Liberalismus - Mehr Kant wagen

„Die Toleranz gegenüber anderen Meinungen sinkt“, urteilte kürzlich der Präsident des Deutschen Hochschulverbandes. Helfen kann eine Rückbesinnung auf den Philosophen Immanuel Kant. Der Zweifel an der eigenen Erkenntnis ist nach ihm die Voraussetzung der Freiheit

Schmierfink am Werk: Hat Kant für seine überragenden Beiträge zur Rechtsphilosophie nicht mehr Respekt verdient? / picture alliance
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Autoreninfo

Dr. iur. Fiete Kalscheuer ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verwaltungsrecht in einer Wirtschaftskanzlei in Kiel. Er wurde bei Professor Robert Alexy zur Rechtsphilosophie Kants promoviert.

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Eine der berührendsten Skulpturen des Bildhauers, Zeichners und Schriftstellers Ernst Barlach ist die Figur „Der Zweifler“ aus dem Jahre 1931. Es handelt sich bei dieser Figur um einen knienden Mann, dessen Oberkörper leicht nach vorne geneigt ist. Die Hände des Mannes befinden sich vor dem Oberkörper; sie sind zusammengelegt und ineinander verschränkt.

Als ich eine Fotographie dieser Skulptur kürzlich einer Freundin zeigte und sie raten ließ, was diese Figur darstellen solle, antwortete sie, die Skulptur veranschauliche Enthaltsamkeit. Vielleicht nicht auf den ersten Blick, dafür aber auf den zweiten Blick trifft dies einen Wesenskern des Zweiflers: Jemand der zweifelt, enthält sich des Dranges, den Anderen vorzuschreiben, was sie zu tun oder zu lassen haben.

Kants Grundannahmen

An dieser Stelle kommt der vor 295 Jahren geborene Philosoph Immanuel Kant ins Spiel. Immanuel Kant ist – was häufig verkannt wird – der Philosoph des Zweifels. Kants Moral- und Rechtsphilosophie beruht auf zwei Grundannahmen. Die erste Grundannahme besteht darin, dass ein Gottesbezug zur Begründung von Moral nicht erforderlich sei: Der Mensch benötigt nach Kant keinen Gott, um moralisch zu sein.

Die zweite Grundannahme besteht in der Notwendigkeit des Zweifels: Wir wissen nach Kant weder genau, was moralisch richtig ist, noch wissen wir jemals mit hinreichender Sicherheit, ob wir selbst tatsächlich gerade moralisch handeln oder nicht. Beide Grundannahmen Kants sind Annahmen, die auch heute noch von überragender Bedeutung sein sollten.

Moral ohne Gott

Nach Kant ist der Mensch selbst, nicht aber Gott die Quelle der Normativität, der Ursprung des Sollens und Dürfens. Kant fasst diese Überzeugung in wunderbare Sätze, die zugleich widerlegen, dass es sich bei Kant um einen trockenen, heute kaum noch lesbaren Philosophen handelt: „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“

Das moralische Gesetz befindet sich nach Kant somit im Menschen selbst, ist nicht außerhalb des Menschen, nicht in Gott verankert. Dies bedeutet nach Kant gleichwohl nicht zwingend, dass es keinen Gott gibt. Gott schafft eben nur keine Moral, ist insoweit entbehrlich. Die Aussage des ca. 100 Jahre später geborenen russischen Schriftstellers Fjodor Dostojewski „Wenn es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt“ hätte Kant daher scharf abgelehnt.

„Was ist Aufklärung?“

Kants „Gottesbeweis“ ist ein anderer: Er fordert, dass es einen Gott gibt, da nur der Glaube an Gott und an eine für uns nicht sichtbare Welt den berechtigten Anlass zur Hoffnung gebe, die eigene Sittlichkeit werde mit Glückseligkeit belohnt. Diese Hoffnung auf Glückseligkeit dürfe aber niemals – so Kant – der Beweggrund für eine bestimmte, vermeintlich moralische Handlung sein, denn bereits dann sei diese Handlung keine moralische mehr.

Kant erweist sich mit diesem „Gottesbeweis“ als nach beiden Seiten hin anschlussfähig: Sowohl Atheisten können Kants Moral- und Rechtsphilosophie in ihren wesentlichen Zügen für richtig erachten als auch Gläubige: Es ist nach Kant möglich (nicht aber notwendig), all unsere moralische Pflichten als göttliche Pflichten zu betrachten.

