Fußball-WM und Politik - Nur noch Endspiele

Die Nationalelf könnte gegen Südkorea ihr Ausscheiden aus der Fußball-WM verhindern. Dennoch will keine Euphorie aufkommen. Zu groß scheint der geistig-moralische Flurschaden, den auch der unversöhnliche Kampf zwischen CDU und CSU angerichtet hat. Ein Riss geht durch die Gesellschaft

Mesut Özil und Angela Merkel 2012: Tempi passati / picture alliance
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Autoreninfo

Reinhard Mohr (*1955) ist Publizist und lebt in Berlin. Vor Kurzem erschien sein Buch „Deutschland zwischen Größenwahn und Selbstverleugnung. Warum es keine Mitte mehr gibt“ (Europa Verlag, München).

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„Typisch deutsch“ – so kommentierte der schwedische Nationalspieler Emil Forsberg den Last-Minute-Sieg der deutschen Fußballnationalmannschaft durch das Freistoß-Traumtor von Toni Kroos.

Was aber war daran „typisch“? Der perfekte Effet mit dem rechten Innenrist? Die kaltblütige Präzision des Schusses? Oder doch wieder dieser „typisch deutsche“, also unverwüstliche Hang zu Disziplin, Willenskraft und dem unbedingten Glauben an sich selbst bis zum letzten Steilpass in die Tiefe des Raumes?

Rumpelstilzchen und Dresdner Wutbürger im DFB-Tross

Claudia Roth würde es an dieser Stelle nur noch gruseln: Ja, ja, Volk ohne Raum. Das passt. Fehlen nur noch Blitzkrieg und Endsieg, die unseligen Zwillinge des schier ewigen deutschen Protofaschismus, der „uns“ in den Genen steckt. Wie zum Beweis, dass der „hässliche Deutsche“ lebt, sprangen zwei DFB-Funktionäre als Kreuzung aus Rumpelstilzchen und Dresdner Wutbürger nach dem Abpfiff vor der schwedischen Bank herum und ballten die Fäuste. Wir sehen: Der Schuss ist fruchtbar noch.

So war es zwingend, dass Claudia Roth, die grüne Betroffenheitsmamsell, vor Beginn der Fußballweltmeisterschaft eine dringende Warnung vor deutscher „Selbstbeweihräucherung“ aussprach und emotionale Zurückhaltung forderte. Immerhin ließ sich die Bundestagsvizepräsidentin dazu herab, den Fußballfans das maßvolle Schwenken schwarzrotgoldener Fähnchen zu gestatten, auch wenn sie selbst natürlich die in die Jahre gekommene Regenbogenfahne bevorzugt, die niemanden ausgrenzt und ebenso klimaneutral wie gendergerecht ist.

Alles wie immer also, könnte man meinen: Die einen feiern, die andern mahnen und warnen. 

Selbstzerknirschung statt Unbeschwertheit

Doch bei der WM 2018 ist es anders als sonst. Statt angeblicher „Selbstbeweihräucherung“ herrschte – zumindest bis zur 95. Spielminute am vergangenen Samstagabend – Selbstzerknirschung vor, vorauseilende Resignation, ja selbsthassgetränkte Häme gegenüber jener „Mannschaft“, die doch eben noch Heldenhaftes vollbracht hatte.

Auch in den Straßen war – und ist – viel weniger Schwarzrotgold zu sehen als in früheren Jahren, und selbst nach einem überzeugenden Sieg gegen Südkorea, der das Erreichen des Achtelfinales bedeuten würde, wäre wohl kein zweites „Sommermärchen“ in Sicht. Der Jubel auf den Fanmeilen, in den Kneipen und Biergärten der Republik hält sich im europäischen Normbereich, und in den russischen Stadien selbst dominieren Leidenschaft und Ausgelassenheit der Isländer und Kolumbianer, Senegalesen und Mexikaner. Verglichen mit den TV-Moderatoren aus Panama, die sich während des Abspielens der Hymne schluchzend in die Arme fallen, verströmen Mathias Opdenhövel und Alexander Bommes im Baden-Badener WM-Studio das Charisma von Bestattungsberatern, die sich saisonbedingt Mühe geben, möglichst gute Laune zu verbreiten.

Eigentlich könnte Claudia Roth also zufrieden sein. Nein, wir übertreiben es wirklich nicht mit Triumphgeheul und Größenwahn, und von einem „nationalen Taumel“, den etwa die taz befürchtet, ist das Land Galaxien entfernt. Es ist offensichtlich: Leichtigkeit und Unbeschwertheit wollen nicht wirklich aufkommen, schon gar nicht jener ungestüme, ansteckende Optimismus, der stets auch überbordende, infantil-spielerische Züge in sich trägt.

