Europäische Kulturhauptstädte - Schon schön schlau

Seit 35 Jahren gibt es die europäischen Kulturhauptstädte. Was erzählen sie von unserem Kontinent? Und was bleibt von ihnen, wenn das Spektakel vorüber ist? Eindrücke aus Marseille, Mons und Matera

Erschienen in Ausgabe
2019 darf sich Matera mit dem Titel der Europäischen Kulturhauptstadt schmücken / picture alliance
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Björn Hayer ist habilitierter Germanist und arbeitet neben seiner Tätigkeit als Privatdozent für Literaturwissenschaft als Kritiker, Essayist und Autor.

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Was ist Europa? Ein Erbe der Aufklärung und des Christentums? Kontinent der großen Erfinder und Denker oder nur ein Wirtschaftsraum? Wohlklingend, aber auch nicht befriedigend ist die Rede vom europäischen Esprit. Dass diesem guten Geist weder eine staatenübergreifende Agrarpolitik noch eine gemeinsame Währung gerecht werden kann, haben die Mitglieder des EU-Ministerrats früh erkannt und am 13. Juni 1985 auf Geheiß der damaligen griechischen Kulturministerin Melina Mercouri mit einem bis heute populären Programm reagiert: mit der jährlichen Ausrufung zweier Kulturhauptstädte. Bevor aber die Touristen und Kulturreisenden sich zur gekürten Pilgerstätte aufmachen, stehen langwierige Mentoringprozesse und Planungsarbeiten an. Was daraus folgt, ist ein Jahr lang Feuerwerk: Ausstellungen, Filme, Theater, Performances sowohl zu regionalen als auch europäischen Aspekten.

Doch was passiert nach der gigantischen Feier? Kann Ruhm nachhaltig sein? Und welche Vorstellungen von Europa geben die ausgezeichneten Orte her? 35 Jahre nach der Beschlussfassung, erstmals ausgerichtet 1985 in Athen, lohnt eine Zwischenbilanz zum Konzept der Kulturhauptstädte, die sich exemplarisch an drei nunmehr ehemaligen, sehr unterschiedlichen Titelträgerinnen ziehen lässt: Marseille an der Côte d’Azur (2013), Mons in der belgischen Wallonie (2015) und Matera in der Basilikata, die sich die Prämierung 2019 mit der bulgarischen Stadt Plowdiw teilte.

Neues Image für Matera

Fast jeder kennt die kleine Stadt Süd­italiens, auch wenn er noch nicht dort war. Um die 150 Kinowerke wurden bisher in Matera gedreht, darunter die Passionsfilme von Pier Paolo Pasolini und Mel Gibson, aber auch im kommenden „James Bond“ wird sie als Kulisse zu sehen sein. Einst galt sie, wie man heute dort allenthalben noch hört, als die Schande Italiens, da die Menschen dort seit der Vorzeit in Höhlen hausten. Obgleich inzwischen die Moderne in Matera Einzug gehalten hat, leben noch immer viele in den sogenannten Sassis, die sich in zahllosen Gassen unterhalb des Doms erstrecken. Neben diesen Wohnstätten wurden ganze Kirchen aus dem Bergfels geschlagen, überall kann man uralte Fresken besichtigen. Kulturreisende gehören längst zum Stadtbild. Warum braucht solch ein touristisch hoch frequentierter Ort den Titel der europäischen Kulturhauptstadt, kann man sich fragen, wenn man auf der sonnengefluteten und von Menschen stets belebten Piazza Vittorio Veneto sitzt.

Michele Spatari/Visions of Europe

Ariane Bieou, eine der leitenden Projektmanagerinnen, die seit der Planungsphase vor Ort dabei ist, gibt eine überzeugende Antwort: „Wir haben Matera zu einer Bühne gemacht, auf der es möglich wurde, das lange vorherrschende schlechte Image abzustreifen. Wir wollten es erneuern. Daraus erklärt sich auch unser Motto ‚Matera. Open Future‘.“ Wer an einem der vielen Festivalangebote teilnimmt, erkennt schnell das Prinzip. Es geht um Umdeutung und Neubesetzung. Anschaulich wird dies in der Theaterperformance „Humana Vergogna“.

