Frankfurter Buchmesse - Irgendjemand liebt auch sie

Shobha Rao erzählt beeindruckend vom Überlebenswillen zweier junger indischer Frauen zwischen Ausbeutung und Patriarchalismus

Erschienen in Ausgabe
Die Geschichte einer Freundschaft steht für eine Generation junger, armer Mädchen in Indien / picture alliance
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Nur ein kleiner Stoß, und das Problem wäre erledigt. Das Problem heißt Purnima und ist ein kleines Mädchen, das sich bei einem Ausflug mit den Eltern zu tief in einen Fluss gewagt hat. Lachend erzählt Purnimas Vater Jahre später dem Heiratsvermittler in seinem indischen Dorf, dass er damals kurz überlegte, seine Tochter einfach ins Wasser zu stoßen.

Mädchen sind in der patriarchalisch geprägten indischen Kultur weitgehend wert- und rechtlos, nur eine Belastung des Familienbudgets, weil man sie durchfüttern muss, bis die Mitgift reicht, um sie endlich zu verheiraten. Dass die 16-jährige Purnima nach dem Tod der Mutter den Haushalt führt, die Geschwister versorgt und am Webstuhl arbeitet, mildert die Geringschätzung ihres autoritären Vaters keineswegs. Aber dann durchbricht ein unerwarteter Sonnenstrahl Purnimas freudlosen Alltag.

Die Geschichte einer Freundschaft

Um das knappe Einkommen zu erhöhen, engagiert ihr Vater ein Mädchen für den Webstuhl seiner verstorbenen Frau. Die 17-jährige Savita ist selbstbewusst und lebenslustig, obwohl ihre Familie zu den ärmsten des Dorfes gehört. Die beiden Mädchen vertrauen einander, stärken und schützen sich gegenseitig.

Das tiefe Glück ihrer Freundschaft währt nur kurz. Nach einem gewalttätigen Übergriff verlässt Savita nachts das Dorf, und die apathische Purnima wird von ihrem Vater mit einem gefühlskalten, brutalen Mann verheiratet.

Die Autorin Shobha Rao, die als Siebenjährige mit ihrer Familie von Indien in die USA kam, erzählt die Geschichte der getrennten Freundinnen Purnima und Savita aus wechselnder Perspektive. Beide können ihr Schicksal nicht zum Besseren wenden. Purnima wird nicht schwanger, muss Misshandlungen der Schwiegerfamilie erdulden und deren Haus verlassen. Nur das erhoffte Wiedersehen mit Savita hält sie aufrecht. Beide Frauen werden von internationalen Menschenhändlern in die Prostitution gezwungen, und Savita wird schließlich in die USA verkauft.

Schwer die Schicksale zu unterscheiden

Shobha Rao kennt die Hilflosigkeit und Traumatisierung der Frauen, die sie im Roman detailliert beschreibt. Die studierte Juristin hat in Kalifornien südamerikanische Frauen mit Gewalt­erfahrungen beraten. In welch menschenunwürdiger, sprachloser Isolation die ausgebeuteten Dorfmädchen in den USA als Putzkräfte und Prostituierte dahinvegetieren, macht die Autorin am Beispiel der jungen Inderin deutlich.

Raos Feldkompetenz ist allerdings Stärke und Schwäche des Romans zugleich. Das Ausmaß der psychischen und physischen Gewalt gegen Frauen ist hier so überwältigend, dass man als Leser bisweilen in die gleiche paralysierende Duldungsstarre verfällt wie die Protagonistinnen. Nicht immer sind die Stimmen der Freundinnen klar zu unterscheiden, weil beide ein ähnlich schlimmes Höllenfeuer durchleiden.

Irgendjemand vermisst sie

Den farbigen Schilderungen von Landschaft und lebendigem Alltag im ländlichen Indien setzt die Autorin die Verlorenheit und Desorientierung entgegen, dem die geflüchtete, mittellose Savita an US-Tankstellen und Busbahnhöfen ausgesetzt ist. Der Kulturschock der jungen Frauen wird durch den unterschiedlichen Wert von Lebensmitteln symbolisiert. Die Mahlzeiten in Indien sind karg, aber sorgfältig mit regionalen Zutaten zubereitet. Savitas Lieblingsessen, Joghurtreis mit Banane, ist ein seltener Luxus, weil Bananen teuer sind. Das erste eiskalte Bananensplit wird in den USA zu ihrem kulinarischen Höhepunkt.

Bei aller Aussichtslosigkeit zeigt der Roman die Widerstandskraft zweier junger Frauen, die überleben wollen. „Sie werden geliebt, weißt du?“, sagt Purnima zu einem Menschenhändler. „Das glaubst du vielleicht nicht, weil diese Mädchen arm sind, (…) aber irgendjemand liebt sie. Irgendjemand vermisst sie.“ Das Ende des Romans ist offen. Vielleicht, so Rao im Interview, schreibe sie ja eine Fortsetzung. 

Shobha Rao: „Mädchen brennen heller“. Aus dem amerikanischen Englisch von Sabine Wolf Elster, Zürich 2019. 382 Seiten, 24 €

Dieser Text ist in der Oktober-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können. 

 

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