„Tagesthemen“ über Seehofer - Journalistische Kernschmelze

In den „Tagesthemen“ der ARD wird Horst Seehofers Rücktritt von Kai Gniffke kommentiert, bevor er überhaupt feststeht. Der Journalist konnte seine Verachtung für den Innenminister nicht zügeln. Das Protokoll einer Grenzüberschreitung war der meist gelesene Text im Juli 2018

Kai Gniffke, Chefredakteur ARD-aktuell: die Grenze zur Hassrede touchiert / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

So erreichen Sie Alexander Kissler:

Anzeige

Ein schlimmes Wort, Fakenews. Auch nicht schön, Hatespeech. In beiden Fällen soll das Fremdwort die Zumutung abmildern, die sich hinter den Begriffen verbirgt: dass von interessierter Seite die Wirklichkeit öffentlich verbogen, verzerrt, verdreht wird und dass manche öffentliche Rede ein hässliches, ein hassendes Ding ist. Beides stößt auf den Widerstand der seriösen Medien. Diese arbeiten nach „handwerklichen und ethischen Grundsätzen“, was sich insbesondere am Umgang „mit Quellen“ und der „Verifikation von Informationen“ zeige und an den zahlreichen „Maßnahmen“ gegen „Desinformation“, die die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ergriffen haben. Sagt einer, der es wissen muss, weil er dafür bezahlt wird: der Fernsehjournalist Dr. Kai Gniffke, „erster Chefredakteur ARD-aktuell“.

Keine Unterstellung zu groß beim Seehofer-Bashing

Fatalerweise gibt es auch einen „Kai Gniffke vom Südwestrundfunk“ (so Moderatorin Caren Miosga), bei dem es sich kaum um dieselbe Person handeln kann. Oder doch? „Kai Gniffke vom Südwestrundfunk“ las gestern einen „tagesthemen“-Kommentar ab, der auf Desinformation beruhte und die Grenze zur Hassrede touchierte. Sich darüber aufzuregen, wird freilich den Wenigsten gelingen, denn „Kai Gniffke vom Südwestrundfunk“ tat es zu einem allgemein als gut anerkannten Zweck, zum Seehofer-Bashing. Da kann nach allgemeiner polit-medialer Lesart kein Satz zu übergriffig, keine Unterstellung zu groß sein. Die dreijährige Vorgeschichte eines grundlegenden Dissenses von CDU und CSU in der Migrationspolitik wird von Profis, die es besser wissen, verkürzt auf schlechte Münchner Laune hier und europäische Politik mit menschlichem Antlitz dort. Das Team Merkel schließt die Reihen, als wär’s ein Stück vom Boulevard, frei nach dem Motto „und morgens isst er kleine Kinder. Zuzutrauen wär’s ihm, dem Horst.“

Am gestrigen Sonntagabend wurde aus den Reihen der in Klausur tagenden CSU kolportiert, Innenminister und Parteivorsitzender Seehofer habe seinen Rücktritt angeboten. Bald hieß es, er sei bereits zurückgetreten. Eine Bestätigung stand aus. Doch da waren die Schleusen der Freude beim Team Merkel schon geöffnet. Es geschah, was seit Goethes Faust zum typischen Deutschen gehört: „Im Vorgefühl von solchem hohen Glück genieß ich jetzt den höchsten Augenblick.“ So interviewte Moderation Caren Miosga in derselben Sendung die Leiterin des ARD-Hauptstadtstudios, Tina Hassel, und fragte: „Wird die Kanzlerin den Rücktritt annehmen?“ – einen Rücktritt wohlgemerkt, den es noch gar nicht gab. Später sprach Miosga in einem selbstkorrigierenden Akt vom „möglichen Rücktritt Seehofers“, ein aus München zugeschalteter Journalist vom „Rücktrittsangebot“. Dann stieg Gniffke in die Bütt‘, finsteren Blicks, breitarmig abgestützt, ein Kerl vor dem Herrn.

