Katholikentag - „Ich will den Papst nicht abschaffen“

Heute beginnt der Katholikentag in Stuttgart. Es kommen so wenig Gläubige wie noch nie. Die Katholische Kirche ist in einer schweren Vertrauenskrise, sagt der Jesuit Klaus Mertes. Aber für einen Abgesang sei es noch zu früh. „Die Kirche hat Kraft und wird weiterexistieren, sie wird aber eine andere Gestalt bekommen.“

Die Großplastik „Der Hängemattenbischof" am Rande des Katholikentags
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Autoreninfo

Volker Resing leitet das Ressort Berliner Republik bei Cicero. Er ist Spezialist für Kirchenfragen und für die Unionsparteien. Von ihm erschien im Herder-Verlag „Die Kanzlermaschine – Wie die CDU funktioniert“.

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Klaus Mertes hat mit einem offenen Brief 2010 die Missbrauchskrise in der katholischen Kirche öffentlich gemacht. Er ist Mitglied des Jesuitenordens und hat 20 Jahre als Schulleiter in Berlin und St. Blasien gearbeitet. Heute lebt er in Berlin und ist Redaktionsmitglied der Zeitschrift „Stimmen der Zeit“.

Vor vier Jahren kamen noch 90.000 Besucher zum Katholikentag nach Münster, nun werden in Stuttgart etwa 20.000 erwartet. Was ist los in der katholischen Kirche?

Alle Krisen und Konflikte, die ja hinlänglich bekannt sind, haben im Kern in der katholischen Kirche zu einer großen Vertrauenskrise geführt. Sie hat auch eine längere Geschichte, aber zurzeit trifft sich der gesteigerte innerkirchliche Vertrauensverlust mit dem Misstrauen, das der katholischen Kirche von der Gesellschaft entgegengebracht wird. Das macht einen Katholikentag nicht attraktiver.

Doch die Katholiken misstrauen doch auch selbst ihrer Kirche?

Bischöfe und Ordensobere stehen qua Amt unter Verdacht wegen der Missbrauchskrise. Umgekehrt gibt es innerkirchlich noch immer die hergebrachte Struktur des Verdachts von oben nach unten, dass das Leben der Katholikinnen und Katholiken nicht den katholischen Maßstäben entspräche. Und das stimmt ja auch irgendwie. Eine Mehrheit in der katholischen Kirche lebt zum Beispiel nicht nach den Maßstäben der offiziellen Sexualmoral. Aber wo Misstrauen von oben nach unten geht, zerrüttet und spaltet es auch das ganze System.

Erleben wir also sowas wie den letzten Katholikentag seiner Art?

Sicher nicht, aber die Formen des Katholizismus werden sich wohl ändern. Viele haben um Vertrauen gekämpft und sind jetzt müde. Der Rückzug aus den gegenwärtigen Begegnungsformen hat auch etwas mit Selbstschutz zu tun. Viele wollen raus aus diesem ständigen Wechselbad von Hoffnung und Enttäuschung.

Der Katholikentag ist ein öffentliches Ereignis und wird vom Staat mitfinanziert. Politiker sind gern gesehene Gäste. Muss sich diese Nähe angesichts der Krise verändern?

Diese Frage wird notwendigerweise kommen. Ich erlebe aber auch die andere Seite in Gesprächen mit Politikern. Viele machen sich dort große Sorgen um den Niedergang der Kirche. Sie sagen mir, es sei nicht sehr wahrscheinlich, dass eine Schwächung des Christentums in Deutschland zu einem positiven Humanisierungsschub in der Gesellschaft führe. Es werden auch Zerrbilder von der Kirche verbreitet, die sich in den Köpfen der Leute verfestigen. Doch was wäre unsere Gesellschaft ohne die vielen Menschen, die sich tagtäglich in ihrem Leben unter den Anspruch des Evangeliums stellen?

Sie haben 2010 mit einem offenen Brief die Aufarbeitung von Missbrauch in der katholischen Kirche begonnen. Einiges ist seitdem passiert, dennoch kommt die Kirche bei diesem Thema nicht zur Ruhe. Warum?

Es wäre falsch, hier nur einzelnen Bischöfen die ganze Schuld zuzuschreiben. Die Selbsterkenntnis über die Dysfunktionalität des eigenen Systems ist ein ganz bitterer Prozess, der seine Zeit braucht. Auch Amtsträger in der Kirche sind in einem tiefen kindlichen Vertrauen groß geworden. Dieses ist herbe enttäuscht worden. Eine Heilung lässt sich nicht durch ein paar Willensakte vollziehen. Nun werden auch grundsätzliche Fragen gestellt, und das ist ja auch eine Chance.

Manche sagen, es ändere sich eh nichts, die Kirche sei nicht zu retten?

Das kann man sagen, aber damit ändert man auch nichts. Nein, die Kirche hat Kraft und wird weiterexistieren, sie wird langsam aber sicher eine andere Gestalt bekommen. Wir haben ja jetzt von der deutschen Situation gesprochen, die Kirche ist aber eine Institution mit 1,2 Milliarden Menschen. Die Veränderung ist ein globaler Prozess.

