Der Flaneur - Über den deutschen Kleidungsstil

Mode war schon immer im Wandel. Inzwischen sind alle Kleidungsstile vertreten, doch niemand hat Stil. Früher bedeutete formlose Kleidung ein Aufbegehren. Und heute?

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Manager und Wirtschaftsbosse legen neuerdings gern die Krawatte ab. Wollen sie uns zeigen, dass sie anständig sind? / picture alliance
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Stefan aus dem Siepen ist Diplomat und Schriftsteller. Von ihm erschien zuletzt im Verlag zu Klampen „Wie man schlecht schreibt. Die Kunst des stilistischen Missgriffs“. (Foto: © Susanne Schleyer / autorenarchiv.de)

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Geht man durch eine beliebige deutsche Straße, sagen wir: über den Kurfürstendamm am Wochenende, benötigt man erhebliche Geduld, um eine einnehmende Erscheinung zu entdecken. Fast jedermann ist schludrig und geschmacksarm gekleidet, zugleich mit der beschwingten Selbstgewissheit, die aus der Ahnungslosigkeit erwächst. Alle Stile sind vertreten, doch niemand hat Stil. Einfache Faustregeln, die früher das Furchtbarste verhinderten, gelten nicht mehr. Selbst wer große Summen in seine Kleidung steckt, greift zum Bedauerlichen – in einem ökonomisierten Land wie dem unsrigen eine verblüffende Fehlallokation. Einst war das Motto des englischen Gentlemans: „Only God forgives the badly dressed.“ Dies passt nicht mehr in unsere Zeit. Die schlecht Gekleideten treiben es so arg, dass selbst die Barmherzigkeit Gottes überfordert ist.

Die Kleidungsrevolution der sechziger Jahre hat ein Trümmerfeld hinterlassen, und die Aufräumarbeiten kommen nicht in Gang. Die Zerstörung war nicht kreativ, brachte keine neuen Regeln hervor, sondern führte zu einer Narkotisierung des Geschmacks. Als einfacher Flaneur denkt man sich: Wenn alle Tabus gebrochen sind, könnte man doch zu geordneten Verhältnissen zurückkehren?! Aber nein, ein letztes Tabu bleibt bestehen, eben die Rückkehr zu geordneten Verhältnissen.

Ablehnung der guten Form 

Früher bedeutete formlose Kleidung ein Aufbegehren. Man protestierte gegen die Verlogenheit bürgerlicher Formzwänge, gegen die Entfremdung im Kapitalismus und gegen allerlei sonst. „Épater le bourgeois!“ war der Kampfruf. Damit ist es lange vorbei, und das liegt nicht nur am Rückgang der Französischkenntnisse. Die Leute lehnen noch immer die gute Form ab, doch tun sie es ohne Sinn und Zweck, einfach so. Mancher gebildete Hippie soll noch dem „guten Wilden“ Rousseaus nachgeeifert haben; von diesem hat der Schmuddelmann unserer Tage nichts gehört. Er ist ein rebel without a cause.

Der polnische Literaturwissenschaftler Andrzej Wirth erklärte: „Eine Weltstadt ist eine Stadt, in der man einen Hut tragen kann.“ Als er in den neunziger Jahren in Berlin den Praxistest machte und mit Hut durch die Straßen ging, fehlte nicht viel, und man hätte ihm denselben vom Kopf geschlagen. Heute brauchte er sich keine Sorgen mehr zu machen. Die Leute tragen zwar noch immer keinen Hut, doch ist ihnen auch gleichgültig, ob andere einen tragen. Everything goes! Die Ansprüche sind so gering, dass selbst ein großer Anspruch durchgeht.

Das Gute ist das Schöne, und das Schöne ist das Gute!

Schon in der Antike war die Auffassung verbreitet, dass einem vornehmen Inneren ein vornehmes Äußeres entsprechen solle. Der Kalos-Kagathos des klassischen Athens, eine frühe Ausprägung des Gentlemans, bemühte sich gleichermaßen um den Adel seiner Seele wie um den Schnitt seiner Kleidung. Das Gute ist das Schöne, und das Schöne ist das Gute! Dieses Leitbild wurde über die Jahrtausende gepflegt, erst die jüngste Moderne hat ihm einen Tritt versetzt. Inzwischen scheinen sich die Dinge umzukehren: Gute Formen werden für einen Ausweis niederer Gesinnung gehalten. Als vor Jahren die Finanzkrise ausbrach, erklärte man flugs, die gepflegten Manager-Umgangsformen dienten bloß dazu, ein ruchloses Verhalten zu kaschieren. Krawatte und Nadelstreifen als Maske der Geldseele.

Was die guten Formen in der Wirtschaft angeht, scheint Abhilfe in Sicht. Manager legen neuerdings gern die Krawatte ab. Wenn ein Diesel-Gipfel tagt, sieht man legere Gestalten. Wollen sie uns zeigen, dass sie anständig sind?

Dieser Text stammt aus der April-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Online-Shop erhalten.










 

 

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