Geistig-moralischer Flurschaden der Politik

Gut möglich, dass die historische Weissagung von Angela Merkel auf dem Höhepunkt des Flüchtlingszustroms auch im Fußballvolk einen geistig-moralischen Flurschaden angerichtet hat. So hört man die Prophezeiung „Wir werden Weltmeister“ alias „Wir schaffen das“ fast nur noch von Liebhabern tatsachenunabhängiger Selbstbeschwörung oder von betrunkenen oberfränkischen Reichsbürgern, die vergessen haben, dass Deutschland für sie Ausland ist, oder von Leuten, die die Abseitsregel nicht erklären können, aber die Stimmung heben wollen.

Doch die Stimmung im Lande, und das ist die Krux, ist kompliziert, unsicher, schwankend, schwer zu fassen und ziemlich volatil. Der frische Schwung der frühen Jogi-Jahre ist so weit weg wie das Staunen über Angela Merkel, Kohls allseits unterschätztes „Mädchen“, das 2012 in die deutsche Mannschaftskabine stürmte, um dem halbnackten Mesut Özil zu gratulieren. Tempi passati. 

Auch ohne die Engführung von Politik und Fußball überzustrapazieren – es ist offenkundig, dass es in weiten Teilen der Gesellschaft trotz einer immer noch glänzenden wirtschaftlichen Gesamtlage eine diffuse Unruhe gibt, die mal aggressiv und hasserfüllt ausschlägt, rechts wie links, sich aber auch in verschiedenen Formen von Lethargie, Mutlosigkeit, Desorientierung und Angst äußert.

Das unversöhnlich ausgetragene Endspiel zwischen CSU und CDU spiegelt auch einen inneren Riss in der Gesellschaft wider, der sich nicht zuletzt in widersprüchlichen Umfragen zeigt. Kurios, aber symptomatisch, dass angeblich eine Mehrheit will, dass Merkel Kanzlerin bleibt, dann aber Seehofers Flüchtlings- und Migrationspolitik umsetzen soll.

Keine Euphorie nirgends

Ähnlich zerrissen spielte über weite Strecken die deutsche Mannschaft. Die Grenzkontrollen am Strafraum waren äußerst lückenhaft, im Mittelfeld, dort, wo es auf die Richtlinienkompetenz ankommt, ging es drunter und drüber, und im Sturm wurden die Dinger versemmelt – Vollstreckungsverzug auch bei sicheren Herkunftsländern. 

1954, 1974, 1990, 2014 – die vier Weltmeister-Sterne wurden jeweils in historischen Situationen errungen, die für einen Aufbruch standen: Das beginnende deutsche „Wirtschaftswunder“, der Siegeszug der Sozialdemokratie in der Reformära von Willy Brandt und Helmut Schmidt, Mauerfall und Wiedervereinigung und das Hochplateau der Macht von Angela Merkel in einem multikulturell gewordenen Deutschland. Dass ein gutes Jahr später ihr langsamer, aber unaufhaltsamer Abstieg beginnen sollte, war damals nicht zu ahnen.  

Doch jetzt, da sogar ihre Kanzlerschaft in Frage steht, dazu die 70 Jahre währende Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU, ja der Bestand der Union insgesamt, scheint es nur noch Endspiele zu geben: Um den Einzug ins Achtelfinale, um die Existenz der schwarz-roten Bundesregierung, um die Stabilität der politischen Ordnung in der Bundesrepublik überhaupt.

Es ist deshalb kein Wunder, dass derzeit keine Euphorie aufkommen will, selbst wenn Mesut Özil die südkoreanische Abwehr schwindlig spielen sollte, nachdem er mit seiner Erdogan-Aktion das schöne Bild von der harmonischen Multikulti-Truppe wirkungsvoll beschädigt hat. Dass zwei Drittel der Deutschtürken, die gewählt haben, sich für den Despoten Erdogan entschieden haben, wirkt noch wie eine Bestätigung der vorhandenen Zweifel.

Merkels Schicksal wird sich am Ende an Seehofer, Söder und Dobrindt entscheiden, aber auch an Salvini, Kurz, Orban & Co. Jogi Löw dagegen braucht nur Timo Werner in Bestform – und konsequentes Gegen-Pressing. Über den Kampf ins Spiel finden. Alle für einen, einer für alle. Typisch deutsch eben. Diese Option hat die Kanzlerin nicht mehr.

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