Neue Gerechtigkeitsformel - Gleiches Unrecht für alle?

Es gibt zwei Wege zur Gleichheit: Auf dem einen werden die Benachteiligten unterstützt, auf dem anderen nimmt man den Bessergestellten ihre Privilegien. Weg eins beschreibt eine gesellschaftliche Utopie, Weg zwei eine Dystopie. In der Antirassismus-Bewegung wird letztere Methode gerade erschreckend real.

Kamala Harris / dpa
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Autoreninfo

Judith Sevinç Basad ist Journalistin und lebt in Berlin. Sie studierte Philosophie und Germanistik und volontierte im Feuilleton der NZZ. Als freie Autorin schrieb sie u.a. für FAZ, NZZ und Welt. Sie bloggt mit dem Autoren-Kollektiv „Salonkolumnisten“. 

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In der Zukunftsdystopie „Harrison Bergeron“, einer Kurzgeschichte von Kurt Vonnegut aus dem Jahr 1968, wird die Idee des Marxismus ad absurdum geführt: Nicht nur das Privateigentum aller Bürger ist in dem fiktiven Staat gleich verteilt, sondern auch deren kulturellen und psychologischen Ressourcen. So werden intelligente Menschen mit Kopfhörern ausgestattet, die in regelmäßigen Zeitabständen durch laute Töne die Gedanken der Menschen unterbrechen. Andere müssen Masken tragen, um ihre Schönheit zu verbergen. Und athletische Menschen bekommen Gewichte um den Hals gebunden, damit sie niemanden mehr physisch überlegen sein können.

Die Logik, die hier verfolgt wird, ist einfach: Um die absolute Gleichheit zu erreichen, werden benachteiligte Menschen nicht etwa unterstützt. Vielmehr nimmt man denjenigen, die vermeintlich besser gestellt sind, die „Privilegien“ weg. Es ist genau dieses Prinzip der Missgunst, das sich gerade in der Antirassismus-Bewegung breit macht – von der sich auch die mächtigsten Politiker der Welt beeinflussen lassen.

Mit Gesetzen gegen die Ungleichheit

Nehmen wir etwa die Gleichstellungspolitik des amerikanischen Präsidenten Joe Biden und der Vizepräsidentin Kamala Harris. Zu einer der ersten Amtshandlungen Bidens zählte die Verabschiedung mehrerer „Executive Orders“, mit denen Rassismus und Diskriminierung in den USA verhindert werden sollen. Der Demokrat machte etwa Trumps „Muslim Ban“ rückgängig, der Muslime die Einreise in die USA verwehrte, und hob das Transgender-Verbot im Militär auf. Wichtige Schritte. Und auch die Maßnahmen, mit denen Biden die benachteiligten Communitys der Afroamerikaner, Latinos, Asiaten und Indigenen ideell und finanziell unterstützen will, sind nur gerecht.

Aber der Teufel steckt im Detail. So tauchen bei Biden und Harris immer wieder zwei Begriffe auf, die einem zu denken geben sollten: „systemic racism“ (systemischer Rassismus) und „equity" (Gleichstellung oder Gerechtigkeit). Die Begriffe „Equality“ und „equity“ hören sich wie Synonyme an, aber das sind sie nicht. Denn die Politiker verwenden diese Begriffe ganz gezielt, was man auch daran merkt, dass sich die Demokraten bei ihren Reden häufig versprechen, indem sie erst von „equality“ reden und sich dann mit „equity“ korrigieren. Kurz: Mit dem Begriff „equity“ wird eine ganz spezielle Agenda verfolgt, die mit einem ganz spezifischen Weltbild einhergeht.

Die Struktur der Ungerechtigkeit

So kommt der Begriff „systemischer Rassismus“ aus den Social-Justice-Disziplinen, wie den Gender Studies, Postcolonial Studies oder Queer Studies., die vor allem an amerikanischen Unis gerade „trenden“. Sie alle gehen von der gleichen Grundannahme aus: Dass der Kolonialismus als historisches Ereignis so tiefgreifend war, dass der dort praktizierte Rassismus als „Struktur“ oder „System“ bis heute die westlichen Kulturen beherrscht. Vor allem Weiße sind von diesem Rassismus unterbewusst gesteuert, sodass sie nicht in der Lage sind, die eigene Menschenverachtung zu erkennen. Oder anders gesprochen: Alle Weißen sind Rassisten, die man entweder durch spezielle Antirassismus-Seminare umerziehen oder in speziellen Lebenslagen benachteiligen sollte.

Und das wird von den Aktivisten, die gerade als internationale Bestseller-Autoren gefeiert werden, explizit gefordert. Da gibt es etwa Ibrahim X. Kendi, der in seinem Buch „How to be an Antiracist“ behauptet, dass man Diskriminierung nur mit Diskriminierung beseitigen könne. Andere Koryphäen aus dieser „Forschung“ wie Robin DiAngelo betrachten das Weißsein als eine Erbsünde, die man nur angehen könne, wenn sich Weiße permanent in Demut üben.