Thematisch setzen sich hierin fünf Künstler mit dem Thema der Scham auseinander. Eine von ihnen, Antonella Iallorenzi, äußert dazu, „dass wir das, was uns auch in unseren Kulturen oder ganz persönlich unangenehm ist, in etwas Schönes übersetzen“. Ob das eigene Masturbationsverhalten oder Probleme, die das Aufwachsen zwischen mehreren Kulturräumen mit sich bringt: Neben dem gängigen Mittel der ironischen Brechung nutzen manche Szenen über Peinlichkeiten getragene Renaissancemusik, wodurch das, was man gern verschweigen würde, in Erhabenheit aufgeht.

Moderne gegen Tradition

Obwohl die Inszenierung zum Großteil in italienischer Sprache dargeboten wird und in dieser Hinsicht gerade für ein internationales Publikum wenig attraktiv anmutet, demonstriert sie eine Gemeinsamkeit inmitten verschiedener nationaler Prägungen: das umfassende Gefühl des Getrenntseins aufgrund von Herkunft oder Sozialisation. „Indem wir aber die Schranken aufheben, durch Kunst, die immer neue Sichtweisen bringt, versuchen wir“, so Iallorenzi weiter im Gespräch, „dasjenige Europa wiederaufzubauen, das wir in den letzten Jahren verloren haben, als es noch einen stärkeren Zusammenhalt gab.“ Man forciert dabei keinerlei Gleichmacherei unterschiedlicher Lebensstile, sondern eher das Vermögen, diese anzuerkennen und produktiv zu gebrauchen.

Auch in der sehenswerten Fotoausstellung „Visions from Europe“ im Museo della Fotografia Pino Settanni bewährt sich dieser Ansatz. Die Exponate offenbaren das neue wie das traditionelle Matera. Während ein Bild einen alten, in die karge Berglandschaft schauenden Bauern zeigt, weist ein anderes auf das spätmoderne Matera hin: Wir sehen eine dunkelhäutige Frau vor der Stadtkulisse. Sie trägt ein weißes Kleid sowie einen in der Luft gleitenden blauen Seidenschleier. Jenseits des orientalisch-magischen Ausdrucks zeugt das Werk von einer Kleinstadt, in der Migration und Globalisierung angekommen sind. „Das Lokale und das Europäische treffen hier aufeinander“, sagt der Leiter des städtischen Fotografievereins, Roberto Linzalone, „und zwar nicht nur thematisch. Denn die Bilder wurden von 35 Fotografen – teils in Kooperationen – aus unterschiedlichen europäischen Ländern erstellt. Sie alle kamen nach Matera und haben ihren ganz eigenen Blick auf das Leben hier geworfen.“

Michele Spatari/Visions of Europe

Mit derartigen Werkschauen gibt sich Matera als Kaleidoskop vieler Farben und Schattierungen zu erkennen. Es ist mehr als bloß eine Stadt, die auf den ersten Blick wie Jerusalem ausschaut und nur für Historienschmöker herhalten kann. Man interpretiert sich neu und stellt, wie die Kulturmanagerin Ariane Bieou betont, „eine andere Seite Europas heraus, nämlich die des Südens. In den Sassis kommen die Menschen auf engstem Raum miteinander klar. Nachbarschaft ist hier ein existenzielles Element. Vielleicht war auch aus diesem Grund die Beteiligung der Bevölkerung bei allen Projekten so außerordentlich hoch.“

Große Herausforderung der Finanzierung

Was nach 2020 aus der Vielzahl an Kulturevents wird, ist noch ungewiss. Dabei sehen die Leitlinien der Europäischen Kommission für die Kulturhauptstädte mittlerweile zwingend eine längerfristige Strategie vor. Weiterhin müssen die Bewerber dezidiert eine kulturelle und künstlerische Ausrichtung, also ein mehr oder weniger bestimmtes Thema, die europäische Dimension, ein geeignetes Management und die nötigen Kapazitäten nachweisen und darlegen, inwiefern die Bevölkerung in den Planungsprozess involviert wird. Sind diese Kriterien erfüllt, entscheidet eine Expertenjury über die Vergabe. Die Gewinner werden während der Konzipierung immer wieder Mentorings unterzogen, bis das eigentliche Jahresspektakel ansteht. Als problematisch erweist sich nur – so die oft zu vernehmende Kritik –, dass man als ausgewählte Stadt gewissermaßen stets ins kalte Wasser geworfen wird. Ein Erfahrungsaustausch mit den Direktoren und Managern der Kulturhauptstädte ist seitens der EU-Behörden kaum institutionalisiert.

