuch tragen, berufen sich auf den Koran.
Ourghi: Leider. Die türkische Ditib organisiert eine „kleine Pilgerfahrt“ für junge deutsche Muslime nach Mekka. Nach der Rückkehr beginnen viele Frauen, Kopftuch zu tragen – als Tribut an den dortigen Kulturschock. Eine Reislamisierung der hier geborenen Muslime findet so statt.

Sie, Herr Ourghi, haben in Ihrer Kritik des Buches „Feindliche Übernahme“ für cicero.de Herrn Sarrazin Rassismus vorgeworfen. Möchten Sie das aufrechterhalten?
Ourghi: Herr Sarrazin ist ein Mensch wie jeder andere Mensch auch. Der Grundsatz seines Buches ist jedoch: Wir sind die Guten, und die Muslime sind die Bösen. Er denkt in Tätern und Opfern und Feindbildern. Dabei finden wir das Böse in allen Gesellschaften. Wir sollten soziale Probleme nicht theologisieren. Wir müssen gemeinsam Ursachen erkennen und Lösungen finden, ohne Ängste zu schüren.

Sarrazin: Meine Lösungsvorschläge für das Problem werden leider von der Politik nicht aufgegriffen.

Ourghi: Appellieren möchte ich auch an die Muslime, „Feindliche Übernahme“ zu lesen. Wir Muslime müssen lernen, mit denen, die anderer Meinung sind, zu debattieren und ins Gespräch zu kommen. Keine Angst vor Thilo Sarrazin!

Fotos: Antje Berghäuser

Dies ist ein Text aus der November-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Onlineshop erhalten.















 

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