„Fridays for Future“ - Reinheit predigen, CO2-intensiv leben

Als vermeintlich unschuldige Kinder und Jugendliche gehen die Teilnehmer von „Fridays for Future“ selbst kaum ein echtes Risiko ein. Das unterscheidet sie bislang von vielen anderen Protestbewegungen. Würden Sie sich selbst konsequent einer Konsumscham unterziehen?

Muss sich Kritik an ihrem Lebenswandel stellen: Luisa Neubauer von „Fridays for Future“/ picture alliance
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Autoreninfo

Bernd Stegemann ist Dramaturg und Professor an der Hochschule für Schauspiel (HfS) Ernst Busch. Er ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschienen von ihm das Buch „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“ bei Klett-Cotta und „Identitätspolitik“ bei Matthes & Seitz (2023).

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Protestbewegungen haben die Welt besser gemacht. So einfach lautet das Resümee, wenn man auf die wichtigsten Proteste der vergangenen hundert Jahre schaut. Das Frauenwahlrecht, der Sozialstaat, die Abschaffung der Apartheid, die Unabhängigkeit Indiens, die maßgeblich durch den gewaltfreien Widerstand Gandhis erzwungen wurde, und viele andere Proteste haben die gesellschaftlichen Entwicklungen sowohl beschleunigt als auch ihre Richtung zum Guten beeinflusst. 

„Fridays for Future“ scheint gerade in diese Dimension der maßgeblichen Veränderungen vorzudringen. Weltweit gehen vor allem junge Menschen auf die Straße, um den Klimawandel nach ganz oben auf die Liste der Dringlichkeit zu setzen. Ich stimme dieser Agenda und auch den Mitteln des Schulstreiks ausdrücklich zu. Doch was ist es dann, was mich von Tag zu Tag mehr an „Fridays for Future“ stört? 

Es muss kaum etwas riskiert werden

Der Schulstreik unterscheidet sich in einem elementaren Punkt von den anderen großen Protesten. Die Streikenden legen kein eigenes Gewicht in die Waagschale. Ein Blick auf die entgegengesetzte Seite zeigt, wie groß ein solches Gewicht sein kann. Als Gandhi zum gewaltfreien Ungehorsam aufrief, stand er einer bis an die Zähne bewaffneten Kolonialarmee gegenüber, die dafür bekannt war, mit brutaler und rücksichtsloser Gewalt ganze Kontinente zu unterdrücken. Er stellte sich mit leeren Händen der aggressivsten Militärmacht seiner Zeit entgegen. 

Die meisten Proteste sind, zum Glück, weit von diesem lebensgefährlichen Bereich entfernt. Aber jede Protestform hat bisher ein Quantum an Mut gebraucht, um das Risiko einzugehen, gegen die bestehende Ordnung aufzustehen. 

Das ist bei „Fridays for Future“ (FfF) offensichtlich anders. Und ich betone nochmal, ich freue mich darüber und es gibt wohl niemanden, der die friedliche Stimmung der bisherigen Freitage nicht begrüßt. Doch Protest, gerade wenn er sich einen übergroßen Gegner aussucht, braucht ein eigenes Gewicht. Das neue an der FfF-Bewegung ist, dass sie meint, dieses Eigengewicht nicht aus einem persönlichen Risiko, sondern aus einer Bestandsaufnahme ziehen zu können: Das Klima ist in Gefahr und damit droht die globale Katastrophe. Schuld an dieser Notlage haben die Erwachsenen, Leidtragende werden aber die Kinder sein. 

Eine tragische Entwicklung beginnt

In den gebildeten Kreisen der Industrienationen wirkt dieser Aufruf wie eine Erinnerung an schon oft gehörte Warnungen. Darum wird ihm geglaubt und er erfährt viel Zuspruch. Der Protest trifft also nicht auf Abwehr, sondern auf offene Ohren. Wenn selbst die Klimakanzlerin die jungen Protestierenden lobt, wäre eigentlich deren Job erledigt. Und an dieser Stelle beginnt die tragische Entwicklung von FfF. 