„Die Vernetzung mussten wir selbst organisieren“, hält Caroline Kadziola fest, die Generalsekretärin der Stiftung Fondation Mons 2025, die sich im Anschluss an das Förderjahr 2015 die längerfristige kulturelle Entwicklung der Stadt zum Ziel gesetzt hat. Die weitaus größere Herausforderung betrifft jedoch die Finanzierung, gerade unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit. Um das Kulturhauptstadtjahr zu stemmen, gab es für die wallonische Kleinstadt einen Etat von 70 Millionen Euro, gespeist aus Quellen der Wirtschaft, Region und der Kommune. Von der EU kommen in der Regel nicht mehr als 1,5 Millionen, was nicht mal annähernd die Kosten eines deutschen Stadttheaters in einer Saison deckt.

„Die lokalen Akteure haben von Anfang an darauf gesetzt, das Geld für Institutionen so einzuplanen, dass diese auch in Zukunft bestehen können. Zudem haben wir mithilfe der gegründeten Stiftung eine sehr erfolgreiche Biennale ins Leben gerufen“, so Kadziola, deren Lob der Bürgermeister teilt, ein smarter Start-up-Typ, der das Kulturprogramm vor allem unter dem Gesichtspunkt der Strukturförderung betrachtet: „Wir hatten positive Effekte für die Wirtschaft. Unser Ziel muss es weiterhin sein, die Innenstadt zu beleben und die Menschen – auch durch Kunst – wieder ins Zentrum zu locken.“

Der kulturelle Wert

Nötig ist das allemal. Denn Mons ist ein verschlafenes Nest. Seitdem sich vor den Toren der Stadt eine der größten Shoppingmalls Belgiens befindet, haben viele Geschäfte – angeblich wegen der Sommerferien – geschlossen. Manche Straßen muten geisterhaft an. Und dennoch hat dieses Städtchen seinen Charme. Im Rahmen der Kulturhauptstadt widmete man sich insbesondere der Vorstellung einiger für die Stadt wichtiger Persönlichkeiten, darunter Vincent van Gogh, der dort von 1879 bis 1880 lebte und dessen Wohnhaus inzwischen zur Besichtigung geöffnet ist. An weiteren kulturellen Gelegenheiten mangelt es nicht. So verfügt Mons über ein Theater und ein sehr sehenswertes Museum für moderne Kunst. Seit dem Jahr der Kulturhauptstadt findet man zudem in einer ehemaligen Kirche die Artothek mit Werken regionaler Künstler sowie das Mons Memorial Museum.

An dessen militärgeschichtlicher Ausstellung lässt sich vielleicht am besten der kulturelle Wert des Ortes für Europa beobachten. Denn 1914 trafen in Mons die deutschen und britischen Truppen aufeinander, und 1944 drängten die Westalliierten die Wehrmacht an diesem Punkt zurück. Heute repräsentiert der Bau mit über 5000 Exponaten von gefallenen Soldaten lebendige Erinnerungskultur. Dass aus der Frontlinie, wo sich Menschen bekämpften, ein Ort gemeinsamen Gedenkens hervorgegangen ist, veranschaulicht ein schlichtes, aber aussagekräftiges Holzkreuz mit der Aufschrift „L’Anglais et l’Allemand“.

Geschichte bedeutet darüber hinaus eine Vielzahl von Geschichten, die man im europäischen Kulturraum immer wieder in ähnlicher Weise entdecken kann. Zum Beispiel christliche Legenden. Man denke nur an die prominenten insularen Pilgerstätten Mont St. Michel in der Normandie oder St. Michael’s Mount im Südwesten Cornwalls. Wie in ihren Ikonografien vom Erzengel, der das Böse bezwingt, hält auch Mons eine eigene Sage der Drachentötung bereit. Nachdem im 13. Jahrhundert der heilige Georg hier eine feuerspeiende Riesenechse getötet haben soll, findet in den Straßen der Kleinstadt inzwischen ein alljährliches Volksfest statt, in dem der Kampf des Recken gegen das symbolisierte Übel nachgestellt wird. Diesem im europäischen Denkkosmos verankerten Spektakel widmet sich das ebenfalls 2015 eröffnete und überaus sehenswerte Doudou-Museum.

