Hass auf deutschen Straßen - „ Mächtige Gefühle “

In den Kommentaren zu den Geschehnissen dieser Tage auf deutschen Straßen ist wohl „Hass“ einer der meistgebrauchten Begriffe. Unser Porträt im Mai stellt die in Deutschland führende Kennerin jener Gefühle vor, die Geschichte machen: die Historikerin Ute Frevert.

Die Historikerin Ute Frevert erforscht seit 40 Jahren die Wirkmacht von Gefühlen / Maurice Weiss
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Autoreninfo

Ulrike Moser ist Historikerin und leitet das Ressort Salon bei Cicero.

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Ein Frauenthema, weich und so gefühlig wie gefällig. Ein Mode­thema, das nichts zum Geschichtsverständnis beitragen werde. Kaum mehr als „alter Wein in neuen Schläuchen“. Vorbehalte und Widerstände, die ausgerechnet die eigene Zunft äußerten, als die Historikerin Ute Frevert 2008 eine von vier Direktorenstellen am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung übernahm, um einen neuen Forschungsbereich aufzubauen. Nicht weniger als die „Geschichte der Gefühle“ wird seitdem hier erforscht. Die Frage, ob Emotionen eine Geschichte haben. Und wie Gefühle Geschichte machen.

„Sie motivieren Menschen dazu, etwas zu tun oder zu lassen, das den Lauf der Dinge verändert“, schreibt Ute Frevert in ihrem jüngsten Buch „Mächtige Gefühle“, ein Lexikon der Emotionen, „Von A wie Angst bis Z wie Zuneigung“. Keine Revolution ist vorstellbar ohne Wut und Hoffnung. Angst kann Menschen mobilisieren. Wie die Hunderttausenden, die Anfang der achtziger Jahre aus Angst vor dem Atomtod auf die Straße gingen. „I want you to panic“, schleuderte Greta Thunberg 2019 den Teilnehmern des Davoser Weltwirtschaftsforums entgegen, damit sie den Klimawandel stoppen. Der Nationalsozialismus war auch ein Gefühlsregiment, der Hass wachrief und Juden und politische Gegner demütigte. Und es war Hoffnung, die die Menschen 1989 in der DDR auf die Straße trieb, um „für ein offenes Land mit freien Menschen“ zu demonstrieren.

40 Jahre Gefühlsforschung

Wer Gefühle verstehen will, muss Distanz schaffen zu den eigenen Empfindungen. Es gibt keine Brücke, die Emotionen über Jahrhunderte bauen könnten. „Selbst die Gefühle, von denen wir glauben, dass wir sie kennen, die Liebe oder der Hass, wurden vor 100 oder 200 Jahren anders erlebt, anders gefühlt“, sagt Frevert. Gefühle verändern sich mit Zeit und Umständen, nicht nur in der Art, wie sie empfunden oder ausgedrückt werden. Auch wie sie geformt, gelernt, beeinflusst oder kultiviert werden. Jede Zeit hat andere Gefühle, die nach vorne drängen. Das Ehrgefühl ist uns heute fremd, bis ins 20. Jahrhundert aber war der „Ehrenzweikampf“, das Duell, Teil männlicher Sozialisation in Adel und gehobenem Bürgertum. Dagegen erlebt eine vergessen geglaubte Empfindung wie die Demut eine erstaunliche Renaissance. „Es ist schon auffällig, wer jetzt auf einmal demütig ist: Investmentbanker, Politiker, die dieses Gefühl für sich reklamieren, wenn sie weniger Stimmen als erwartet bekommen haben“, sagt Frevert und lacht.

Ute Frevert besitzt eine zurückhaltende, selbstverständliche Eleganz. Auch wenn sie im Homeoffice in Strickjacke am heimischen Schreibtisch sitzt, eingerahmt von Bücherregalen. Eine schöne Frau von bald 67 Jahren, selbstbewusst und diszipliniert. „Emotional“, wie sie sagt, aber gewiss nicht gefühlig. Derzeit stellt sie eine Auswahl ihrer Aufsätze für ein Buch zusammen. Einen Überblick über 40 Jahre Forschungs- und Lehrtätigkeit als Professorin. In Berlin, Konstanz, Bielefeld. Und zuletzt, bevor sie ihre Stelle am Institut antrat, an der amerikanischen Yale University. Es wird ein Rückblick auf die gefühlsgeschichtlichen Themen, die sie in all den Jahren bearbeitet hat. Ute Frevert darf für sich in Anspruch nehmen, die Genderstudies, die Erforschung von Geschlechterfragen, mitbegründet zu haben. Und sie hat durchaus schon früher wissenschaftliches Interesse an Gefühlen gezeigt, etwa am männlichen Ehrgefühl. Über das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft hat sie sich glanzvoll habilitiert. Seit Ende der neunziger Jahre erforscht sie, welche Rolle Vertrauen in der Politik spielt. „Ich habe nie großen Spaß daran gehabt, die x-te Fußnote zu einem schon sehr gut erforschten Themenbereich zu liefern“, sagt Frevert. „Ich habe mich immer lieber mit Themen beschäftigt, die möglichst noch nicht so viele Leute vor mir entdeckt hatten.“

Im Mainstream angekommen

Wie die Gefühls-Geschichte, die sie am Institut unter sehr viel privilegierteren Voraussetzungen bearbeiten kann als an einer Universität: finanziell gut ausgestattet, mit einem Team aus jungen Wissenschaftlern, das sie selbst zusammengestellt hat. Mit der Freiheit, ihren Posten auszuüben, bis sie 70 Jahre alt ist.

Ute Frevert vertritt ihr Forschungsfeld selbstbewusst und mit Autorität. Der Widerstand der Historikerzunft bröckelt längst. Selbst eine so konservative Fraktion der Geschichtsforschung wie Internationale Beziehungen hat vor drei Jahren zu einer Tagung zum Thema Gefühle geladen. Für Ute Frevert muss es eine stille Genugtuung gewesen sein. „Damit ist das Thema nun auch im Mainstream des Faches angekommen“, sagt sie. „Emotionen wirken ansteckend“, hat sie in ihrem Antrittsvortrag am Institut erklärt. „Emotionsforschung möglicherweise auch.“

Dieser Text stammt aus der Mai-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.
 

 

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