Wenn alle wichtigen Stimmen des Landes ihnen recht geben, gegen wen wird dann protestiert? Die Antworten sind täglich zu hören: Wir protestieren gegen die Trägheit. Es dauert zu lange, noch ist nichts passiert, unsere Zukunft steht auf dem Spiel und die Alten tun nichts. Hört man diesen Rufen zu, so bemerkt man eine Verschiebung von einem anfänglichen Weckruf hin zu einer genervten Ungeduld. Der Weckruf hat funktioniert, die stetige Wiederholung, dass es nicht schnell genug geht, erinnert zusehends an das Quengeln verwöhnter Konsumenten, die zu lange auf etwas warten müssen. 

Kuschelei und Radikalisierung

Der Soziologe Norbert Elias machte einst eine interessante Beobachtung über die 68er Proteste. Er fragte sich, woher diese Unduldsamkeit einer Generation kommt, die doch als erste nicht im Krieg, sondern im Frieden aufwachsen konnte. Und er stellte fest, das die Protestierenden aus einem Milieu kommen, wo das kindliche Wollen stark beachtet wurde. Pointiert sprach er von einem Protest verwöhnter Kinder, die bemerken, dass die Realität nicht so lieb ist wie Mami und Papi.

Die Heranwachsenden zogen daraus aber nicht den Schluss, dass nach der Kindheit nun eine Phase beginnt, die man Erwachsenwerden nennen könnte, sondern machten für ihre Enttäuschung die Realität selbst verantwortlich. Elias konnte so die paradoxe Gleichzeitigkeit von Hippie-Kuscheleien und Radikalisierung der Forderungen, die bis zum bewaffneten Terrorismus führten, erklären. Rückwirkend mutet eine solche Beschreibung einer Kindheit in den fünfziger und sechziger Jahren befremdlich an, aber wenn man die Schlussfolgerung auf die Kinder der Nuller-Jahre überträgt, ist sie sehr plausibel.

Bildung dank CO2-intensiver Kindheit

Bei FfF handelt es sich um ein ähnlich paradoxes Verhältnis von Zufriedenheit und unduldsamer Forderung. Hier demonstriert eine Generation, deren Eltern alles richtig machen wollten. Es sollte die bestmögliche Ausbildung geben, zu der eben auch Fernreisen gehören, und die Kleinen werden gerne auch mal mit dem Auto von der Schule zum Reitunterricht gefahren. Genau diese Lebensweise wird nun von den Streikenden zum Symbol des klimaschädlichen Verhaltens erklärt. 

Das könnte eine spannende Dialektik zur Folge haben, wenn die FfF-Aktivisten ihre Blickrichtung ändern würden. Bisher war die Rollenverteilung für sie vorteilhaft, hier die unschuldigen Kinder, dort die schuldigen Erwachsenen. Würden sie reflektieren, dass ihr Protest auch die Folge einer Bildung ist, die durch eine sehr CO2-intensive Kindheit ermöglicht wurde, kämen sie auf den Bewusstseinsstand, der andere Protestbewegungen ausgezeichnet hat. 

Das reine Kind stellt die Welt vor Gericht

Mit anderen Worten, auch der Alltag der unschuldigen Kinder ist in einem Industrieland schuldhaft in den Klimawandel verstrickt. Der einfache Gedanke bestünde nun darin, zu erkennen, dass der, der alt genug ist, die komplexen Zusammenhänge von westlicher Lebensweise und Umweltschädigung zu begreifen, auch alt genug ist, seinen eigenen Anteil daran zu verstehen. 

