Zum 100. Geburtstag von Helmut Newton - Amor als Sieger

Inmitten ungezählter Debatten über Sexismus hätte Helmut Newton heute seinen 100. Geburtstag gefeiert. Aus der zeitlichen Distanz betrachtet, könnte man seine Fotografien für angestaubte Herrenwitze halten, in Wahrheit aber blicken sie gerade jetzt in die Abgründe des Daseins.

Fotografie von Helmut Newton, der sich selbst als professioneller Voyeur sah / dpa
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Liebe ist tödlich. Sie war es schon immer. Isolde, Romeo, Julia, Tristan: Vanitas rekelt sich in so manch einem Laken. Es ist die uralte Geschichte. Man findet sie früh bei den Argonauten. Hylas etwa, Sohn des Theodamas, ein Jüngling, so die Sage, von schöner Gestalt, wusste sich der Doppelbödigkeit seiner Passionen nicht zu erwehren. Der Erzählung nach reichten drei zarte Nymphen, um den Schönling im See der Lust zu ersäufen. Der Liebe wohnt eben immer ein Stachel inne, Eros sucht immerfort Thanatos. Menschen, so meinte später der Philosoph Slavoj Žižek, seien nicht einfach nur lebendig: Sie seien „besessen von dem seltsamen Trieb, das Leben exzessiv zu genießen, und hängen leidenschaftlich an einem Überschuss, der hervorsticht und den normalen Gang der Dinge zum Scheitern bringt“.

Vielleicht liegt in diesem Überschuss auch der Urstoff für das schier unauflösliche Drama der Sexualität. Die Sage von Hylas jedenfalls, diese Geschichte um Lust und Selbstverlust, um Symbiose- und Überflutungsangst, lieferte über Jahrhunderte die prächtigsten Motive in der Geschichte der Kunst. Besonders im späten Römischen Reich finden sich unzählige Variationen: Von Nordafrika bis in die Basilika des Junius Bassus am Esquilino-Hügel in Rom finden sich noch heute reichhaltige Darstellungen des entkleideten Jünglings mit seinen drei nackten Schönen. 

Ein Akt am Abgrund der Humanität

Tod durch Liebe, Liebestod: Es ist ein Akt am Abgrund der Humanität. Vielleicht ist es das, was wir Heutigen an diesem, wie wohl an so vielen anderen Mythen auch, nicht mehr zu tragen bereit sind: diese bodenlose Unerhörtheit, dieser verdammte moralische Makel. Und so kam es schließlich, wie es kommen musste: Es war im späten Januar 2018, als in der Manchester Art Gallery im Norden Englands der Aufstand gegen die Götter begann: Das Gemälde „Hylas und die Nymphen“, 1896 von dem Briten John William Waterhouse als viktorianische Interpretation des alten Sagenstoffs gemalt, verschwand über Nacht aus den Ausstellungssälen. Die britische Aktionskünstlerin Sonia Boyce, Mitglied der Royal Academy und Fachfrau für künstlerische Interventionen, hatte die leicht süßlich wirkende Darstellung der Sage für mehr als eine Woche medienwirksam ins Depot verbannt. 

Mitten auf dem Höhepunkt der damaligen #MeToo-Debatte erschien die Aktion von Boyce wie ein öffentlicher Affront. In den folgenden Wochen diskutierte nicht nur die britische Kunstwelt über die Rolle der Frau in der Geschichte der Bilder sowie über die Präsenz von Nacktheit an musealen Orten. Es war dies die Stunde der großen Empörung: Die einen riefen Prüderie und Zensur, die anderen Misogynie und Sexismus. Und während kreuz und quer die Wortfetzen flogen, mochten einzig die Nymphen gelassen in sich hineingelacht haben. Es muss ein leises Gickeln gewesen sein, eine Abart dieses für uns Sterbliche schier unerträglichen olympischen Lachens.

Amor blieb und lacht noch immer

Denn wo die Erregung anhebt, da schmunzeln die Götter. Caravaggio hatte es einst vorgemacht. Mit seinem „Omnia vincit Amor“, diesem hämisch grinsenden Götterbengel, hatte er vor 400 Jahren allen Moralisten die Zunge gezeigt. Es war das Ringen eines Ewigen gegen flüchtige Moden. Und so war es letztlich kein Wunder, dass auch dieses Bild vor geraumer Zeit noch einmal in Ungnade fiel: Es war Anfang 2014, Deutschland diskutierte im Zuge der Edathy-­Affäre über den Missbrauch von Schutzbefohlenen und Kindern, als sich besorgte Bürger in einem Brief an die Berliner Gemäldegalerie wandten. Ihre Forderung: Das Juwel des Hauses, der „Amor als Sieger“, solle unverzüglich von der Wand geholt werden. Diese „obszöne Szene“ diene „zweifellos der Erregung des Betrachters“.