Heilung durch Gleichstellung

Kurz: Der Begriff „systemischer Rassismus“ ist problematisch. Denn er geht mit einem ganzen Theoriegebäude einher, das – wenn man den Wortführern dieser Bewegung glaubt – im Kern einer rassistischen Logik folgt. Es ist daher atemberaubend, dass dieser Begriff nun in der Politik des mächtigsten Mannes der Welt auftaucht. „Unsere Seele wird gequält bleiben, solange der systemische Rassismus existiert“, erzählte Biden, als er am Dienstag die Executive Orders unterzeichnete. Bidens Beraterin Susan Rice erzählte zuvor, dass das Voranbringen der „Equity“ ein „kritischer Bestandteil“ dafür sei, die „Nation zu heilen“ und „ihre Einheit“ wieder herzustellen.

Die „equity" ist also zwingend notwendig, um den „systemischen Rassismus“ auszumerzen. Genau das machte auch Kamala Harris im Herbst letzten Jahres in einem Twitter-Video deutlich, in welchem sie den Unterschied zwischen „equity“ und „equality“ erklärt. In der Animation werden eine schwarze und weiße Person gezeigt, die mit Hilfe eines Seils einen Berg hochklettern. Der Boden, auf dem die schwarze Person steht ist jedoch tiefer, sodass sie das Seil nicht erreichen kann. „Equality“ – also Chancengleichheit – reiche nicht aus, um den Unterprivilegierten zu helfen, erklärt Harris dort. „Equity“ bedeute dagegen, dass man allen die gleichen Startvoraussetzungen gebe. Das Video endet romantisch: Der Boden des Schwarzen hebt sich, sodass er das Seil erreichen und den Berg erklimmen kann, um neben der weißen Person den Sonnenuntergang zu betrachten.

Zu intelligent für die Uni

Ein Blick auf die aktuelle Gleichstellungspolitik in den USA zeigt, dass Harris friedlicher Traum einer gerechteren Welt wenig mit der Realität zu tun hat. Da gibt es etwa die Brentwood School in Los Angeles, die ein besonderes Augenmerk auf Inklusion und Diversität legt. Auf ihrer Homepage lädt sie zum „Dialog“ und zur „Community-Bildung“ ein: eine Veranstaltungsreihe, die Seminare anbietet, in denen Schüler, Familien und Lehrer aufgrund der Hautfarbe und Herkunft voneinander getrennt werden. „Thursday, January 28, 2021: White Faculty – Black Faculty“ liest man dort. Und: „White Staff – Black Staff. White Parents and Familys – Black Parents and Familys“. Genannt werden diese Maßnahmen übrigens „Racial Equity Initiative“. Ist das die neue „Einheit“, die mit der „equity“ erreicht werden soll?

Eine ähnliche Politik kann man an der Universität Harvard beobachten. Dort verklagten asiatische Studenten im Jahr 2014 die Elite-Uni, weil Studienbewerber im Zuge der Gleichstellungsstrategie „affirmative action“ mitunter anhand der „Rasse“ ausgewählt werden. Bewerber mit asiatischen Wurzeln hätten im Schnitt exzellente Qualifikationen, so lautete die Kritik, was im Widerspruch zu der geringen Repräsentation der Bevölkerungsgruppe in der Ivy-League-Uni stünde. Auch hier stellen sich Fragen: Sind die asiatischen Studenten zu kompetent und werden deswegen nicht angenommen? Und sind das die Maßnahmen, mit denen in Zukunft der „systemische Rassismus“ verhindert werden soll? 

Männer üben Verzicht

Aber viel wichtiger: Ab wann ist „equity“ überhaupt erreicht? Eine Antwort gab Kamala Harris in ihrem Twitter-Video: „Equitable treatment means we all end up at the same place“. Sprich: Erst, wenn alle Bevölkerungsgruppen in allen erdenklichen Lebenslagen de facto gleichgestellt sind, leben wir in einer gerechteren Welt. Das lässt sich aber nur erreichen, wenn man Menschen per Gesetz und qua Hautfarbe und Herkunft mehr oder weniger Rechte zukommen lässt – was zwangsläufig in einem Szenario wie in „Harrison Bergeron“ enden würde.

Vor ein paar Monaten veröffentlichte die „taz" einen Artikel unter der Überschrift „Man muss auch mal verzichten“. Vor allem Weiße und Männer würden allein aufgrund ihrer Hautfarbe und ihres Geschlechtes Vorteile genießen, liest man hier, weswegen „die Privilegierten“ häufiger auf Jobs oder Beförderungen verzichten sollten. Notfalls, so heißt es weiter, solle man diesen Gruppen die Privilegien „ohne Rücksicht“ wegnehmen. Das kann man nicht ernsthaft wollen.

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