In Deutschland aber gibt es einen rasenden Exodus. Die Kirchenaustrittszahlen steigen massiv. In diesem Jahr wird die Zahl der Christen in Deutschland wohl unter die 50 Prozent fallen. Erleben wir das Ende des christlichen Abendlandes?

Nein, dazu ist das das Abendland viel zu sehr christlich geprägt, ohne es vielleicht selbst zu wissen. Europas Geschichte und Gegenwart - übrigens Russland eingeschlossen - kann ohne Christentum gar nicht verstanden und gestaltet werden. Aber eine bestimmte Form von Katholischer Kirche neigt sich dem Ende.

Was meinen Sie damit?

Die Zuspitzung von Struktur und Frömmigkeit auf ein eine weißgekleidete Lichtgestalt an der Spitze, die in monarchischer Vollkommenheit unfehlbare Entscheidungen trifft, kommt ans Ende. Die Wahrheit des Evangeliums kann nicht in einem antimodernistischen Schutzbunker bewahrt und gerettet werden.

Wollen Sie den Papst abschaffen?

Nein, natürlich will ich nicht den Papst abschaffen. Ich bin Jesuit. Der Papst kann über mich verfügen. Aber das Papsttum zu den Zeiten, als der Jesuitenorden gegründet wurde – im 16. Jahrhundert –, war nicht dasselbe wie das des 19. Jahrhunderts. Mit der Vorstellung vom Besitz einer unveränderlichen Wahrheit hat sich das Papsttum in eine Sackgasse manövriert. Nehmen Sie das Beispiel:  Am Ende des 19. Jahrhunderts hat der Papst die Religionsfreiheit als Häresie verurteilt. Das wurde dann Mitte des 20. Jahrhunderts im Zweiten Vatikanischen Konzil gekappt. Kirche und das Papsttum können sich also selbst korrigieren. So etwas darf nicht klammheimlich passieren, sondern daraus muss ein neues Selbstverständnis erwachsen.

Wir haben von den Kirchenaustritten gesprochen. Haben Sie Erfahrungen mit Kirchenaustritten, was erzählen die Menschen Ihnen?

Ich habe eigentlich eher mit denen zu tun, die bleiben. Ich habe auch mit Menschen zu tun, die darum ringen, ob sie gehen sollen oder nicht. Ich sehe da meine Aufgabe nicht darin, sie mit viel Anstrengung zu halten. Ich respektiere die oft langen und tiefen Prozesse die hinter Austritten stehen. Ich habe allerdings auch mit Rückkehrern zu tun. Sie merken, dass sie mehr verloren haben, als sie ahnten, damals, als sie gingen. Und nach wie vor suchen viele Menschen die Kirche als einen Ort, an dem die Frage nach Gott gestellt werden kann, wo sie ihren Glauben gemeinschaftlich zum Ausdruck bringen können, feiern können. Ein Ort, an dem sie diese irdische Existenz transzendieren und Hoffnung für ihr ganzes Leben schöpfen können, im Tod und über den Tod hinaus.

Bei dem Katholikentag aber soll auch über fundamentale Reformen diskutiert werden. Frauen sollen Priester werden können, Priester sollen heiraten dürfen, die Sexualmoral soll sich ändern. Dagegen rührt sich massiver Widerstand vor allem aus den USA und Skandinavien. Sind diese Reformvorstellungen ein deutsches Phänomen?

Nein, das ist kein deutsches Phänomen, überhaupt nicht. Die kritischen Stimmen finde ich einerseits wichtig. Ich habe ja auch nicht die Wahrheit mit Löffeln gegessen. Und mancher Ton in den hiesigen Debatten klingt mir auch zu besserwisserisch im Verhältnis zu Befindlichkeiten in anderen Kontinenten.  Andererseits frage ich zurück: Habt ihr zu den Fragen, die angeblich nur in Deutschland gestellt werden, nichts zu sagen, außer dass sie woanders nicht gestellt werden? Das wäre doch eine jämmerliche Bankrotterklärung. Um eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den Fragen kommt keiner herum.

Könnte es nicht sein, dass die Deutschen gerne eine liberale, dem so genannten Zeitgeist angepasste, katholische Kirche wollen, der Rest der Weltkirche aber nicht.

Quatsch. Nehmen Sie einfach nur mal die Frage nach der sogenannten künstlichen Empfängnisverhütung. Die Probleme der kirchlichen Lehre – und die Probleme, die sie mit der Lehre verursacht – lassen sich nirgendwo unter den Teppich kehren, in der Slowakei nicht, in Afrika nicht. Und Homophobie gibt es nicht nur in Deutschland, muss also deswegen auch nicht nur in Deutschland bekämpft werden. 

In Deutschland diskutiert die katholische Kirche über Segnung von homosexuellen Paaren. Die deutsche Gesellschaft versteht noch nicht mal die Debatte.

