Frankfurter Buchmesse - Ein Pfau spielt falsch

Nora Bossongs „Schutzzone“ war für den Deutschen Buchpreis 2019 nominiert. Der Roman entdeckt die Vereinten Nationen als Ort eines großen Welttheaters

Erschienen in Ausgabe
Wie bei Pfauen mit ihren „falschen Augen“ geht es in Nora Bossangs Roman um die Frage der Realität / picture alliance
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Autoreninfo

Björn Hayer ist habilitierter Germanist und arbeitet neben seiner Tätigkeit als Privatdozent für Literaturwissenschaft als Kritiker, Essayist und Autor.

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Die L’art-pour-l’art-Zeiten sind vorbei. Nichts mutet gegenwärtig anachronistischer an, als behaglich von den kleinen Nöten und Sorgen des Alltags, Ehestreitigkeiten oder Reiseerfahrungen zu erzählen. Gerade in einer Phase polarisierter Debattenkultur und gesellschaftlicher Orientierungssuche hat die Idee der politischen Autorschaft wieder Hochkonjunktur. Doch fällt dabei nicht selten auf, dass es Büchern, die mit hehren Schimpftiraden und Forderungen auftrumpfen, an einer durchdachten Ästhetik mangelt. Unambitionierte Gewissensprosa und schwarzmalerische Dystopien fluten derweil mit großem Erfolg die Regale der Buchläden.

Zu wünschen wären manchmal mehr Differenzierungsvermögen, mehr Genauigkeit und Schwerpunktsetzung, wie es Nora Bossong in ihrem neuesten Roman vormacht. Statt einer diffusen Allerweltsanklage legt die 1982 in Bremen geborene Schriftstellerin eine fokussierte Betrachtung der Vereinten Nationen vor. Obwohl sie in einer Welt unzähliger Konflikte die große Hoffnung auf Versöhnung bildet, scheitert die Organisation in der literarischen Annäherung an verkrusteten Strukturen, einem anonymen Bürokratenapparat und dem Ränkespiel der Potentaten. So auch im Konflikt zwischen den Tutsi und Hutu in Burundi 1993, den Hauptfigur Mira vonseiten der Uno beobachtete. Über 20 Jahre später ist sie an Lösungsverhandlungen für das geteilte Zypern beteiligt. Noch immer verfasst sie Berichte, trifft auf „Staatschefs“, die „mit Weltkugeln Billard spielten“. Die Desillusionierung der Idealistin ist greifbar: Der globale Frieden bleibt eine Schimäre.

Der Begriff der Wahrheit

Dass sich politische Kritik und Kunstfertigkeit jedoch nicht ausschließen müssen, sondern einander geradezu bedingen, lässt sich an Bossongs Roman feststellen. Denn die Überlegungen, wie das Chaos auf internationalem Parkett zu ordnen ist, schlagen sich unmittelbar im Design des Textes nieder. Mit jedem neuen Kapitel springt er zwischen den Zeiten und Orten: von New York nach Genf und immer wieder nach Burundi. Die nuller Jahre werden durchkreuzt mit Retrospektiven in die Jahre des afrikanischen Stammeskriegs. Indem die Autorin dem linearen Erzählen eine Absage erteilt, führt sie vor Augen, wie schwer es in einem komplexen, globalen Gefüge ist, Ursache und Wirkung, überhaupt die großen Zusammenhänge noch erklären zu können. Dasselbe gilt für den Begriff der Wahrheit, die sich im Prisma der globalen Diplomatie in unterschiedlichen Spektren – also diversen Sichtweisen und Positionen – bricht.

Womit man sich zufriedengibt, sind Phrasen und „Schlagwörter: Perspektiven, Zukunft. Wie aus einer Werbeanzeige für eine bessere Welt“. Letzterer werden wir bei Bossong daher in Metaphern des Theatrum mundi gewahr. Die Kriege und Morde werden verschleiert und verschleppt und in Konferenzen umgedeutet. Passend zum großen Schein zieren das Quartier der Vereinten Nationen in Genf, wo Mira fernab der Krisenwirklichkeit ihre Dokumente verfasst und Konsultationen abhält, Pfauen mit ihren „falschen Augen“.

Das einzig Reale

Als einzig real erweist sich in „Schutzzone“ eine Liebesstory. Sie hat vor allem einen offensichtlich dramaturgischen Nutzen. Nur über sie werden die losen Kapitel zusammengehalten. Erwartungsgemäß muss sie auch scheitern, weil der Geliebte mit Namen Milan verheiratet ist und die Protagonistin sich aus diesem Grund nach all den Desillusionierungen weiterhin an ihre Arbeit klammert. Die Uno ist nicht das Heil des Planeten, aber vielleicht der geeignete Rahmen dafür, so die Botschaft dieses Werkes. Trotz manch plakativer Zuspitzung vermisst es bravourös die politische Tektonik der heutigen Welt, einschließlich ihrer klaffenden Risse. Schonungslose Ehrlichkeit bildet den Kern eines literarischen Programms, das die Konflikte fernab der Komfortzone des Westens spürbar ins Bewusstsein holt. 

Nora Bossong: „Schutzzone“. Suhrkamp, Berlin 2019 332 Seiten, 24 €

Dieser Text ist in der Oktober-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können. 

 

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