Der Flaneur - Nachruf auf den Anzug

Ein Anzug ist weder sportlich noch zwanglos – und verströmt auch nicht aus jeder Stoffpore den Duft von Spaß und Freizeit. Kein Wunder, dass unser Kolumnist Stefan aus dem Siepen immer weniger Männern in Anzügen begegnet. Ein Abgesang auf ein Kleidungsstück, das im Widerspruch steht zu den maßgebenden Tendenzen der Zeit.

Damals noch angesagt: Bundeskanzler Gerhard Schröder beim Fitting eines Brioni-Anzugs im Jahr 1998 / dpa
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Autoreninfo

Stefan aus dem Siepen ist Diplomat und Schriftsteller. Von ihm erschien zuletzt im Verlag zu Klampen „Wie man schlecht schreibt. Die Kunst des stilistischen Missgriffs“. (Foto: © Susanne Schleyer / autorenarchiv.de)

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Man kann eine halbe Stunde lang durch eine beliebige deutsche Stadt flanieren, ohne einem einzigen Mann im Anzug zu begegnen. Fast ist es schon müßig, danach Ausschau zu halten – so wie es in früherer Zeit müßig gewesen wäre, einen Mann in Schlappen und Bermudashorts zu suchen. Allenfalls sind hier und da noch Restvarianten zu entdecken, die aber eigentlich nicht zählen: labbrige Modelle von trostlosem Schnitt, ohne Krawatte, ohne Einstecktuch, ohne Bügelfalte, von der Weste gar nicht zu reden – simple Basiskleidungsstücke, die einem Altbau ähneln, an dem der Stuck abgeschlagen wurde. Das Weglassen der Accessoires ist das Vorspiel zum Weglassen der Hauptsache.

Seien wir gerecht: Der Anzug steht im Widerspruch zu den maßgebenden Tendenzen der Zeit, daher ist es vermutlich nur folgerichtig, eine fällige Strafaktion, dass er von der Bildfläche verschwindet. Hier ein kleiner Ausschnitt aus der langen Liste seiner anachronistischen Eigenschaften:

Stoffgewordene Seriösität

Erstens ist der Anzug nicht zwanglos und sportlich, verströmt nicht aus jeder Stoffpore den Duft von Spaß und Freizeit; vielmehr sieht er nach ernsthafter, um nicht zu sagen: bürgerlicher Arbeit aus, bei der spielerische Elemente eher am Rande vorkommen. Auch für das Homeoffice ist er ungeeignet; denn dieses wird auf dem ersten Wort betont, verlangt daher nach T-Shirt und Wohlfühlhose.

Zweitens ist der Anzug nicht infantil. Selbst in seinen lockersten Ausprägungen setzt er sich nicht aus fünf verschiedenen Farben zusammen und trägt keine lustige Aufschrift. Wer auf Dauer­jugendlichkeit Wert legt, sollte ihn dringend meiden. Er setzt einen 30-Jährigen dem Risiko aus, für 40 gehalten zu werden, und behindert die Versuche des 70-Jährigen, als 50-Jähriger durchzugehen.

Drittens kann man den Anzug nicht online kaufen. Sacco, Hose und Weste müssen nicht nur zueinander, sondern auch auf den Leib passen. Dies gehört zu der letzten Handvoll von Dingen, die sich am Bildschirm nur schwer abschätzen lassen, daher zwingt es den Homo digitalis, ein steinzeitliches Ladengeschäft aufzusuchen.

Viertens ist der Anzug nicht authentisch. Wer ihn trägt, sieht jeden Tag gleich oder ähnlich aus, teilt seinen Mitmenschen nicht schon auf den ersten Blick mit, wie er sich fühlt. Auch verhüllt der Anzug einen großen Teil des Körpers, trägt nicht alle seine individuellen Eigenschaften unbeschwert zur Schau – weder den Trainingsgrad des Bizeps noch die Fröhlichkeit des Bauchumfangs noch die Pracht der tätowierten Wade. 

Anzug wird zur Uniform

Gewiss, es gibt noch ein paar Schutzgebiete, in denen der Anzug sein vom Aussterben bedrohtes Dasein weiterfristen darf, so wie die letzten Nashörner oder Streifenantilopen. In der Berliner Philharmonie etwa sind die Kartenabreißer und Garderobenfrauen rührend traditionell gekleidet, sie tragen Anzug und Kostüm in Dunkel­blau. Unter den Gästen, versteht sich, tut es ihnen kaum jemand gleich, alle ästhetischen Abweichungen werden genussvoll vorgeführt.

Das erinnert an die Zeit des Feudalismus: Der Adel verlangte von seinen Bedienten, dass sie jederzeit makellos gekleidet waren, während er sich selbst das Recht zugestand, die Jacke aufzuknöpfen und die Füße auf den Tisch zu legen. Das Konzertpublikum erfreut sich an einer stilistischen Bemühung, die es selbst nicht mehr erbringen will. Der Anzug wird zur Kulisse, zum Teil des Erlebnisses, und damit passt er sich wieder der Tendenz der Zeit an: als Gag und Event.

 

Dieser Text stammt aus der Oktober-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

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