Darum ist es ein verhängnisvoller Irrtum, wenn einige Aktivisten meinen, ihr bisheriges Leben rückwirkend klimafreundlich zensieren zu müssen. Wenn die deutsche Sprecherin von FfF Luisa Neubauer mit 22 Jahren schon mehrfach um die Welt geflogen ist, dann sollte sie sich freuen, noch solche Privilegien gehabt zu haben. Wenn sie aber ihren Instagram-Account von allen Fotos, die dort stolz von ihrer Weltläufigkeit zeugten, säubert, erinnert das nicht nur an die Panikreaktionen totalitärer Regime, sondern es ist im Internetzeitalter auch sinnlos. Vor allem ist es aber ein Alarmsignal dafür, wie sie ihre eigene Rolle im Protest versteht: Das reine Kind, das die Welt vor Gericht stellt. 

Die einfachste Form der Moralfalle

Um sich nicht von dieser falsche Dynamik fesseln zu lassen, müsste die Dialektik von Reinheit und Gegenwehr verstanden werden. Die harsche Kritik, die sich an ihren zahlreichen Flugreisen entzündet, ist eine Reaktion auf die zuvor behauptete Position der kindlichen Unschuld. Wird auf diese Kritik mit einer Fälschung der eigenen Geschichte reagiert, soll damit also nur das Bild der Unschuld verfestigt werden. 

Es wird aber nicht lange dauern, bis ein anderer Fehler gefunden wird, woran sich der nächste Vorwurf der Doppelmoral entzünden lässt. Es handelt sich hier also um die einfachste Form der Moralfalle: Wer seine Autorität aus der Reinheit bezieht, wird auf jeden Fall durch ein schmutziges Detail zu Fall kommen. 

Die Dynamik dieses Konflikts ist gnadenlos und hat schon bald nichts mehr mit der Umwelt zu tun, sondern erinnert eher an die Streitsucht von Religionsgemeinschaften: Greta isst eine Scheibe Toast aus einer Plastikverpackung. Achtung, Plastikmüll! Ist sie jetzt noch rein genug, um für das Klima zu sprechen? 

Sich selbst als Teil des Problems begreifen

Aber man muss nicht wie ein Mönch leben, um auf die Klimakatastrophe hinzuweisen. Kritik ist nicht darum berechtigt, weil man selbst unschuldig ist. Sondern es kommt darauf an, wie die Kritik begründet wird, und wie weit der eigene Einsatz reicht, um der Kritik Geltung zu verschaffen. Die Dialektik des Protestes besteht also darin, dass die Protestierenden sich als Teil des Problems begreifen. 

Allen wirkungsvollen Protestbewegungen war bisher eigen, dass sie nicht nur Forderungen für andere erhoben, sondern vor allem die eigene Lebensweise revolutioniert haben. Der gewaltfreie Ungehorsam Gandhis, die Hippies der 68er, die Solidarität der streikenden Arbeiter oder der Frauenbewegung haben weltweit den Umgang miteinander verändert. Welche kulturelle Veränderung bringt FfF?

Nächster notwendiger Schritt: Konsumscham

Das Wort Flugscham schien ein erster Vorbote gewesen zu sein. Eine Wirkung ist bisher nicht zu erkennen. Die Zahl der Flugreisen ist ungebrochen. Hier könnte also das große Feld liegen, wo Proteste nicht nur ihr Engagement feiern, sondern konkrete Forderungen nach außen wie nach innen richten. 

Was wäre zum Beispiel mit einer Aktion für Konsumscham, die vor jedem Primarkt, Media-Markt oder H&M ihren Posten bezieht? Was würde passieren, wenn alle, die bei FfF mitmachen, eine Selbstverpflichtung unterschreiben? Wir verzichten auf Flugreisen und reduzieren unseren Kleidungs- und Unterhaltungskonsum um die Hälfte. 

Argumention weist in die falsche Richtung

Wenn nur eine Millionen junger und nicht mehr junger Menschen diese zwei Punkte unterschriebe, hätte der Protest ein neues Gewicht bekommen. Sie hätten sich selber investiert und damit ihre Rolle des unschuldigen Kindes verlassen. Dann könnten sie mit Stolz sagen, ihr braucht für eure Gesetze zu lange, wir fangen schon mal da an, wo alles ganz schnell gehen kann. Wir verändern unser Konsumverhalten. Der Panik der Fluggesellschaften und Konsumtempel wären sie sich augenblicklich sicher. 