Das Scherbengericht von Kai Gniffke

Er begann im Konjunktiv, „der Rücktritt Horst Seehofers wäre eine Befreiung für Deutschland“, doch das war nur eine salvatorische Klausel. Gleich darauf fand Gniffke in den Indikativ und ins Brachialregister. Hier sollte ein Exempel statuiert, ein Scherbengericht veranstaltet werden über Volksfeind Seehofer. „Er hätte einen besseren Abgang verdient, aber jetzt war es Zeit.“ Die Desinformationsgrundlage ist ein Abgang, den Gniffke kontrafaktisch behauptet. Und zwar im Gestus maximalen Furors, als hätte er „10 Wochen lang an einem Report gearbeitet“ zur Frage, „wie man mit dem Phänomen ‚Fake News‘ umgehen kann oder soll“, um es nun selbst einmal damit zu versuchen. 

Auf dünnem Eis steht Gniffkes Behauptung, die Kanzlerin habe „beim EU-Gipfel mehr rausgehandelt, als alle erwartet hatten.“ Momentan hat Merkel ein unverbindliches Absichtspapier „rausgehandelt“ und bilaterale Zusagen, von denen sich bereits vier Staaten distanziert haben: ein Missverständnis, eine Lüge? Merkel gestand im ZDF-Sommerinterview am Sonntag ein, dass sie die Backen zu voll genommen hatte: „Abgeschlossen haben wir überhaupt keine Vereinbarung, sondern nur politisch darüber Einverständnis erzielt.“ Man bleibe „weiter im Gespräch“. Kai Gniffke schert derlei Inkongruenz nicht. Er ist gekommen, um mit Seehofer ein Hühnchen zu rupfen. Kein Fleisch soll der Ingolstädter nach dieser Aburteilung am Knochen haben.

Hass als Meinung

Darum klingt die Standpauke so: Die CSU habe „nicht schlau“ gehandelt und wolle sich „mit allen anderen EU-Ländern anlegen“ – war es nicht Merkels Verhandlung, der nun Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei offen opponierten? Man schaue sich den angewiderten Gesichtsausdruck an, wenn Kai Gniffke das Wort „schleierhaft“ ausspricht in dem Satz, ihm sei „völlig schleierhaft“, warum die CSU nicht „stolz“ sei auf den „Erfolg in Brüssel“. Unter dieses „schleierhaft!“ ließen sich, sollte Gniffkes Rede auf ausländische Märkte verkauft werden können, Four-letter-words in allen bekannten Sprachen legen. Wie könnte man jenes Wort synchronisieren, auf das Gniffkes Totalverdikt hinauslief, „Hormonhaushalt“? Seehofer und Söder machten „Politik nach ihrem persönlichen Hormonhaushalt“, diese – pfui aber auch – „Herren!“. Kai Gniffke ekelt sich, das sieht man ihm an.

Hass und Ekel sind menschliche Reaktionsweisen; in einem öffentlich-rechtlichen Kommentar erwartet man sie nicht. Eine Frage, die seit Merkels faktischer Grenzöffnung das Land spaltet, meint der Chefredakteur von ARD-aktuell durch degoutante Spekulationen über die hormonelle Konstitution eines bald 70-Jährigen beantworten zu können. Wieder wären wir beim Boulevard gelandet, dessen Kernkompetenz die Gehässigkeit ist. Dem bayerischen Ministerpräsidenten Söder stellt Gniffke in Aussicht, er werde die Landtagswahl „vergeigen“. Es klingt schneidend, als wäre die Geige eine Guillotine. „Was ich jetzt erwarte“, verkündet unser verbaler Prügelpädagoge, „ist eine handlungsfähige Regierung und ein Ende der bajuwarischen Profilneurose.“ Ein Ende journalistischer Profilneurotik und eine Abkehr von der Desinformation wären auch nicht verkehrt. Hass ist schließlich keine Meinung, oder?
 

Anzeige