Doch Amor blieb und lacht noch immer. Er lacht mit den Göttern und Geistern im Chor. Eine heitere Kantorei der Ewigen ist es, zusammengewürfelt vor vielen Jahren. Es war bereits im März 1978, als in der französischen Modezeitschrift Vogue ein Fotograf namens Helmut Newton eine Szenerie in sich zusammengewürfelt hatte, die auf den ersten Blick nicht recht zusammengehörte. Es war ein Bild in einem Bild, erschienen unter dem eigentlich unverdächtigen Titel „La tombée du jour dans la nuit“. 

Besonders das letzte Foto dieser opulenten Bildstrecke hatte es in sich: Vor einem großflächigen historischen Gemälde an der Wand des legendären Pariser Restaurants Maxim’s kniet da eine schlanke Frauengestalt in weißen Kleidern, am Tisch daneben zwei müde Herren. Die Kniende passiv und puppengleich, die Sitzenden herrisch und gelangweilt. Während sie dem einen der Männer devot die Hand aufs Knie legt, tränkt sie der andere aus einem Glas Chardonnay. 

Newton kam aus der Kälte

Es war eine sadomasochistische Inszenierung, ein Spiel, so wie vielleicht jede Fotografie dieses obszönen Bilderzählers aus der Rue de l’Abbé de l’Epée, der einem breiten Publikum zwei Jahre zuvor mit dem Bildband „White Women“ bekannt geworden war, nur ein Spiel gewesen ist. Als wäre es diesem Helmut Newton nur um das permanente Auserzählen einer Erinnerung gegangen, um ein Trauma, eine infantile Erfahrung. In dieser Hinsicht war er vielleicht wie ein Kind. Denn nur ein Kind, so hatte es der Psychiater Karl Abraham mal formuliert, „wünscht stets zu sehen, woher es gekommen ist“.

Selbstporträt von Helmut Newton / dpa

Helmut Newton jedenfalls kam aus der Kälte. Nicht nur sein Bild aus dem Pariser Maxim’s ließ das erahnen. Es wimmelt hier von Devotismus und Distanz. Nur im Hintergrund, auf diesem großen Gemälde an der Wand, entflieht die Erniedrigung in eine Fabel: Auf der Hinterbühne des Realen nämlich lachen hier drei halbnackte Nymphen und drehen ihren ewigen Reigen aus Angst, Distanz und Leidenschaft.

Vermutlich ist es das, was an dem vor genau 100 Jahren, am 31. Oktober 1920 als Helmut Neustädter in Berlin-Schöneberg geborenen Fotografen Helmut Newton immerfort stören, ja verstören und in Teilen sogar beängstigen will. Bei Newton war alles Vergängliche nur ein Gleichnis. Das ewig Weibliche zog ihn hinan. Sigmund Freud, der große Menschenkenner aus dem 9. Wiener Gemeindebezirk, hatte derlei Unbehagen an der Kunst bereits ein Jahr vor Newtons Geburt auf intellektuelle Art vorweggenommen. In einer kleinen Abhandlung über das Unheimliche schrieb der Begründer der Psychoanalyse damals, dass eine Verstörung stets dann auf den Plan trete, „wenn die Grenze zwischen Fantasie und Wirklichkeit verwischt wird, wenn etwas real vor uns hintritt, was wir bisher für fantastisch gehalten haben, wenn ein Symbol die volle Leistung und Bedeutung des Symbolisierten übernimmt“, kurz: wenn die psychische Realität die materielle übersteigt. 

Unter Sexismusverdacht

In der Welt der Bilder wäre das eigentlich gar nicht ungewöhnlich. In ihr sind wir aus solchem Stoff, wie Träume sind – auch wenn es sich dabei zuweilen um Albträume handeln mag. Doch nicht jeder hat Helmut Newton eine solche Grenzverwischung durchgehen lassen. Weit vor den Auseinandersetzungen um die erotisierenden Darstellungen eines Waterhouse oder Caravaggio gerieten seine Werke unter Sexismusverdacht. In den achtziger und neunziger Jahren gingen Feministinnen wie Alice Schwarzer oder Susan Sontag mit dem deutsch-australischen Fotografen hart ins Gericht. Und nicht immer lag die Kritik daneben: Manche Bilder von Helmut Newton wirken auch – oder sollte man nicht vielleicht sagen: gerade? – 16 Jahre nach seinem Tod durch einen Verkehrsunfall in Los Angeles wie ein alter, schwülstiger Herrenwitz. Tief sitzende Dekolletés, Pelzmäntel oder geleckte High Heels verankern sie für immer in einer vergangenen Zeit. 

