Großer Zapfenstreich mit „Farbfilm“-Song - „Es passt zu Merkels verschmitztem Humor“

Bundeskanzlerin Angela Merkel wünscht sich den Nina-Hagen-Schlager „Du hast den Farbfilm vergessen“ zu ihrer Verabschiedung beim Großen Zapfenstreich. Matthias Neumann, der ehemalige Bassist von Nina Hagen, berichtet im Interview, was er von dieser Musikauswahl hält – und wie der Song zu DDR-Zeiten überhaupt entstanden ist.

Großer Zapfenstreich für Merkel mit DDR-Schlager / dpa
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Jonas Klimm studierte Interdisziplinäre Europastudien in Augsburg und absolvierte ein Redaktionspraktikum bei Cicero.

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Matthias Neumann war viele Jahre evangelischer Pastor im Hamburger Stadtteil Othmarschen. Vor seiner Ausbürgerung aus der DDR spielte Neumann als Bassist zusammen mit Nina Hagen in der Band „Automobil".

Herr Neumann, was machen Sie heute Abend um 19.30 Uhr?

Vielleicht gehe ich auf den Hamburger Weihnachtsmarkt. Wer weiß, wie lange der noch auf hat (lacht).

Sie wollen nicht den Großen Zapfenstreich für Angela Merkel sehen? Schließlich steht das Lied „Du hast den Farbfilm vergessen“ Ihrer ehemaligen Band „Automobil“ auf dem Programm.

Ich habe schon eine Probe von dem Blasorchester gesehen, war ganz ordentlich, was die da gemacht haben.

Das Musikkorps der Bundeswehr zeigte sich sehr überrascht von Merkels Auswahl. Der „Farbfilm“-Song musste für Blasorchester neu arrangiert werden.

Das kann ich mir gut vorstellen. Ich hatte mit dem Komponisten Michael Heubach gesprochen, und der sagte, das sei für ihn sehr erstaunlich, wie das Bundeswehr-Orchester das hinbekommt, dass der Sound so gut entsteht.

Matthias Neumann / Foto Heubach

Wie sehr waren Sie denn von Merkels speziellem Liedwunsch überrascht? Nina Hagen meinte, sie habe die Nachricht zunächst für eine „Fake-Meldung“ gehalten.

Ich fand das zunächst mal völlig abartig, weil ich eher etwas Getragenes erwartet hatte. Nach einigem Nachdenken fand ich aber, dass das eine großartige Idee ist. Es passt einfach zu Merkels verschmitztem Humor.

Möchte die scheidende Kanzlerin nicht auch eine Botschaft damit senden?

Ich glaube, es war ein Lied, das Merkel einfach gefallen hat. Die ganze DDR-Rockmusik leidet normalerweise an zu viel Pathos. Das hat unser „Farbfilm“-Lied ja überhaupt nicht, das war von Beginn an als ironischer Song gedacht.

Ironie kam bei der SED-Führung nicht gut an.

Absolut, Ironie funktionierte immer nur in der eigenen Familie. Ich war damals auch sehr erstaunt, dass das Lied so ein Knaller wurde. Das hat uns mit der Band in eine völlig andere Richtung geschmissen, wo wir eigentlich gar nicht hinwollten.

In welche Richtung?

Wir wurden plötzlich als Klamauk-Kapelle durchgereicht. Wir haben den „Farbfilm“ ja auch beim Stasi-Betriebsvergnügen im Hotel Berolina gespielt und beim Ministerrat. Das war alles schrecklich.

Haben die Oberen den ironischen Subtext nicht verstanden?

Nee, die waren ja doof (lacht). Und Nina (Hagen, Anm. d. Red.) hat dazu natürlich noch ihre Faxen gemacht. Eigentlich waren wir ja als RnB- und Funk-Band gestartet. Den „Farbfilm“ haben wir nachts eingespielt, weil wir einfach noch ein bisschen Zeit im Funkhaus hatten. Dann haben wir gedacht, machen wir das Lied halt auch noch. Wir haben zusätzlich noch Gags eingebaut, es war sehr lustig.

Wie kann man sich das vorstellen: in einer Band auf Tournee mit Nina Hagen, dem Inbegriff des Punk und des Extravaganten?

