Heinrich Schliemann - Räuber oder Idealist? 

Heute vor 200 Jahren wurde Heinrich Schliemann geboren, Kaufmann, Ausgräber, Mäzen und einer der Wegbereiter der modernen Archäologie. Muss man an den Mann des 19. Jahrhunderts Wertmaßstäbe von heute anlegen? Falls ja, dann aber richtig! 

Silbervase, die von Heinrich Schliemann in Troja gefunden wurde, zu sehen ab Mai in der Ausstellung „Schliemanns Welten“ / dpa
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Julien Reitzenstein befasst sich als Historiker in Forschung und Lehre mit NS-Verbrechen und Ideologiegeschichte. Als Autor betrachtet er aktuelle politische und gesellschaftliche Entwicklungen.

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Laut ist dieser Tage manche Kritik an Heinrich Schliemann – und wenn sie nicht sauertöpfisch ist, ist sie moralinsauer. Vor allem, weil Heinrich Schliemann perfekt in das Fadenkreuz jener Apologeten der Cancel Culture passt, die Menschen des 19. Jahrhunderts vorwerfen, dass für sie Werte selbstverständlich waren, die heute vielfach als ablehnenswert gelten. Dabei fokussiert sich die Kritik vor allem auf ein Bild eines reichen, alten, weißen Schliemann, der in weniger entwickelten Ländern seinen Neigungen nachging und – je nach Interpretation – Verträge zu seinen Gunsten auslegte oder gar die „einfältigen Autochthonen“ bestahl. Daher sollten, so hört man, die von ihm ausgegrabenen und in westeuropäischen Museen ausgestellten Funde in die Herkunftsländer zurückgegeben werden. Das ist ebenso verzerrend, wie aus dem historischen Kontext gerissen.  

Wir leben in Zeiten, in denen jene gefeiert werden, die sich durch Bildung aus einfachsten Verhältnissen zu Wohlstand hocharbeiten. Im 19. Jahrhundert hingegen waren die sozialen Schranken deutlich stabiler als heute. Jemand, der ohne Schulabschluss durch Fleiß aufstieg, bis er einen fürstlichen Lebensstandard erreicht hatte, jemand, der erfolgreich war und einfach nur aus Freude an der Wissenschaft in fortgeschrittenem Alter promovierte – all das bescherte Heinrich Schliemann damals über lange Jahre eher Ausgrenzung als Lob. 

Die Ilias war sein Harry Potter

Als Heinrich Schliemann heute vor 200 Jahren im Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin geboren wurde, war er das fünfte von neun Kindern eines evangelischen Pastors. Später zog die Familie in das mecklenburgische Ankershagen. Dort nahm Gestalt an, was Schliemann für den Rest seines Lebens antreiben würde. Schliemanns Vater konnte ihm zwar aus finanziellen Gründen keine höhere Bildung ermöglichen, aber er schenkte dem damals Sechsjährigen das Buch „Die Weltgeschichte für Kinder“. Mit großer Ernsthaftigkeit erklärte Heinrich, dass er Troja finden werde, wenn er groß sei. Doch Homers Illias, die den Kampf um diese griechische Stadt schilderte, galt damals eher als Sage denn als Tatsachenbeschreibung – ähnlich dem von Platon beschriebenen Atlantis. Schliemann glich all jenen Kindern unserer Tage, für die völlig klar ist, dass sie, sobald sie das vorgeschriebene Mindestaufnahmealter von elf Jahren erreicht haben, ihre Schulbildung in Hogwarts fortsetzen. Während die heutigen Kinder irgendwann einsehen, dass die Ereignisse in der Zauberschule Hogwarts nur eine Erfindung der Autorin J.K. Rowling sind, hat Heinrich Schliemann zeitlebens nie einsehen wollen, dass die Ereignisse in der Illias nur eine Erfindung des Autors Homer sind.  

Im Alter von 14 Jahren wurde Heinrich Schliemann Lehrling in einem Kaufmannsladen in Fürstenberg an der Havel. Er berichtete später davon, wie regelmäßig ein trunksüchtiger Müllergeselle in den Laden kam, der in seiner Jugend eine gute Erziehung genossen hatte und deshalb die Ilias auswendig aufsagen konnte. Schliemann gab ihm von seinen Ersparnissen Schnaps aus und hörte fasziniert dem lallenden Müller bei der Beschreibung Trojas und seiner Umgebung sowie des gewaltigen Schatzes des Königs Priamos zu.  

