Zum Tode Friederike Mayröckers - Acht Jahrzehnte Dichten

Stets schrieb sie gegen die Vergänglichkeit an. Ihr Schreiben war Denken, mehr sogar: pures Leben. Mit Friederike Mayröcker ist nun eine der bedeutendsten Dichterinnen der Moderne und eine der letzten Vertreterinnen der Wiener Avantgarde gestorben. Sie wurde 96 Jahre alt.

Friederike Mayröcker im August 2020 Foto: Herbert Neubauer/apa/dpa
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Autoreninfo

Björn Hayer ist habilitierter Germanist und arbeitet neben seiner Tätigkeit als Privatdozent für Literaturwissenschaft als Kritiker, Essayist und Autor.

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Ihre Bücher gleichen einem einzigen Rausch. Sie sprudeln, schäumen, entgleiten. Wer einmal von der Kaskade ihrer Metaphern und Lautmalereien, von dieser, wie sie selbst es einmal nannte, „Zappelbewegung“, mitgerissen wurde, dürfte rasch bemerkt haben: Ihr Schreiben war Denken, mehr sogar: pures Leben. Und zwar in einem durchaus physischen Sinne. Ganze Berge aus Büchern, Zeitungsschnipseln und Notizen säumen die Wohnung, in der Friederike Mayröcker, eine der wichtigsten Dichterinnen des 20. Jahrhunderts, bis zu ihrem Tod mit 96 Jahren lebte.

Seien es die Magnolien im Garten, Erinnerungen an Kollegen und Freunde oder schlichtweg der schicksalshafte Lauf der Zeit – wogegen die Schriftstellerin stets anschrieb, war die Vergänglichkeit. Neben tagebuchartigen Alltagseindrücken thematisiert sie schon seit den ausgehenden 80er-Jahren das zunehmende eigene Verdämmern. Von der „Herbstgirlande in meinem Kopf“ oder dem „vielleicht letzten Sommer, Fäulnis letzten Endes, Fäulnis“ ist etwa in ihrem eben noch für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Buch die Rede („da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete“).

Durch Dichtung sich ans Dasein klammern

Sobald die 1924 geborene Autorin, die bereits im Alter von 15 Jahren mit dem Verfassen von Texten begann, ihre Eindrücke ins Wort zu fassen begann, verhalf sie ihnen zur Beständigkeit in der Schrift. Auch sie konnte sich dadurch buchstäblich an das Dasein klammern, wie sie im 1991 publizierten „Stilleben“ betont. So ist „meine Schreibarbeit […] ein einziges sich immer von neuem wiederholenwollendes Beweismaterial meiner selbst“.

Doch damit nicht genug. Denn wenn es für die ausgebildete Englischlehrerin einen zu bewahrenden Menschen gab, dann war dies ihr Lebenspartner Ernst Jandl, der Schriftsteller und Sprachspieler. Gemeinsam mit ihm gehörte sie, geprägt von Bewegungen wie dem Surrealismus und der konkreten Poesie, zu den Mitbegründern der Wiener Avantgarde. Nachdem er 2000 verstarb, fand er seinen Ruheort in Mayröckers Werken. Stets mit Ely spricht sie ihn darin an, so als wäre er nie fortgegangen. 

Immer inside Mayröcker

Eingebettet ist dieses Du in Collagen aus Zitaten und Anspielungen. Um ihre Arbeitsweise zu beschreiben, spricht Mayröcker mal von „Monogrammen aus Efeu“, mal von einer „parasitären Poesie“. Indem sie las, sammelte sie Eindrücke, und verwob beispielsweise Sätze von Friedrich Hölderlin, Jacques Lacan und Elke Erb zu einem neuen Gewebe zusammen. Wohl auch deshalb muten ihre immerzu fragmentarischen und sprunghaften Werke für viele Leser zunächst unzugänglich an. Man könnte daher bei den Bewusstseinsströmen der mitunter für den Nobelpreis gehandelten Autorin von einem radikalen Subjektivismus sprechen. Wir sind permanent inside Mayröcker, mitsamt all den labyrinthischen Verzweigungen, in denen wir Gemälde von René Magritte genauso wie Tonspuren von Frédéric Chopin und Franz Schubert vernehmen. 

Es sind kulturelle Spuren. Ihnen zu folgen, bedeutete für Mayröcker, sich Refugien inmitten einer Welt aus Schmerz und Verlust zu schaffen. Mit Ironie und Pathos gleichermaßen vollzieht ihr lyrisches oder erzählendes, zumeist autobiografisch angelegtes Ich deswegen nur allzu oft wundersame Verwandlungen. „Ich werde das Meer“ hält dieses Ich einmal fest (in ihrem Buch „ich sitze nur GRAUSAM da“, 2012). Auch Übergänge vom menschlichen Bewusstsein in Blumen und Farben finden sich in ihrem Œuvre. Was Mayröckers Verständnis von Literatur somit zugrunde lag, ist der Musilsche Möglichkeitssinn. Sie vermag zu verzaubern und uns auch aus den physischen, realen Verankerungen emporzuheben.

Dass diese große Intellektuelle nun von uns gegangen ist, hinterlässt eine Leere. Aber in der Entgrenzung ihres Schreibens bleibt sie weiterhin unter den Lebenden.
 

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