Gesundheitsgefahr Klimawandel - Wiesbaden wird wie Lugano

Nach dem heute vorgestellten jüngsten Weltklimabericht des IPCC wird der angestrebte Klimaschutz nicht reichen. Starkniederschläge mit einer weiteren Klimaerwärmung werden laut Weltklimarat intensiver und häufiger. Wussten Sie, dass es 27 Wege gibt, wie Sie eine Hitzewelle umbringen kann?

Ein Löschflugzeug über dem Grandview Fire nahe Sisters, Oregon, USA, Juli 2021 / dpa
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Katja Trippel ist freie Wissenschaftsjournalistin. Sie hat das Buch „Überhitzt - Die Folgen des Klimawandels für unsere Gesundheit“ geschrieben (zusammen mit Claudia Traidl-Hoffmann im Dudenverlag).

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Anfang September 2019, ein kleiner Ort bei Leipzig. Die letzten Sommerferientage waren noch mal richtig heiß gewesen, über 30 Grad. Dann ging die Schule wieder los – und bei Hausärztin Silvia Bittner rollte eine seltsame Krankheitswelle an. Mehrere Patientinnen und Patienten klagten über hohes Fieber, Gliederschmerzen und rote Pickel, die sich über Oberkörper und Arme zogen. „So was sieht man nicht alle Tage“, erinnert sie sich. „Also fuhr ich das ganz große Labor, mit Bluttest auf Geschlechtskrankheiten, Masern und so weiter. Leider ohne erhellendes Ergebnis.“ 

Wenige Wochen später entdeckte Ärztin Bittner in ihrer Handy-App eine überraschende Schlagzeile: „Vogel mit West-Nil-Virus in Sachsen gefunden.“ Sie stutzte, googelte, entdeckte Fotos von toten Sing- und Greifvögeln, las, das Virus sei von Stechmücken auf Menschen übertragbar, fand schließlich Fotos von Ausschlägen, die ihr ziemlich bekannt vorkamen. Sie rief erneut beim Labor an. „Die haben erst mal geschmunzelt. Aber ich insistierte: Lassen Sie meine Proben bitte auf das West-Nil-Virus testen!“ Ein paar Tage später klingelte ihr Telefon Sturm: das Labor, das Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin aus Hamburg, das Gesundheitsamt. „Tja. Ich war auf der richtigen Spur gewesen. Das ist das Schönste am Beruf der Haus­ärztin: der Miss-Marple-Teil.“

Die größte medizinische Gefahr

Detektivischer Spürsinn à la Miss Marple – bei Medizinern wie auch bei Patienten wird er wichtiger denn je. Denn mit den steigenden globalen Temperaturen tauchen auch hierzulande auf einmal Krankheiten und Symptome auf, mit denen die wenigsten Erfahrungen haben, unter denen aber mehr und mehr Menschen leiden werden. „Der Klimawandel bringt nicht nur Eisberge zum Schmelzen und Felder zum Verdorren“, sagt Claudia Traidl-Hoffmann, Professorin an der Medizinischen Fakultät der Uni Augsburg und Leiterin des Helmholtz-Zentrums für Umweltmedizin. „Wir spüren ihn bereits am eigenen Leib. Er greift unsere Gesundheit an, auf vielseitige Weise.“ Das Ärztenetzwerk Marburger Bund bezeichnet die Erd­erhitzung gar als „die größte Gefahr für die Gesundheit der Menschen heute und in der Zukunft“.

Missernten und Wassermangel wie im globalen Süden sind in unseren Breiten (noch) nicht das Problem – auch wenn Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) Anfang Juni vor versiegenden Trinkwasserressourcen warnte: „Wasser wird regional und zeitlich nicht mehr so verfügbar sein, wie wir es gewohnt sind.“ Doch auch so ist die Liste der gesundheitlichen Auswirkungen erschreckend lang. Erst seit kurzem aber gelangt das Wissen über sie aus der Forschung in die Arztpraxen, in die Politik und zu den Menschen, die am stärksten betroffen sind: Kleinkinder, Ältere und Vorerkrankte. 