Ein Fehler aber wäre es, wollte man von den nackten Zeichen in der Silbergelatine-Haut schon Rückschlüsse auf die ästhetischen Tiefenschichten ziehen. Newtons beste Bilder nämlich sind noch immer wie Träume: eine „Via Regia“ ins Unbewusste, ein Rückweg von der Fantasie in die Realität. Seitdem es sich der Sohn eines jüdischen Knopffabrikanten, der 1936 eine Ausbildung bei der Lichtbildnerin Yva begonnen hatte, bevor ihn die Nazis schließlich ins Exil und seine Lehrerin ins Konzentrationslager verbracht hatten – seitdem er es sich also in den Kopf gesetzt hatte, die Welt der Gebrauchsfotos zu revolutionieren, hat er seine Aufnahmen mit jenen Substanzen angereichert, die in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wie herrenlos auf den Straßen herumlagen: Surrealismus und Subversion, Psychoanalyse und Dekadenz. 

Der Weg des professionellen Voyeurs

Nach der von den Nazis erzwungenen Emigration, die den großbürgerlichen Playboy – diesen „professionellen Voyeur“, wie er sich selbst einmal genannt hatte – über Triest nach Singapur und von dort nach Australien gebracht hatte, entwickelte Newton eine fotografische Formensprache, in der es von archetypischem Vokabular nur so zu wimmeln schien. Besonders aber nach seiner erneuten Rückkehr nach Europa – 1956 zog er nach London, 1961 schließlich nach Paris – war sein bildnerisches Universum eher einem Traumfänger denn einem Konversationslexikon entnommen. Denn solch ein Traum schert sich wenig um die guten Sitten, im Schlaf gebiert er seine Gespenster und hat es faustdick hinter den Ohren.

So zerrt Newton bald alles ans Licht, was an Trieb und Abwehr in uns haust: all die „alten und dreckigen Götter“, von denen schon Sigmund Freud geglaubt hatte, dass wir noch immer von ihren Geschichten durchwoben seien. Auf Newtons Fotografien sieht man sie wie einst den Gottvater Zeus als Meister einer großen Verstellung: Mal treten sie in den Kleidern von Butlern oder Dienstmädchen auf, mal zeigen sie sich als Doppelgänger oder maschinelle Musen. Mittels Spiegelungen und Leinwänden und unter Rückgriff auf Screens und Monitore dringt der Blick immer tiefer in jene Schichten vor, die dem Wachbewusstsein nicht zugänglich sind. Kaum dass man die wesentlichen Blickachsen solcher Bilder durchdrungen hat, öffnet sich eine Tür, und es tut sich eine weitere, eine unverhofft neue Perspektive auf die Ereignisse auf.

Angst vor Tiefe und Ambivalenz?

So segelt man denn durch ein schier unendliches Gebiet der Sirenen. Mit den Augen des Fotografen durchlebt man sexuelle Ambivalenzkonflikte oder bindungsphobische Komplikationen, und wie einst der griechische Jüngling Hylas erfährt man die Zwiespältigkeit von Tod und Leidenschaft. Da zu meinen, Newtons Bilder ließen sich auf ein pornografisches Affekttheater reduzieren, würde das auf ihnen dargestellte Drama nicht nur verkürzen, es drehte es von den Füßen direkt auf den Kopf: Pornografie nämlich, das ist laut Botho Strauß ein „privatpsychopathisches Unternehmen“, es setzt weder auf Dialoge noch auf narrative Emotionen, es geht dem Pornografen einzig um oberflächliche Affektmassen und um vollkommene Transparenz. 

Ganz anders hingegen der Erotiker: „Er unterscheidet sich vom Pornografen durch seine Indirektheit und Umwegigkeit.“ So zumindest hat einst der Philosoph Byung-Chul Han jene Figur zu charakterisieren versucht, zu der zweifellos auch Helmut Newton gehörte. Dieser Erotiker liebe szenische Distanzen; Verzögerung, Verlangsamung und Ablenkung seien seine zeitlichen Modalitäten. Der Erotiker sei nie nur oberflächlich, und in dieser Hinsicht stünde er quer zur Zeit. Die nämlich habe das Glatte zu ihrer Signatur erkoren. Die Tiefenstrukturen der Begierden, die lachenden und zuweilen dreckigen Götter, die Wunde, die uns durchwühlt und erschüttert – all das hat keinen Platz in unserer ästhetischen wie ethischen Flachheit. 

Gut möglich also, dass hinter den Sexismusvorwürfen, die dieser Tage oft und allzu schnell auch gegen andere Künstlerinnen und Künstler ins Feld geführt werden, am Ende doch etwas anderes steht: Es ist eine Angst vor Tiefe, vor der Ambivalenz des Daseins, vor der Negativität, ohne die das Positive niemals zu haben sein wird. Weit unten in der Welt sind wir durchzogen von Brüchen.

Gerade die Spätmodernen aber, die allen Göttern abgeschworen und allen Mythen längst entsagt haben, gerade die lässt diese Tiefe schaudern. Doch am Ende helfen nicht Bilderverbote und nicht psychogene Blindheitswünsche. „Im Unbewussten“, so Freud, „sind wir ohnehin sehend.“ Wir mögen es anerkennen oder nicht: Am Ende werden die Götter lachen, zu guter Letzt bleibt Amor Sieger.

Diesen Text finden Sie in der November-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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