Ja, aber die deutsche Gesellschaft macht es sich da oft auch ein bisschen zu leicht. „Verstehe ich nicht“, das reicht nicht, wenn man mal zu diesem Thema nach Russland, in den Irak oder nach Afrika schaut, und vor allem: mit den Menschen dort spricht und auch ringt.

Aber die katholische Kirche ist doch keine Vorkämpferin gegen Homophobie?

Natürlich nicht. Aber ich warne nur vor einer provinziellen deutschen Sicht. Die katholische Kirche umfasst 1,2 Milliarden Menschen aus völlig unterschiedlichen Kulturen. Wenn sie es schafft, sich zu wandeln, wenn das katholische Lehramt eines Tages, was ich hoffe, die Lehre verändert und die homosexuelle Liebe nicht mehr einfach für sündig erklärt, dann ist das ein Befreiungsakt von globaler Bedeutung.

Werden wir das erleben?

Ich hoffe es.

Sie sind katholischer Priester, leben zölibatär, also enthaltsam und ehelos, wie das katholisch heißt. Wollen sie diese Verpflichtung für Geistliche ändern?

Ich persönlich schätze die zölibatäre Lebensform sehr, gerade auch als eine Form des religiösen Lebens. Es war doch nicht Begeisterung für sexuelle Enthaltsamkeit, die mich dazu gebracht hat, Ordensmann und auch Priester zu werden, sondern die Freude daran, alles auf eine Karte zu setzen, um mich ganz und gar auf die Suche nach Gott zu begeben. Umstritten ist der Pflichtzölibat. Da hat die verquere Praxis einfach so viel kaputt gemacht, dass er wohl nicht mehr zu retten ist. Aber ich fühle mich weiterhin mit allen zölibatär lebenden Männern und Frauen in der Kirche in einer sinnvollen Lebensform verbunden.

Stichwort Gottsuche: Umfragen zeigen, dass nicht nur die Kirchenbindung schwindet, sondern auch der Glaube an Gott. Und auch überhaupt die enge Verbindung mit den christlichen Erzählungen verdampft geradezu? Wie beobachten Sie diese Entkirchlichung?

So einfach ist das nicht. Ich unterscheide inzwischen zwischen Atheismus und Religionslosigkeit. Atheisten sind Menschen, die sich kritisch mit Religion auseinandersetzen, sie gut kennen und gute Gründe dafür haben, für sich persönlich zu entscheiden: Ich glaube nicht. Religionslosigkeit ist etwas ganz anderes. Dahinter stehen Menschen, die in der vierten, fünften Generation einfach gar nichts mehr von dem Thema gehört haben. Ich saß kürzlich in einer Kirche, da kommt ein Mann mit seinem Sohn, etwa zehn Jahre alt, herein. Und ich höre den Jungen laut fragen: Papi, wer ist denn der Mann da am Kreuz? Der Vater antwortet: Das weiß ich leider auch nicht so genau. Solchen Menschen begegne ich immer mehr. Wenn sie dann mit Religion in Berührung kommen, sind sie oft neugierig. Sie betreten den religiösen Kosmos so, wie vielleicht Marsmenschen die Erde betreten würden.

Ist denn ausgerechnet die katholische Kirche dann der richtige Einstieg für die Erkundung des neuen religiösen Kosmos - angesichts der Skandale und Krisen?

Es ist ein großer Irrtum, wenn man meint, in anderen religiösen Formaten könne man dem Problem des Missbrauchs entgehen. Ich behaupte das Gegenteil: Hütet euch vor allen Parteien, Gruppierungen und auch religiösen Gruppen, die behaupten, bei ihnen gebe es das Problem des Missbrauchs nicht. Gewaltverhältnisse verstecken sich immer hinter glänzenden Fassaden, und sie locken immer mit Verheißungen einer heilen Welt. Die Skandalisierung des Missbrauchs ist eine Chance, auch deswegen, weil sie die Komplexität des Gewaltproblems offenlegt. Und da sind wir dann direkt auch im Thema des Evangeliums.

Zum Abschluss: Sie leben als katholischer Priester mitten in Berlin, als Exot, als Außenseiter, als Seltenheit?

In Berlin gehöre ich zu einer Minderheit und ich gehöre gerne zu dieser Minderheit. Zurzeit finde ich - ehrlich gesagt - Berlin gegenüber Katholiken entspannter als das, was ich in den katholischen Gebieten erlebe, so wie im Erzbistum Köln. Dort ist die Hierarchie noch mächtig, und deswegen leiden viele Menschen noch wirklich unter der katholischen Hierarchie. Der Durchschnittsberliner leidet nicht unter der Kirche, dazu ist die Kirche zu schwach. Das ermöglicht sehr tiefe und gute Gespräche. Ich bin ja nicht wegen Kardinal Woelki katholisch geworden. Und ich werde auch nicht wegen ihm aufhören katholischen zu sein. Diese Macht über mich hat er nicht. Manchmal muss man sich klar machen, warum man eigentlich katholisch ist, um nicht in den Strudeln der innerkirchlichen Debatten den Kompass zu verlieren.
 

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