Erschreckende Konsequenzen

Ganz oben auf der Risikoskala steht die zunehmende Hitze, die wir dieses Jahr bereits vor dem offiziellen Sommeranfang erlebten: Nie wurde in Deutschland ein heißerer Juni gemessen als 2021. Die Zahl der sogenannten Hitzetage über 30 Grad wiederum hat sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts verdreifacht. Reihen sie sich mit sogenannten Tropennächten, in denen es nicht unter 20 Grad abkühlt, sprechen hiesige Meteorologen von einer Hitzewelle. „Sie machen Gesunde groggy und Kranke kränker, viel zu viele sogar sterbenskrank“, fasst Traidl-Hoffmann deren Folgen zusammen.

Bereits 2017 trug ein Aufsatz im kardiologischen Fachjournal Circulation: Cardiovascular Quality and Outcomes den vielsagenden Titel „27 Wege, auf denen Sie eine Hitzewelle umbringen kann“. Aktuell zeigen die Nachrichten aus dem Westen Nordamerikas, was passiert, wenn die Menschen in einem buchstäblichen Schwitzkasten gefangen sind: Der US-Wetterdienst sprach für mehr als 30 Millionen Menschen Gesundheitswarnungen aus, Tausende müssen vor Feuern flüchten oder ihre unerträglich heißen Wohnungen verlassen, um in klimatisierten Turnhallen Kühlung zu suchen. In Las Vegas stiegen die Temperaturen auf nie zuvor gemessene 47,2 Grad, die kanadische Ortschaft Lytton, wo das Thermometer Ende Juni den Rekordwert von 49,6 Grad erreichte, wurde kurz darauf von einem Flammeninferno fast komplett niedergebrannt. In ganz British Columbia starben innerhalb von nur fünf Tagen mindestens 486 Menschen so plötzlich wie unerwartet; in „normalen Zeiten“ läge die durchschnittliche Todeszahl bei 165. 

Klimawandel greifbar

„Es gibt absolut keinen Zweifel, dass der Klimawandel hier eine entscheidende Rolle gespielt hat“, kommentierte die stellvertretende Direktorin des Instituts für Umweltwandel an der Universität Oxford, Friederike Otto, die Lage. Auch bei den extremen Niederschlägen, die wir im Juli erlebt haben, mit vielen Toten, handelt es sich, so Otto, um Wetterlagen, „deren Intensität sich durch den Klimawandel verstärkt und mit zunehmender Erwärmung weiter verstärken wird“.

Solche Klimawandel-Folgen belasten Betroffene dann nicht zuletzt auch mental – als Angehörige oder Schwerverletzte, durch materielle Verluste, finanzielle Schäden und psychologische Traumata. Auch viele Landwirte etwa befinden sich seit spätestens 2018 im Krisenmodus, weil ihnen Dürren oder starke Unwetter die Ernten zerstören; einige Bundesländer finanzieren deshalb inzwischen Sorgentelefone mit, die bei Depressionen Hilfe anbieten.

Ältere bangen um ihre Immobilienwerte, weil unter anderem Dachgeschosswohnungen wegen der Hitzebelastung stark an Wert verlieren und ufernahe Häuser nicht mehr versicherbar werden. Jüngere leiden an Zukunftsängsten. Quer durch die Generationen führt das Thema Klimawandel zu Konflikten: Wer trägt für was Verantwortung? Reagieren wir adäquat? Wer geht „vernünftig“ mit den Prognosen um: Wer sich sorgt, wer sie verdrängt oder wer sie leugnet?

Nur eine Frage der Zeit

Weitere indirekte Probleme entstehen durch Hitze und Klimawandel, weil selbst wenige Zehntel Grad mehr in der Atmosphäre das Ökosystem nachhaltig verändern, auch vor unserer Haustür. Und damit zurück nach Sachsen, zu den West-Nil-Viren. 
Wie kamen die tropischen Krankheitserreger überhaupt dorthin? Zugvögel haben sie mitgebracht, das ist an sich nichts Neues. Neu ist: In den überaus milden Wintern der vergangenen Jahre konnten sie in ihren Wirten überleben. Und an Sommertagen über 30 Grad steigt das Risiko, dass Stechmücken sie auf andere Lebewesen übertragen. 2019 gab es davon in Leipzig 25. 

