Flockdown - Was unser Sprechen vom Wetter über die Lage des Landes verrät

Ein paar Tage Schnee, und das Land befindet sich angeblich im Schneechaos. Der „Flockdown“ ist eine auffallende Parallele zur generellen Lage der Debatte in Deutschland. Wie wir aus dem Strudel ständiger Übertreibungen herauskommen.

Ein Land im Flockdown. Geht es nicht eine Spur kleiner? / dpa
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Jens Nordalm leitete bis August 2020 die Ressorts Salon und Literaturen bei Cicero.

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Heute heißt es Schneechaos, früher nannte man es Winter. Von „Schneemassen“ ist sofort die Rede, wenn und wo der Schnee überhaupt nur liegenbleibt. In Bildunterschriften „kämpfen sich“ Fahrradfahrer durch den Schnee, obwohl sie einfach auf ihm fahren. „Sibirisch“ und „extrem“ sind bereits hohe einstellige Minusgrade – wo schon der Mittelgebirgs-Sauerländer in den 80ern ganz anderes gewohnt war.

Das Phänomen ist nicht völlig neu. Dass die Einschätzungen relativ sind, kennen wir. Wetter liegt im Auge des Betrachters. Was man auf der Südhalbkugel Regenzeit nennt, heißt in Großbritannien Sommer. Ein Australier wunderte sich in London, als man lang über eine „Hitzewelle“ um die 30 Grad stöhnte, Hitzewelle sei, wenn Tierkadaver die Straßen säumten.

Parallelen zur gesellschaftlichen Debatte

Aber es scheint doch, dass heute die Alarmglocken immer früher und immer lauter schrillen. Eine auffallende Parallele zur Lage der gesellschaftlichen Debatten in diesem Land. Auch hier hat man sich gewöhnt, sehr schnell die gemäßigten Zonen zu verlassen. Früher nannte man es den Austausch von Argumenten, die Formulierung von Bedenken und Einwänden – und „herrschaftsfrei“ war wichtig; heute heißt es umgehend und herrisch „Leugnung“.

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Es gibt noch Leute, die es gelassener sehen. Endlich wieder Winter, sagt man in der Uckermark. Die Nachbarin im Dorf freut sich, vielleicht bald das erste Mal seit Jahren wieder Eisangeln gehen zu können, wie sie es jahrzehntelang auf dem zugefrorenen See getan hat, mit Lagerfeuer mitten auf dem Eis! Als es in Madrid neulich schneite und schneite  wie seit Jahrzehnten nicht mehr, tobten die Kinder und Familien glücklich mit ihren Schlitten auf den Straßen. Können wir uns nicht mehr freuen?

Es schneit, und die Bahn fährt nicht mehr. Es stürmt, und sie fährt auch nicht mehr. Es friert, und sie fährt wegen der vereisten Oberleitungen ebenfalls nicht mehr. Und die Schneemänner werden auch immer schlechter. (Es ist bestimmt der letzte Winter, wo man sie ungestraft so nennen kann: „-männer“ …) Was man auf dem Spaziergang in Berlin neulich an Exemplaren sah, war beschämend.

Schönwetterrepublik?

Sind wir eine Schönwetterrepublik? Ist es so, dass vieles bei uns nur dann gelingt, wenn die Luft lau ist? Auf den Gedanken kann man kommen. Die Dinge, die unter dem Druck der Pandemie nicht so gut laufen wie nötig, werden gerade oft aufgelistet. Und täglich wird die Liste länger. Der Soziologe Harald Welzer hat zuletzt von der „großen Kränkung“ gesprochen, die diese Erfahrung für uns Deutsche bedeutet. Dass wir nicht wirklich da sind, wo wir uns gern sehen – ganz vorn. Welzer ist nicht optimistisch, dass die Kränkung zu einem Aufbäumen zum Besseren führt.

Was fehlt? Vielleicht kommt es einem nur so vor – und wir sind ja auch vorsichtig geworden mit großen Projekten, an denen das ganze Volk beteiligt sein soll: Aber fehlt uns vielleicht so etwas wie eine Lust auf den Stolz, etwas als Nation gut geschafft zu haben? Und wenn es nur ist, dass etwas gut funktioniert, wenn es sein muss und wenn wir es brauchen?

Schnee von gestern

Aber „Nation“ ist ja das nächste Problem. Auch damit haben wir’s nicht mehr. Dabei wäre das doch eine schöne Geschichte: Wir setzen unseren Ehrgeiz darein, als Nation ein konstruktiveres Debattenklima hinzukriegen, Mängel in Behörden, Institutionen und Infrastrukturen zu beheben, bald wieder vieles auf zu machen, dabei die Lage mit klugen, gezielten und flexiblen Konzepten im Griff zu behalten und vor allem Kindern und Jugendlichen schnell wieder auf die Beine zu helfen.

Vielleicht wäre das ein erster Schritt dahin: Fangen wir an, Schnee Schnee zu nennen und Winter Winter. Sehen wir nicht alles als eine Heimsuchung, was uns unbequem ist. Jeder Schnee ist früher oder später Schnee von gestern. Und bis dahin: „Der Winter wird schwer, aber er wird enden.“ (Angela Merkel)

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