Leider geht Gretas Argumentation immer weiter in die andere Richtung. Bei ihrer kurzen Rede während ihres Berliner Auftritts Mitte Juli beruhigte sie alle Jugendlichen: „Ihr müsst kein schlechtes Gewissen haben, wenn ihr nicht genug für die Umwelt tut. Ihr habt keine Verantwortung. Die liegt allein bei den Mächtigen.“ An dieser Stelle der Rede verstand ich die Ursache meines Unbehagens. 

Mit den klassischen Mitteln des Populismus wird hier die Seite der reinen Kinder gegen die bösen Erwachsenen gestellt. So bildet man Glaubensgemeinschaften und Greta ist ihre Priesterin. Damit beschreitet der Protest einen Weg, auf dem er mehr Probleme hervorruft als er überwindet. 

Mit dem Klima kann man nicht diskutieren

Jede Forderung, die mit der Behauptung auftritt, hier spräche das Klima höchstpersönlich, nimmt für sich eine letzte Autorität in Anspruch. Eine solche Position ist verlockend, da sie unangreifbar macht. Doch die Selbstermächtigung, als Stellvertreter einer höchsten Instanz zu sprechen, ist nur solange wirkungsvoll, wie die anderen mitspielen. Doch was passiert, wenn ein neuer Stellvertreter auftritt, der ebenfalls für das Klima spricht aber andere Forderungen stellt?

Das Klima will, dass wir mehr Geld in die Erforschung der Kernenergie stecken. Widerspruch sinnlos, denn mit dem Klima kann man nicht diskutieren. Das Klima will, dass wir Länder mit Sanktionen überziehen, die sich nicht an das Pariser Abkommen halten. Der Uno-Sicherheitsrat blockiert. Egal, das Klima steht über der Uno. 

Weltfremde Forderungen

Protest als Religion ist fatal. Erstens weckt er zwangsläufig Widerstand – warum spricht durch Greta das Klima und nicht durch jemand anderen? Er führt zu arrogantem Auftreten. Das ist aktuell an den Tweets einiger FfF Aktivisten zu beobachten. Und schließlich hebt er die Protestierenden scheinbar über die Zusammenhänge der Welt. Wer für das Klima spricht, steht außerhalb und ist nicht mehr Teil der Problems. 

Damit Protest nicht zu einem Religionsersatz mit all den unlösbaren Folgeproblemen wird und auch nicht zu einer gratismutigen Besserwisserei, braucht es ein eigenes Risiko und einen eigenen Einsatz. Darauf herumzureiten, dass in einem Industrieland wie Deutschland, wo jede Stromtrasse Jahrzehnte für Planung und Rechtsstreitereien braucht, die Klimapolitik nicht innerhalb von wenigen Monaten eine 180 Grad Wende macht, ist weltfremd. Und hier gebetsmühlenartig zu wiederholen, dass das Klima keine Rücksicht auf die Befindlichkeiten von Regierung und Wahlvolk nimmt, gerinnt zur abstrakten und damit hohlen Phrase. 

„Fridays for Future“ fällt bestimmt etwas Tolleres ein, als mein kleiner Vorschlag der Konsumscham. Doch ohne eigenes Risiko wird sich ihr Gewicht nicht erhöhen. Das, was sie mit ihrem bisherigen Einsatz erreichen konnten, haben sie erreicht. Jetzt droht die Heiligsprechung oder die Bedeutungslosigkeit, was in der Politik auf das Gleiche hinausläuft. Es wird also Zeit, einen anderen Weg einzuschlagen. Auf mich können sie aber zählen. Ich wäre sofort dabei, die zwei Punkte der Konsumscham zu unterschreiben. 

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