Heiligabend in der Kirche - Aufruf zur Mitmenschelei

Am Heiligabend strömen die Menschen wieder in die Kirchen, um sich den tieferen Sinn des Weihnachtsfestes erklären zu lassen. Doch die Predigten werden politisch instrumentalisiert. Hat sich Jesus wirklich mit Geflüchteten identifiziert?

Aber bitte mit Moralin: die Weihnachtspredigt als Rührstück / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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In drei Tagen ist es wieder so weit: Der Heiligabend leitet die Weihnachtstage ein. Und weil sich viele daran erinnern, dass Weihnacht kein Fest der Rentiere, Schlitten oder roten Zipfelmützen ist, sondern ursprünglich mal einen christlichen Hintergrund hatte, werden sich Menschenschlangen vor den Gotteshäusern bilden, und mancher Besucher wird den Christgottesdienst im Stehen verbringen, weil die Kirchen aus allen Nähten platzen.

Schließlich wird die Orgel erdröhnen, man wird die altbekannten Lieder singen und die Weihnachtsgeschichte in der Version des Lukas vortragen. Und dann kommt irgendwann der unvermeidliche Moment, an dem der Pfarrer (oder die Pfarrerin) auf die Kanzel tritt und seinem (oder ihrem) eher glaubensfernen Publikum versucht, den tieferen Sinn des Weihnachtsfestes nahezubringen.

Die Weihnachtspredigt als Rührstück 

Im besten Fall folgen nun Gedanken über die Tiefendimension, die dieses Fest hat, über seine Bedeutung für jeden Einzelnen, für seine Haltung zum Leben, zu grundlegenden Sinn- oder Orientierungsfragen. Etwa darüber, wie hier symbolisiert wird, dass der Mensch an der Gnade Gottes ohne je Vorleistung teilhat, dass – säkular ausgedrückt – ein gelungenes Leben keine Leistungsshow ist. Oder dass nicht Gebotsgehorsam und Moral einen Menschen ausmachen, sondern dass der Mensch ohne jede Bedingung ein vollwertiger Mensch ist.

Aber weil die Kirchen ihrer eigenen Botschaft nicht mehr trauen, wird man wie jedes Jahr die subtile Botschaft der Weihnachtsgeschichte in ihr rührseliges Gegenteil verkehren. Man wird sie umdeuteln zu einer penetranten Moralschmonzette und zu einem einfältigen Lehrstück in politischer Korrektheit. Ohne weitere Rücksicht auf den historischen Bezugsrahmen wird man die Weihnachtsgeschichte gnadenlos zu einem infantilen Rührstück modernisieren.

Wo steht, dass uns Jesus im Fremdem begegne? 

Die Marschrichtung geben dabei die jeweiligen Konfessionsoberen vor: Jorge Bergoglio etwa verkündete im vergangenen Jahr, die zentrale Botschaft von Weihnachten sei, „dass wir alle Geschwister sind“ und pries die Verschiedenheit. Vermutlich hat der derzeitige Papst diese Einsicht direkt vom Heiligen Geist empfangen – in der Weihnachtsgeschichte findet sie sich nicht.

Noch deutlicher äußerten sich zum letzten Weihnachtsfest die protestantischen Kirchen. Sie baten im Geiste der Weihnacht „für eine gastfreundliche und inklusive Gemeinschaft in Europa zu arbeiten und zu beten“. Das Kind in der Krippe symbolisiere, dass jeder Mensch nach Gottes Ebenbild geschaffen sei, weshalb keine Person oder Gruppe ein Problem werden könne. Auch Jesus sei ohne Zuhause geboren und Opfer einer Gewaltherrschaft. Er identifiziere sich mit Flüchtlingen und Unterdrückten. Mehr noch: Im Fremden begegne uns Jesus. Wo genau man diese Einsichten in der Weihnachtsgeschichte findet, wird ein ewiges Geheimnis der EKD-Verantwortlichen bleiben.

Gnadenlose Fehlinterpretation

Es ist immer dieselbe Leier: Durch eine gnadenlose Fehlinterpretation wird der biblische Text auf eine allzu weltliche Ideologie hingebogen. Aus der Erlösungstat wird die Vermenschlichung, aus metaphysischer Gnade ein Aufruf zur Mitmenschelei. Theologisch ist das Unsinn. Und da die Theologie das Fundament des Christentums ist, beschädigt man so die Religion selbst und nimmt ihr jede Tiefendimension. 

Das sich an diesem Kurs etwas ändern wird, kann man ausschließen. Zu sehr haben sich die tragenden Milieus inzwischen selbst eingekapselt. Die schrumpfenden Kirchen werden nach innen immer homogener. Gleiches gilt für den theologischen Nachwuchs: Worauf man insbesondere im Protestantismus einmal so stolz war, das hohe wissenschaftliche und intellektuelle Niveau, droht zu schwinden. Es bleiben die Rührseligen und Empfindsamen. 

Platte Gesellschaftspolitik

Der Weihnachtsgottesdienst wäre eigentlich eine gute Gelegenheit, kirchenfernen Menschen zu zeigen, dass theologische und religiöse Fragen auch sie unmittelbar angehen. Aber diese Chance wird man auch in diesem Jahr wieder ganz überwiegend verschenken zugunsten platter Gesellschaftspolitik und einer moralinsauren Umdeutung der Weihnachtsbotschaft. Bleibt eine angemessene Alternative. Selber mal wieder in der Bibel zu lesen. In diesem Sinne: Allen Lesern ein frohes Weihnachtsfest!

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