Im Weiteren ist zu beachten, dass Kant – für seine Zeit bahnbrechend – die Frage der Moralität im einzelnen Menschen verortet. Dieses Vertrauen in den Einzelnen klingt auch in Kants berühmter Antwort auf die Frage „Was ist Aufklärung?“ an: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“

Die Freiheit des Taubenfütterers

Rechtlich und politisch beinahe noch spannender ist Kants „allgemeines Rechtsgesetz“, das das Kernstück seiner Rechtslehre bildet. Nach dem allgemeinen Rechtsgesetz ist eine Handlung genau dann rechtmäßig, wenn der Handelnde die Freiheit des Anderen zu tun oder zu lassen, was er will, in größtmöglichem Maße achtet. Der Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit steht damit im Mittelpunkt des allgemeinen Rechtsgesetzes. Bedingung ihres Schutzes ist lediglich, dass sich diese Freiheit mit der Freiheit von jedermann vereinbaren lässt.

Freiheit ist damit nach Kant nicht nur die „Freiheit des Andersdenkenden“ (Rosa Luxemburg), sondern auch – um bekannte Fälle des Bundesverfassungsgerichts aufzugreifen – die Freiheit des Taubenfütterers oder die Freiheit, im Walde zu reiten. Auch vermeintlich banale und sogar vermeintlich unmoralische Handlungen sind nach Kant somit grundsätzlich rechtlich zu schützen.

Diese liberale Grundhaltung Kants gründet in seiner Auffassung, dass es „dem Menschen nicht möglich [ist], so in die Tiefe seines eigenen Herzens einzuschauen, daß er jemals von der Reinigkeit seiner moralischen Absicht und der Lauterkeit seiner Gesinnung auch nur in einer Handlung völlig gewiß sein könnte.“ Anders und noch anschaulicher ausgedrückt: „Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.“

Im Zweifel für den Zweifel

Da wir also weder sicher wissen, was moralisch richtig ist, noch mit hinreichender Sicherheit von uns sagen können, ob wir tatsächlich gerade moralisch handeln oder nicht, zieht Kant den Schluss, dass die Freiheit des Einzelnen in größtmöglichem Maße zu schützen ist. Solange nicht die Rechte anderer berührt werden, verbietet es sich nach Kant, Handlungen nicht unter rechtlichen Schutz zu stellen, die mit vermeintlicher Sicherheit als unmoralisch erkannt wurden. Positiv formuliert: Solange nicht die Rechte anderer berührt werden, ist es geboten, Handlungen unter rechtlichen Schutz zu stellen, auch wenn diese mit vermeintlicher Sicherheit als unmoralisch erkannt wurden.

Das allgemeine Rechtsgesetz Kants fußt damit auf Erkenntniszweifeln; es ist ein Ausdruck moralischer Bescheidenheit: Jegliche Handlung, die mit der allgemeinen Handlungsfreiheit von jedermann vereinbar ist, könnte (muss aber nicht) eine moralisch gebotene Handlung sein und dies rechtfertigt und gebietet es, die gesamte äußere Handlungsfreiheit, soweit sie mit der allgemeinen Handlungsfreiheit von jedermann vereinbar ist, rechtlich zu schützen. Im Zweifel für den Zweifel! ist also der Wahlspruch der Kantischen Rechtsphilosophie.

Zweifler machen die Welt besser

Der Liberalismus, der es in Deutschland immer schwer hatte, kann und sollte sich verstärkt auf Deutschlands größten Philosophen berufen; – auf Immanuel Kant. Von ihm lässt sich lernen, dass eine liberale politische Theorie ohne Gottesbezug auskommen kann, den Glauben an Gott aber auch nicht ausschließen muss.

Die Theorie Kants bleibt daher sowohl für Atheisten als auch Gläubige anschlussfähig. Ausgangspunkt dieser Theorie ist indes der einzelne, beschränkt erkenntnisfähige Mensch. Die Welt mag zwar nicht den Zweiflern, den Haderern, den Hamlets gehören; sie aber sind es, die die Welt zu einer besseren machen.

 

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