Zweite Karriere als Forschungsreisender

Nach Abschluss seiner Lehre schiffte sich der bitterarme Schliemann 1841 in Hamburg auf ein Auswandererschiff in die USA ein. Doch er kam nur bis vor die niederländische Insel Texel – dort sank sein Schiff. Nach seiner Rettung lebte er unter prekären Umständen in Amsterdam, wo er bemerkte, über eine Begabung zu verfügen: Binnen eines Jahres lernte er nicht nur Niederländisch, sondern auch noch Portugiesisch, Spanisch und Italienisch. Bald fand er eine Stellung in einem Handelskontor, das man sich so vorstellen kann, wie von Thomas Mann in den „Buddenbrooks“ beschrieben. Mann machte in seinem Roman deutlich, dass ein Aufstieg in diesem Kaufmannsmilieu in aller Regel keine Frage von Jahren, sondern von Generationen war. Gleichwohl wurde Schliemann rasch befördert und 1846 in die russische Niederlassung seines Arbeitgebers entsandt – denn auch Russisch hatte er rasch gelernt. Doch nur ein Jahr später kündigte Schliemann und gründete sein eigenes Handelskontor, bald als russischer Staatsbürger. Durch Fleiß, Geschick und gute Fügungen wurde der Kaufmann bald märchenhaft reich. Bis dahin lief die Karriere Schliemanns so, wie sie in unendlich vielen Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Geschichten erzählt wurde. Nur, dass Schliemann nicht in den USA als Kaufmann arbeitete, sondern in Europa, wo dieser Aufstieg durch soziale Schranken bedingt kritisch beäugt wurde.  

Dennoch verhielt sich Schliemann anders als die reichen Aufsteiger seiner Zeit. 1856 bereitete sich der 34-Jährige auf den Ruhestand vor. Und zwar nicht, um fortan dem Müßiggang in Luxus zu frönen, sondern um sich weiterzubilden. Er lernte Latein und Altgriechisch und ging ab 1864 auf ausgedehnte Studienreisen, unter anderem nach China und Japan. Noch heute faszinieren seine Beschreibungen der dortigen Bauwerke und Gesellschaftsstrukturen. Diese beschrieb er in einem Buch, das nach seinem Literatur-, Sprach- und Archäologiestudium an der Sorbonne ab 1866 im Jahr 1869 an der Universität Rostock ein Bestandteil seiner Promotion wurde. Ein Jahr zuvor hatte Schliemann seine erste Forschungsreise angetreten. Mit seinem Homer im Gepäck bereiste er jene Teile des Osmanischen Reiches, die seit der Antike als griechisch galten. Homers Landschaftsbeschreibungen in der Ilias überzeugten ihn davon, dass der US-Archäologe Frank Culvert recht gehabt haben musste, als er das antike Troja unter der von der Osmanen Hisarlık (türkisch für Burghügel) genannten Formation vermutete. Er beantrage eine Grabungserlaubnis, reiste in die USA, wurde Staatsbürger. Ab 1871 grub sich Schliemann durch den Hisarlık. 

Der Schatz des Priamos

Am 31. Mai 1873 entdeckte er in einem von ihm als „Palast des Priamos“ interpretierten Haus einen gewaltigen Schatz, der als „Schatz des Priamos“ weltbekannt wurde. Heute herrscht der wissenschaftliche Konsens, dass Schliemann tatsächlich Troja gefunden hat. Aus dem deutschen Wissenschaftsbetrieb blies Schliemann ein kritischer Wind ins Gesicht: Konnte ein Kaufmann, der erst im Alter von 47 Jahren promoviert worden war, seriöse wissenschaftliche Ergebnisse erzielt haben? Im Vereinigten Königreich hingegen wurde er für seine Leistungen nicht nur von Altertumswissenschaftlern gefeiert – er wurde von Premierminister William Ewart Gladstone mit einer Laudatio begrüßt. Der Schatz des Priamos wurde in London genauso bestaunt wie später in Berlin. Allerdings hatte Schliemann den Grabungsvertrag mit der osmanischen Regierung „falsch verstanden“ und „vergessen“, dieser die vereinbarte Hälfte abzutreten. Es folgte ein Prozess in Athen, und Schliemann erwarb mit der Zahlung eines Vergleichsbetrags den vollständigen Schatz von der osmanischen Regierung.  