Ein wichtiger ökonomischer Katalysator

Obgleich das belgische Mittelzentrum durch das EU-Kulturförderprogramm sicherlich nicht zu einer Lichtgestalt im urbanen Olymp des Kontinents aufgestiegen ist, hat es massiv davon profitiert. Mons ist in gewisser Hinsicht exemplarisch für die unausgesprochene Auswahlpolitik der Expertenjury. Nicht selten entscheidet sie sich für Regionen, die durch Strukturwandel gezeichnet sind. Wie die 2003 gekürte Kulturhauptstadt Glasgow, die durch die Schließung von Kohleminen und Stahlwerken eine wirtschaftliche Talfahrt erfahren musste, von der sie sich erst in den neunziger Jahren langsam erholte, liegt auch Mons in einem ehemaligen Tagebaurevier.

Mit dem Niedergang der Wirtschaftskraft stiegen Arbeits- und Perspektivlosigkeit der Bevölkerung. Erst durch hohe Investitionen der Regierung und der EU kam es zu einer Verbesserung der Lebensverhältnisse. Darauf setzt nunmehr auch das neben dem irischen 80 000-Einwohner-Städtchen Galway für das aktuelle Jahr prämierte urbane Mittelzentrum Rijeka in Kroatien. Ehemalige Produktionshallen sollen durch Kulturangebote neu erschlossen oder umfunktioniert werden. Statt der Industrie stehen unter dem Motto „Hafen der Vielfalt“ das mediterrane Flair sowie das liberale Lebensgefühl in dem von ethnischen Spannungen gezeichneten Land im Vordergrund.


Die Fotoserie „Visions from Europe“ in Matera fand auch steinerne Zeugen eines Willens zur Kunst / Michele Spatari/Visions of Europe

Die Geschichte und Vision zeigen: Der Titel Kulturhauptstadt erweist sich stets als wichtiger ökonomischer Katalysator, insbesondere für den noch immer anhaltenden Tourismus. Mons konnte bisher alle 2015 neu eröffneten Museen in Betrieb halten. Die Kultur fiel nicht dem Sparkurs zum Opfer. Im Gegenteil: Sie ist und bleibt Teil der kommunalen Gesamtstrategie. Für ein kleines Zentrum inmitten einer einstigen Kohleprärie stellt so ein Akt eine herkulische und daher lobenswerte Aufgabe dar.

Kaum Klischees übrig geblieben

Doch wie verhält es sich mit einer prämierten Großstadt? Marseille, die älteste und mit über 800 000 Einwohnern zweitgrößte Stadt Frankreichs, hat vergleichbar mit Matera und Mons auch keine leichte Entwicklung hinter sich, zumindest seit dem Ende der Kolonialzeit, in welcher die Hafenstadt einst zu Blüte und Reichtum gelangt war. Auf den Einbruch des Handels folgte die Deindustrialisierung. Ab Mitte der siebziger bis in die neunziger Jahre hinein stiegen die Arbeitslosenzahlen. Kamen hierzu noch hohe Einwanderungsraten, waren soziale Konflikte programmiert. Bandenkriege, hohe Kriminalitätsrate, eine massive Dichotomie zwischen den Armen im Norden und den Reichen im Süden der Stadt – über mehrere Dekaden entstand das Bild vom Schmutzkind der Côte d’Azur.

Heute flaniert man durch eine mondäne Hafencity. Von damaligen Klischees spürt man kaum noch etwas. Heller Pflasterstein, reges Café-Leben und mediterranes Licht prägen die Straßen. Dass der alte Hafen heute das Aushängeschild und Schmuckstück ist, verdankt sich unter anderem dem von den Londoner Architekten Foster & Partner errichteten Pavillon. Im Zuge der Neugestaltung des Vieux Port anlässlich der europäischen Kulturhauptstadt 2013 wurde er, eine riesige Spiegelfläche von 46 auf 22 Metern, auf mehreren Stahlstützen errichtet. Marseille bespiegelt sich und seinen zukünftigen Horizont hier selbst.