„Bei großer Hitze verdauen Mücken Blutmahlzeiten schneller, legen mehr Eier und stechen auch häufiger“, erklärt Jonas Schmidt-Chanasit, Experte für Tropenviren am Bernhard-Nocht-Institut, den biologischen Hintergrund. „Es war nur eine Frage der Zeit, dass es auch zu lokalen Ausbrüchen kommt.“ Allerdings steckt in Sachsen nicht die Asiatische Tigermücke dahinter – die grassiert bislang vor allem am Oberrhein und wird dort mit Millionenaufwand bekämpft, damit sie kein Dengue­fieber oder Zika verbreitet –, sondern unsere ganz normalen heimischen Moskitos. 

Doppelt so viele Zecken

Im Sommer 2019 klangen bei Silvia Bittners Patienten Fieber und Ausschlag nach einigen Tagen ab. „80 Prozent der Infizierten haben gar keine Symptome“, weiß die Ärztin inzwischen. „Bei 1 Prozent wächst sich das West-Nil-Fieber aber zu Hirn- oder Hirnhaut­entzündungen aus.“ Mehrere Männer und Frauen mussten in der Intensivstation behandelt werden, 2020 erkrankten auch jenseits von Sachsen erstmals Menschen, über ein Dutzend schwer, eine Frau starb. „Noch sind die bekannten Zahlen gering“, sagt Virologe Schmidt-Chanasit, „auch deswegen, weil nicht alle Erkrankten richtig diagnostiziert werden. Doch eine infizierte Mücke reicht, um das Virus weiterzuverbreiten. Angenommen, das West-Nil-Fieber tritt demnächst in Ballungsräumen auf wie Berlin oder Frankfurt, dann können die Fälle sprunghaft ansteigen.“

Beim wärmeliebenden Gemeinen Holzbock, der Zeckenspezies, die die gefährliche Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) sowie die Bakterienerkrankung Lyme-Borreliose übertragen kann, sind die Zahlen bereits auf Höchststand. Niemand weiß das besser als Oberfeldarzt Gerhard Dobler, Leiter des FSME-Konsiliarlabors am Institut für Mikrobiologie der Bundeswehr. Mit seiner Frau Lidia, einer weltweit renommierten Parasitologin, geht er fast jede Woche auf die Pirsch. Oder wie es fachgemäß heißt: flaggen. Mit einem weißen Flanelltuch wandert das Paar durch Wald und Flur, in freudiger Erwartung, dass Zecken daran hängen bleiben. 

Das Referenzgebiet der Doblers ist ein Waldstück in der Oberpfalz. Dort flaggen sie seit vielen Jahren regelmäßig, immer auf dem gleichen Weg, immer zwei Stunden vor Sonnenuntergang. „Von 2010 bis 2017 fanden wir im Schnitt 235 Nymphen vom Holzbock“, erzählt Gerhard Dobler. „2018, 2019 und 2020, in den drei wärmsten Jahren in Folge, waren es im Schnitt 530 Nymphen.“ Also mehr als doppelt so viele. 

Krankheiten im Gepäck

Die Doblers beobachteten ebenfalls: Die Zeckensaison hat sich seit 2001 um drei Wochen verlängert, warum, liegt auf der Hand – seit Beginn der systematischen Wetteraufzeichnungen 1881 wurden elf der 13 wärmsten Jahre ab dem Jahr 2000 registriert. Die FSME-Viren wiederum überleben neuerdings auch in Mittelgebirgs-Höhenlagen über 600 Metern; früher war es ihnen dort zu kalt. „Eisige Winter, die Zeckenpopulationen stark reduzieren, kommen ohnehin kaum mehr vor“, konstatiert Bundeswehr-Arzt Dobler. 
Mehr Zecken heißt mehr Risiko, sich beim Spaziergang oder Picknick im Grünen einen der Blut­sauger einzufangen – und krank zu werden. Bei der nicht in allen Bundesländern meldepflichtigen Borreliose zeigen die vorhandenen Zahlen in den vergangenen Jahren steil nach oben, auf bis zu 200 000 Neuinfektionen pro Jahr. Fürs Zecken-Rekordjahr 2020 meldete das Robert-Koch-Institut über 700 Frühsommer-Meningoenzephalitis-­Kranke. Auch das ist Rekord – und doch nur die Spitze des Eisbergs. „Erfasst werden nur die schweren Fälle“, weiß Gerhard Dobler. „80 Prozent von ihnen liegen im Krankenhaus, zum Teil wochenlang.“ 