Sie ist ein hochdifferenziertes Menschenkind, aus der Rubrik „Genie und Wahnsinn“. Es war schon anstrengend mit ihr. Man konnte sich abends lange mit ihr unterhalten, und am nächsten Tag hat sie sich gar nicht mehr daran erinnert. Nicht weil sie besoffen war, sondern weil ihr dann etwas anderes eingefallen ist. Sie hatte ganz viele Impulse. Ich mochte sie aber sehr gerne. Sie hat auch immer bei mir übernachtet, wenn wir in Leipzig geprobt haben. Ich fand sie großartig als Künstlerin. Als Frau interessierte sie mich nicht so sehr (lacht). Es machte wahnsinnig viel Spaß, mit ihr auf der Bühne zu sein, es gab tolle Momente, wo sie einfach großartige Sachen gesungen hat.

Haben Sie heute noch Kontakt zu Nina Hagen?

Wir hatten ab und zu mal Kontakt, nachdem sie fromm geworden war. Denn ich bin ja Pastor, und auch wenn ich seit fast zehn Jahren im Ruhestand bin, arbeite ich noch als Urlaubs- und Kreuzfahrtseelsorger. Natürlich läuft einem auch da der „Farbfilm“ ständig hinterher.

Inwiefern?

Ich werde häufig darauf angesprochen. Als ich aus meinem Beruf verabschiedet wurde, stand beispielsweise im Hamburger Abendblatt: „Der Pastor, der mit Nina Hagen rockte“.

„Du hast den Farbfilm vergessen“ ist das populärste Lied der Band „Automobil“ geworden, oder?

Absolut, das war der totale Querschläger. Wir wären lieber mit hoher Kunst berühmt geworden, aber das hat irgendwie nicht geklappt. Der „Farbfilm“ war eine indirekte Anklage an die DDR und die Sehnsucht, dass man das Leben gerne ein bisschen bunter hätte, als man es in den Neuen Deutschland-Lettern lesen konnte. Die DDR mit ihrer gruseligen Ästhetik, die total humorlos war. Die Ironie vom „Farbfilm“ haben die SED-Leute Gott sei Dank nie verstanden.

Sie haben erzählt, dass Sie auch mal ein Konzert für Erich Honecker im Rahmen eines „Betriebsvergnügens“ geben mussten und sich dafür sehr geschämt haben. Die Situation stelle ich mir völlig absurd vor.

Ja, das war irre. Die hatten bei solchen Anlässen immer eine bestimmte Liturgie. Erst gab es ein Streichquartett von der Staatsoper, dann eine Operettentussi, dann einen Äquilibristen, und wir waren zum Schluss immer der Knaller.

Nina Hagen und Automobil / privat

Die anderen waren also Ihr Vorprogramm, auf „Automobil“ wurde gewartet.

Genau, so war das. Zunächst kam das Pflichtprogramm, und wir waren die Kür. Von den SED-Leuten beklatscht und belobigt zu werden, war natürlich hammerhart.

Hat Erich Honecker Sie einmal persönlich angesprochen?

Nee, aber mit Egon Krenz habe ich gesprochen. Wir sind von dem Stasi-Betriebsvergnügen zurückgefahren und standen plötzlich mit Egon Krenz im Aufzug, der war ziemlich angeschickert. Nina war auch dabei und sagte dann: „Na, Jenosse Krenz, du siehst ja, so jefährlich sind wir jar nicht.“ Unser Manager hat uns immer bequatscht, dass wir so einen Mist machen und bei solchen Vergnügungen spielen, weil wir dachten, dass die uns dann mal aus der DDR rauslassen. Und ich wäre natürlich sofort abgehauen. Genosse Krenz sagte dann: „Bürgerin Hagen, wenn Sie Ihre Stellung zu dem Staatsfeind Biermann geklärt haben, dann können wir nochmal darüber reden.“ Wir waren natürlich perplex, für mich war das der Moment, wo ich für mich sagte: „Jetzt ist Schluss.“

Das heißt, die SED-Führung hat von Ihnen erwartet, sich öffentlich von Biermann zu distanzieren.