Brauchte es die EU?

Gleichzeitig laufen hier die Fluchtlinien der wichtigsten Sehenswürdigkeiten zusammen. Oben, auf dem Berg, ragt das Wahrzeichen der Stadt über die Kulisse, die Notre-Dame de la Garde mit der goldenen Madonna auf der Spitze. Sie fungiert seit jeher als schützende Bastion der Seeleute. Einige Kilometer vor dem Hafen erblickt man das Château d’If. Auf der einstigen Gefängnisinsel soll dem Roman von Alexandre Dumas zufolge der Graf von Monte Christo inhaftiert gewesen sein. Und geht man den rechten Flügel am Wasser entlang, trifft man auf das große Vorzeigeobjekt, das anlässlich der Kulturhauptstadt gebaut wurde, auf das Mucem, das Museum der Zivilisationen Europas und des Mittelmeers. Konzipiert von den Architekten Rudy Ricciotti und Roland Carta, befindet sich der überragende Kubus mit seiner netzartigen Betonfassade neben dem Fort Saint-Jean aus dem 17. Jahrhundert. Da beide Gebäude durch eine schmale Brücke miteinander verbunden sind, signalisiert das Ensemble den Konnex zwischen der Vergangenheit und Gegenwart der Hafenstadt.

So trägt man auch der permanenten Ausstellung über die historische Genese der mediterranen Kulturen Rechnung. Von Ackerbaugeräten über Waffen und Schriftdokumente bis hin zu virtuellen Karten über Besiedelungsprozesse diverser Mittelmeerregionen geben die Exponate im Inneren des faszinierenden Baues Auskunft. Er verkörpert den futuristischen Leuchtturm der Stadt. Von hier ist es nur ein Sprung zum bekannten und ebenfalls 2013 restaurierten Künstlerviertel und zur majestätischen Kathe­drale Sainte-Marie-Majeure de Marseille.

Traumhafte Architektur, helles Sonnenlicht, der Duft der See, ein breites kulturelles Angebot. Alles gut, könnte man meinen, und doch stellt sich die Frage, ob diese französische Megacity den Titel und die Zuwendungen durch die EU überhaupt gebraucht hätte. Rund 600 Millionen umfasste der Etat der Stadt für Veranstaltungen und Neubauten. Hätte Marseille das nicht auch ohne das Branding und die Portokasse von 1,5 Millionen der EU stemmen können? Und wie sinnvoll ist eigentlich die Investition in einen neuen Megabau?

Eine attraktive Stadt des Südens

Von der Stadtverwaltung will mit Cicero niemand offiziell unter Angaben von Namen reden, und auch der Mucem-Direktor stand trotz mehrfacher Anfragen nicht für ein Interview zur Verfügung. Stattdessen hört man immer wieder, dass lokale Künstler im Festivaljahr kaum involviert gewesen seien und das Projekt, das sich auf mehrere Städte in der Provence erstreckte, viel zu groß und unübersichtlich gewesen sei. Bitteres Fazit: Der kulturelle Effekt von 2013 ist mit Ausnahme weniger Großattraktionen verpufft.

Was den Besucherstrom betrifft, boomt hingegen das Geschäft. Im Gespräch verzeichnet die Präsidentin des Tourismusbüros, Dominique Vlasto, um die 100 Millionen Touristen seit 2013. „Die nördlichen Quartiere wurden zum größten Teil renoviert, immer mehr Hotels werden eröffnet und mit verschiedenen Biennalen wie der ‚Manifesta‘ und Festivals ist es uns gelungen, Marseille als eine attraktive Stadt im Süden zu präsentieren.“ Deutlich geworden sei auch „ein starker Zusammenhalt unter den Menschen. Wir sind eine durchmischte Stadt, und da ist es immer wichtig, die Kommunikation unter den Bewohnern zu stärken. Ich denke, dass wir das in den letzten Jahren immer besser geschafft haben.“ Sichtlich will man den Ruf der Stadt bereinigen, aber will man auch europäisch sein? Ein Großbau wie das Mucem und einige Sanierungen sind zweifelsohne beachtlich. Doch aus Zement allein entstehen noch keine Ideen, erst recht nicht für Europa.