Zudem haben die milden Winter einem einst raren Gast ermöglicht, sich dauerhaft bei uns einzunisten: der tropischen Hyalomma-Zecke. Auch diese Spezies wurde von Zugvögeln „importiert“, jede zweite hier gefundene, so ergaben Untersuchungen unter anderem an der Uni Hohenheim, hat Rickettsien im Gepäck – Bakterien, die das Zecken-Fleckfieber auslösen können. Prompt ging 2019 der erste Fall in die deutsche Medizingeschichte ein. 

Das weitaus gefährlichere Krim-Kongo-Virus wurde noch bei keiner Hyalomma-Zecke nachgewiesen, in Spanien und der Türkei grassiert es bereits. Infizierte fühlen sich urplötzlich sehr krank, werden verwirrt, ihr Gesicht schwillt an. 2 bis 40 Prozent, je nach Virustyp und Herkunft, sterben. „Dass das Krim-Kongo-Virus auch bei uns auftauchen kann, bezweifelt kaum ein Experte“, sagt die Hohenheimer Parasitologin Ute Mackenstedt. „Die Frage ist eher: wann?“ 

Schlechte Nachricht für Allergiker 

Die gute Nachricht: Mücken wie Zecken kann man sich mit Spray ganz gut vom Leib halten, gegen FSME gibt es eine wirksame Impfung, gegen Lyme-Borreliose helfen Antibiotika. Problematischer sind Blütenpollen. Sie fliegen kilometerweit durch die Luft direkt in unsere Atemwege ein. 

Das Team der Umweltmedizinerin Claudia Traidl-Hoffmann hat Daten zum Pollenflug der vergangenen 30 Jahre aus ganz Europa analysiert. „Sie zeigen deutlich, dass die Pollensaison immer früher im Jahr beginnt, länger dauert und auch die Menge an Pollen zunimmt, weil die Mischung aus mehr Wärme und mehr Kohlendioxid wie ein Dopingmittel auf ihr Wachstum wirkt.“ Experimente ergaben außerdem, dass der höhere Anteil von CO2 und Ozon in der Luft das Reizpotenzial der Pollen erhöht: Sie werden aggressiver. Nicht zuletzt kommen neue Allergiepflanzen hinzu wie etwa Ambrosia, auch Beifußblättriges Traubenkraut genannt. Ihre Pollen verlängern das Leiden von Allergikern bis in den Herbst hinein. 

„Allergien sind keine Lappalie!“, mahnt Traidl-Hoffmann. „Schon heute leiden 40 Prozent der Deutschen an mindestens einer. Wer schwer betroffen ist, dem läuft über Wochen die Nase, die Augen jucken. Und leichte Beschwerden können sich zu ­Asthma verschlimmern.“ Die Ärztin rät daher, Allergien unbedingt behandeln zu lassen, zur Not mit einer Hyposensibilisierung. „Das ist zwar aufwendig, aber in den meisten Fällen erfolgreich.“ 

Hitze setzt vielen zu

Kaum entkommen können wir hingegen der zunehmenden Hitze. Steigen die Temperaturen Richtung 30 Grad, schlaffen selbst Gesunde ab, bei 40 Grad sind auch Topfitte k. o. Während des Hitzesommers 2018 gaben bei einer repräsentativen Umfrage drei von vier Männern und Frauen an, sich abgeschlagen zu fühlen. Über 60 Prozent hatten Schlafstörungen. Etwa 40 Prozent der Frauen litten an Kopfschmerzen und Schwindel, bei den Männern waren es etwas weniger. 

Nach dem Sommer schätzte das Robert-­Koch-Institut, dass mindestens 6000 Menschen infolge der ungewohnt hohen Temperaturen verstorben sind – das sind doppelt so viele Menschen, wie in den vergangenen Jahren bei Verkehrsunfällen ums Leben kamen! 