Doch das hinderte weder Schliemann, weiteren Städten aus Homers Epos nachzuspüren, noch die türkische Regierung, ihm dafür weitere Grabungslizenzen zu erteilen. Nach Troja grub Schliemann unter anderem in Mykene. Dort fand er abermals einen gewaltigen Goldschatz, darunter die Goldmaske des Agamemnon. Der Schatz wurde der griechischen Regierung übergeben, die ihn bis heute ausstellt.

Von Rudolf Virchow gefördert

Ab 1877 wurde Schliemann schließlich auch im Deutschen Reich langsam Anerkennung zuteil. Zu seinen Förderern gehörte Rudolf Virchow, der ihn bei weiteren Grabungen in Troja ab 1878 zeitweise begleitete. Unterstützt von dem Baumeister Wilhelm Dörpfeld, der einer der berühmtesten deutschen Archäologen werden würde, zeigte Schliemann eine deutliche Lernkurve in seinen Grabungstechniken und begründete schließlich Verfahren, die heute noch angewandt werden. Seine frühen Grabungstechniken sind in der Tat aus archäologischer Sicht sehr kritikwürdig. Andererseits darf nicht vergessen werden, dass Schliemann Neuland betrat. Zwar hatte es schon vorher Ausgrabungen gegeben. Dabei handelte es sich aber in aller Regel nur um die Entnahme einzelner, zumeist wertvoller Artefakte. Die Herangehensweise, das gesamte Grabungsareal zu dokumentieren, war neu. Ebenso neu war die von Schliemann belegte Erkenntnis, dass Homers Illias nicht nur eine Sage war, sondern oftmals eine detailgenaue Beschreibung von Landschaften und Bauwerken, die der Autor selbst gesehen haben muss. Als Ausgräber der ersten bronzezeitlichen Siedlung außerhalb Mesopotamiens und Ägyptens hat Schliemann ebenso Neuland betreten wie bei der Präsentation seiner Forschungen über die museale Ausstellung hinaus: 1874 erschien sein „Atlas trojanischer Alterthümer“, der in kaum gekannter Weise mit Fotografien der Ausgrabung bebildert war – und so all jenen, die nicht in Museen reisen konnten, einen bildlichen Eindruck vermittelte, wie er arbeitete und was er fand.  

1881 schenkte Schliemann seine „Sammlung trojanischer Alterthümer“ nach deren Ausstellung in London „dem deutschen Volk“ – sie wurde in Berlin ausgestellt, bis sie 1945 von der Roten Armee verschleppt wurde. Heute liegt diese Raubkunst im Moskauer Puschkin-Museum. Wer heute eifrig die Rückgabe des von Schliemann zur Hälfte durch Vertrag, zur Hälfte durch Zahlung erworbenen Schatzes nach Griechenland fordert, muss also erst einmal an der Pforte des Kreml anklopfen – und dort erfahren, dass der deutsche Zeitgeist nicht überall auf der Welt gleichermaßen Einlass findet.  

Den Preis voll bezahlt

Als Heinrich Schliemann Ende 1896 hochgeehrt starb, wurde sein Leichnam nach Athen überführt und in einem prächtigen Mausoleum beigesetzt. In seiner Zeit hatte Schliemann ein ungewöhnliches und erfolgreiches Leben geführt, das im heutigen Wertekanon noch weit heller strahlt. Auch hat er bei den genannten Grabungen eine Genehmigung der zuständigen Regierung gehabt. Zudem hat er für jenen Teil des Schatzes des Priamos, der der osmanischen Regierung zugestanden hätte, den geforderten Preis voll bezahlt. Er hat darüber hinaus wichtige Impulse für die Archäologie gegeben und vor allem ein öffentliches Bewusstsein für die Notwendigkeit und die Möglichkeiten dieser Wissenschaft geweckt. Damit hat Schliemann dazu beigetragen, ein Bewusstsein für die antiken Hochkulturen zu schaffen, vor allem im griechischen Teil des damals rückständigen und wenig entwickelten Osmanischen Reiches.  

Die heutige Kritik an Schliemann wirkt in Anbetracht von dessen Gesamtlebensleistung oftmals überzogen und verstellt den Blick dafür, dass Schliemann nicht nur Ausgräber war, sondern die Magie des Möglichen in die Fantasie unzähliger Kindergenerationen gebracht hat, die seine Biographie verschlungen haben – ohne sich deshalb notwendigerweise ein Wertesystem des 19. Jahrhunderts anzueignen. Heute würde man Schliemann zweifelsfrei auf dem Bahnhof King’s Cross graben sehen, an einem Pfeiler auf dem Bahnsteig des Gleises 9¾.  

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