Kritik ist angebracht

Welches Fazit lässt sich zum Konzept der europäischen Kulturhauptstadt ziehen? Sicherlich kann man festhalten: Es ist in summa ein Erfolgsmodell, obwohl Kritik angebracht ist. Was außer Frage steht, ist die umfassend belebende Wirkung des Programms für eine Stadt. Gerade für Regionen inmitten oder nach sozialen oder ökonomischen Krisen vermag es, sowohl nach innen, bezogen auf die Bewohner, als auch nach außen im Hinblick auf Touristen integrative Kräfte freizusetzen. Das Jahr sorgt für eine Frisch­luftkur, die den Staub von alten Fassaden wegpustet und die Grundlage für einen neuen Anstrich legt. Für kleine und mittlere Zentren ergibt sich ein größerer Mehrwert als für Großstädte, die ohnehin über genügend Kapazitäten verfügen.

Kritischer ist es um den Beitrag der Europäischen Union bestellt. Die Präsenz der Brüsseler Experten in den Städten ist mangelhaft. Würde die EU-Bürokratie mehr Unterstützung leisten, würde so manches in der Planung effizienter funktionieren. Auch die Anschubfinanzierung fällt, gemessen an dem enormen Eigenanteil der Regionen, derartig gering aus, dass man sich fragen muss, welcher Wert dem viel beschworenen europäischen Geist seitens der Brüsseler Entscheidungsgremien überhaupt beigemessen wird. Dass das Konzept der Kulturhauptstadt zumeist positive Effekte nach sich zieht, geht eindeutig und ausschließlich auf das Engagement vor Ort zurück. Brüssel ist und bleibt weit weg und bekommt von der Kultur, für die es wirbt, wenig mit.

Der Gedanke der europäischen Kulturhauptstadt

Noch wichtiger als die Überlegung, ob das Programm funktioniert, erweist sich jene, welche Aussagen es generiert. Wie hält man es mit Europa? Zweifelsohne darf man nicht mit einfachen Antworten rechnen, zumal alle bisherigen Kulturhauptstädte, unter denen sich in Deutschland auch Weimar und Essen finden, nicht auf einen Nenner zu bringen sind. Im Lissabonner Vertrag trifft man auf die etwas beliebige und paradoxale Formel: „In Vielfalt geeint“. Doch das bloße Nebeneinander von Beliebigem ist kein Nährboden, auf dem Nachhaltiges gedeiht.

Was aus dem Gedanken der europäischen Kulturhauptstadt jedoch resultiert, sind zwei sehr zentrale Bausteine für ein gelingendes europäisches Zusammenleben: Erstens schafft die Kulturhauptstadt einen gemeinsamen Erfahrungsraum, wo sich Menschen unterschiedlicher Nationen entweder als Künstler oder deren Rezipienten begegnen und sich über ihre Wahrnehmungen der jeweils fremden Gegend austauschen. Damit geht zweitens nicht einher, dass sich die Kulturen angleichen. Die höchst differenzierte Auswahl, die ost- und west- sowie süd- und nordeuropäische Urbanität umfasst, zielt gerade auf Differenz. Es gilt das Credo, Spannungen auszuhalten. Im besten Fall entsteht so ein gegenseitiges Verstehen.


Links unten: Steinbruch und Flora blieben in Matera über das Jahr der Kulturhauptstadt hinaus / Michele Spatari/Visions of Europe 

Vielleicht liegt genau hierin das wundervolle Geheimnis, das den Frieden dieses Kontinents sichert: im Geist der Aufmerksamkeit. So gesehen, könnte man den Titel der Kulturhauptstadt schließlich doch als ein Kind der Aufklärung begreifen, die Offenheit für den oder das andere lehrt. Das EU-Programm vermittelt diese Botschaft nicht in einem rein rationalen, sondern in einem genuin ästhetischen Sinn. Wir lernen die Schönheit Europas in ihren mannigfaltigen Ausprägungen kennen. Und beginnt nicht mit jedem Staunen die Akzeptanz, am Ende vielleicht sogar die freudige Bejahung des Unbekannten? Denn was fremd bleibt, das kann man nicht schätzen.

Dieser Text ist in der Januar-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

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