Für den weniger heißen Sommer 2020 nannte Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) unlängst die Zahl von 4000 Hitzetoten – und zeigte zum ersten Mal Interesse fürs Thema: Im Juni schaltete die ihm unterstellte Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung eine Website mit Tipps zur Hitzeprävention online. Für mehr Schutzmaßnahmen fehlt es seiner erst 2020 gegründeten Unterabteilung „Umweltbezogener Gesundheitsschutz, Klima und Gesundheit“ offenbar an Kapazitäten.

Schreckliches Vorbild 2003

Dabei erfuhr man in Europa bereits im Jahr 2003, wie tödlich Hitzewellen sein können. Damals hing ähnlich wie derzeit im Westen Nordamerikas ein Dauerhoch wie ein Heizpilz auf Mittel- und Süd­europa, ließ Ernten verdorren, fachte Waldbrände an. Und wärmte vor allem die Städte auf, wo Beton und Asphalt die Hitze speichern wie ein Backofen – in sogenannten urbanen Hitze­inseln kann es bis zu zehn Grad heißer werden als in locker bebauten Quartieren mit viel Grün. Statt 25 Grad herrschen dort dann 35, ein immenser Unterschied. 

In Freiburg etwa kletterte 2003 das Thermometer an 53 Tagen über 30 Grad. Genf schwitzte zwei Wochen lang bei über 35 Grad. In Paris pendelte sich die Augusthitze um die 40 Grad ein, nachts fielen die Temperaturen kaum mehr unter 25 Grad, boten weder den Wohnungen Abkühlung noch den Menschen. 

Die Folge: Dutzende Pariserinnen und Pariser brachen auf den Straßen leblos zusammen, in den Krankenhäusern ging es zu „wie in einem Kriegslazarett“ – so berichtete ein geschockter Notfallarzt der Zeitung Le Parisien. „Überall auf den Fluren liegen Patienten herum, wir untersuchen sie auf allen Vieren.“ Wenig später waren die Leichenhallen so voll, dass Hunderte Verstorbene in Kühllagern von Großmärkten untergebracht werden mussten.

Einziges Ziel: Nicht über 37 Grad kommen

Allein im August 2003, so ermittelten europäische Epidemiologen-Teams im Nachhinein, waren in zwölf Ländern rund 70 000 Menschen an Hitze­folgen gestorben; darunter 15 251 Französinnen und Franzosen sowie 7295 Deutsche, vor allem im Südwesten des Landes. Frankfurt am Main etwa registrierte für die heißeste Augustwoche 78 Prozent Übersterblichkeit. Anders als zuerst vermutet, waren nur etwa 20 Prozent der Hitzeopfer ohnehin todgeweihte Schwerkranke. Die meisten verstarben vielmehr an Dehydrierung, Hitzeerschöpfung sowie damals noch ungeklärten Ursachen.

Heute ist die medizinische Forschung weiter. Man weiß, dass die Fähigkeit, Hitze über mehrere Tage zu ertragen, etwa von der Herkunft abhängt – Sizilianer können gemeinhin mehr Wärme ab als Finnen –, vor allem aber von der allgemeinen Fitness, von Vorerkrankungen sowie vom Alter. Bei kleinen Kindern funktioniert die körper­eigene Wärmeregulierung etwa durch Schwitzen noch nicht, bei Senioren nicht mehr richtig. Beide Altersgruppen haben daher ein erhöhtes Risiko zu überhitzen, erst recht, wenn sie zu wenig trinken. 