Im November 1976 hatte Biermann ein Konzert in Köln, ich war damals in Leipzig. Da begleiteten mich sechs bis acht Leute von der Stasi, denen ich immer sagte, wo ich hinfahre, damit die sich nicht in der Stadt verirren (lacht). Andere Leute im Dunstkreis von Biermann hat die Stasi in den Knast stecken lassen, mich haben sie über den Zaun geworfen. In meiner Stasi-Akte stand „feindlich-negatives Element“. Das ist der Ritterschlag von den Idioten.

Haben Sie aus dem Westen eigentlich Reaktionen auf Ihren Hit erhalten?

Nee, gar nicht. Einmal waren wir zu einem Schlagerfestival im Kulturpalast in Dresden, und da belegten wir mit Publikumswertung den ersten Platz. Dann rief das Büro von Honecker an und teilte mit, dass das nicht ginge. Deshalb sind wir nur auf dem zweiten Platz gelandet. Hintergrund war wieder, dass wir uns im Dunstkreis von Wolf Biermann bewegten.

1976 hat Sie die SED-Führung ausreisen lassen. Verlief das unproblematisch?

Ich habe dann noch etwas gewartet und als Rettungssanitäter gearbeitet. Das war nochmal die Möglichkeit, die DDR von innen zu sehen und zu erkennen, was es dort für ein katastrophales Gesundheitssystem gab. Heute belobigen irgendwelche Leute das DDR-Gesundheitssystem, wir hatten aber nicht mal Spritzen oder genügend Betten. Wer einen Schlaganfall hatte und über 60 war, wurde an den Hausarzt überwiesen. Das hat mich endgültig zum Staatsfeind gemacht.

Sie gingen dann nach Hamburg und haben dort Ihr bereits begonnenes Theologiestudium mit einem Examen abgeschlossen. Konnten Sie ihre musikalische Karriere emotional einfach hinter sich lassen?

Ich habe noch eine Weile mit Tony Sheridan Musik gemacht, der den Beatles die Gitarrengriffe beigebracht hatte. Ich habe auch noch Gospelchöre gegründet und mit dem Kontrabass klassische Konzerte gespielt. Ich habe immer Musik gemacht und mache es auch heute noch, aber nicht für Geld.

Aber das hauptberufliche Leben als Musiker: Haben Sie das nicht etwas vermisst, vielleicht auch das Exzessive daran?

Irgendwann war es dann gut. Wenn Sie in einer Band spielen, kommt einer immer zu spät, der andere ist ständig besoffen, der dritte braucht Geld. Es klingt zwar etwas karikaturartig, aber so war es. Es war eine Ära, nach der ich auch dachte, nun ist es genug.

Wie sieht Ihr Leben heute im Ruhestand aus? Spielen Sie noch?

Ja, ich spiele in einer katholischen Kirchenband. Das sind alles prima Musiker. Ansonsten habe ich sechs Enkelkinder und bin seit 42 Jahren verheiratet. Außerdem gurke ich gerne in der Welt herum, zuletzt drei Monate in Italien. Ich hatte nie Heimweh, immer nur Fernweh. Das verdanke ich natürlich den Ochsen in der DDR, weil die einen so lange eingesperrt hatten. Ich freue mich, dass ich so viel Welt kennenlernen durfte. Es werden ja nicht alle Leute dümmer, wenn sie in der Welt rumfahren.

Selten.

Ja (lacht). Von daher bin ich sehr zufrieden mit dem, was in meinem Leben passiert ist. Manchmal gucke ich zurück und denke mir, dass wir in der Band „Automobil“ gute Musik gemacht haben.

Mit einem Augenzwinkern gefragt: Wie wahrscheinlich ist eine Reunion von „Automobil“ angesichts des besonderen Anlasses mit dem Zapfenstreich für Angela Merkel?

Es sind ja auch Leute aus der Band schon gestorben. Nina hatte vor vielen Jahren gefragt, ob wir nicht wieder zusammen Musik machen wollten. Da habe ich aber doch etwas zurückhaltend reagiert. Die Zeit ist vorbei, und es wäre dann doch etwas anstrengend.

Die Fragen stellte Jonas Klimm.

 

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