„Spätestens bei 43 Grad Körpertemperatur denaturieren unsere Proteine“, erklärt der Extremmediziner Hanns-Christian Gunga von der Berliner Charité. „Bei Hitze sind unsere physiologischen Steuerungssysteme daher permanent damit beschäftigt, die Normaltemperatur von 37 Grad zu halten. Das fordert Herz und Lunge sehr, fürs Denken und körperliche Arbeit bleibt wenig Energie.“ 

Hitze bringt alles durcheinander

„Menschen mit Atemwegs- und Herzerkrankungen leiden daher auch am meisten unter der Hitze“, weiß Umweltmedizinerin Claudia Traidl-Hoffmann. „Doch auch bei Menschen mit Diabetes, Adipositas oder Bluthochdruck schwächt sie den ohnehin labilen Organismus. Und bei vielen Kranken, an die man nicht gleich denkt, verschlimmern sich die Symptome. Bei Neurodermitikern brennt die entzündete Haut noch unerträglicher, Multiple-Sklerose-Patienten können sich kaum mehr bewegen, selbst Demenz und psychiatrische Erkrankungen verschärfen sich.“ 

Zu allem Übel bringt Hitze auch noch die Wirkung von Medikamenten durcheinander. Insulin kann schneller wirken als sonst, Blutdrucksenker so stark, dass einem ganz schummrig wird, bestimmte Psychopharmaka beeinträchtigen das Schwitzen. „Beipackzettel weisen darauf nicht hin, Hausärztinnen und -ärzte haben das Thema bislang kaum auf dem Schirm“, so Traidl-Hoffmann. „Der Umgang mit dem Klimawandel war bislang schlichtweg kein Lehrstoff, weder im Medizinstudium noch für Personal in der Pflege, in der Alten- oder Kinderbetreuung.“ 

Frankreich weit voraus

Viele unserer Nachbarländer sind da wesentlich weiter. Sie folgten nach den Extremsommern 2003 und 2006 einer Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation und erarbeiteten Hitzenotfallpläne für ihre Risikogruppen. Der französische „Plan Canicule“ gilt als vorbildlich: Sehen dort die Wetterdienste eine Hitzewelle anrollen, warnen sie Gesundheitsbehörden, Schulen, Krankenhäuser und so weiter, die ihrerseits Vorsorgemaßnahmen treffen: In Altersheimen werden Ventilatoren sowie Infusionen gegen Dehydrierung bereitgestellt, das Pflegepersonal überprüft, welche Medikamente umdosiert werden müssen, Sozialdienste kontaktieren alleinstehende Risikopersonen, die sich im Vorfeld auf Listen eintragen konnten, ob alles okay ist, und bringen sie zur Not in klimatisierte Räume wie Museen oder Bibliotheken. Die nationalen Gesundheitsbehörden wiederum informieren über sämtliche Medien, wie man sich und andere am besten schützen kann. 

In Deutschland haben die Gesundheitsministerien von Bund und Ländern bis auf die neue Website nichts Konkretes zum Schutz der Bevölkerung unternommen. „Es gibt bei uns kein für alle verbindliches Alarmsystem, keine Identifizierung von Risikogruppen, keine Kühlzonen und – mit wenigen Ausnahmen – keine Fortbildung für niedergelassene Mediziner, Krankenhaus- und Pflege­heimangestellte“, kritisiert Martin Herrmann, Vorstand des Netzwerks Klimawandel und Gesundheit (KLUG), das sich für mehr Gesundheits- und Klimaschutz engagiert. 

Gute Gründe für Klimaschutz

Immerhin: Jenseits der großen Politik regt sich etwas. „Der Klimawandel ist ein medizinischer Notfall“, hieß es im April 2021 beim Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin. Auch Gemeinden werden aktiv, Köln und Erfurt beispielsweise entwickeln gerade auf eigene Faust kommunale Hitzenotfallpläne. Nicht zuletzt fand im Juni, pünktlich zur Hitzewelle, ein erstes Ärzteseminar statt, bei dem Praktiker der Charité, des Bundesumweltamts, des Deutschen Wetterdiensts sowie von Gesundheitsämtern sich zum Thema „Hitze – das unterschätzte Risiko“ austauschten.

Ihnen zumindest ist klar: Bis 2050 werden die Hitzetage in Deutschland in jedem Fall zunehmen, je nach Region zwischen fünf und 30 Tagen. Berlin fühlt sich dann an wie das heutige Toulouse, Hamburg wie Pamplona, Wiesbaden wie Lugano. Soll dieser Trend für die Jahrzehnte danach gestoppt werden, gibt es nur einen Weg: Die Ziele des Pariser Klimaabkommens müssen erreicht werden. Unserer Gesundheit zuliebe. 

 

Dieser Text stammt aus der August-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

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