EU & römische Republik - „Das Abendland wird neu erfunden“

Innerer Zerfall oder Erfolgsmodell? Die späte römische Republik und die Europäische Union ähneln einander. Mündet diese heute wie jene damals in einen autoritären Staat? Ein Streitgespräch zwischen den beiden Althistorikern David Engels und Uwe Walter

Erschienen in Ausgabe
Droht der Europäischen Union so wie einst dem römischen Reich, im Museum zu enden? / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

So erreichen Sie Alexander Kissler:

Anzeige

Autoreninfo

Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

So erreichen Sie Alexander Marguier:

Anzeige

Kein Weihnachten ohne Augustus: „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde.“ Die Worte aus dem Lukas-Evangelium sind Bestandteil des abendländischen Kanons geworden, ja dessen Auftakt. Damit rückt eine Figur in den Blick, an der sich unsere Gegenwart messen lässt. Mit Augustus, Cäsars Neffen und Nachfolger, wurde die römische Republik abgewickelt. An ihre Stelle trat das zunächst Prinzipat genannte Kaiser­reich. Stehen solche Entwicklungen uns bevor? Bricht europaweit die Stunde der Autokraten an, die Sicherheit versprechen und Freiheiten kassieren? Wäre das Aufbruch oder Untergang? Darüber streiten zwei renommierte Althistoriker, ein Belgier und ein Deutscher

Herr Walter, hält die Geschichte der Antike Lektionen für die Gegenwart bereit?
Uwe Walter: Nein. Jedenfalls nicht in dem Sinne, dass die Geschichte Lehrmeisterin für das Leben wäre. Dafür sind Lebenswelten, Handlungsnormen und Vorstellungen der damaligen Menschen im Vergleich zur heutigen Zeit zu unterschiedlich.

Herr Engels, Sie sehen das wahrscheinlich anders. Immerhin ziehen Sie in Ihren Schriften explizit Parallelen zwischen der römischen Republik und der Europäischen Union.
David Engels: Ich glaube zwar auch nicht, dass man von der Geschichte konkrete Handlungsanleitungen erwarten sollte. Dafür sind historische Zusammenhänge mit ihren jeweiligen Einflussfaktoren viel zu komplex. Allerdings denke ich, dass ein Blick in die Geschichte zeigen kann, wieso es zwingend so kommen wird, wie es kommen muss.

Was bedeutet das im Blick auf die römische Republik der Antike?
Engels: Es existieren meines Erachtens massive Parallelen zwischen der späten römischen Republik und dem heutigen Westen. Ich denke da nicht nur an Massenarbeitslosigkeit, Verarmung, Globalisierung, Familienzerfall, Wertewandel, Politikverdruss oder Multikulturalismus, sondern auch an die allmähliche Entwicklung von einem freiheitlichen hin zu einem autoritären Staat.

Was war die römische Republik denn überhaupt für ein Staatswesen?
Walter: Es war zuallererst eine Machtmaschine, ein Gebilde, das in hohem Maße darauf abgestellt war, Macht zu generieren. Und zwar in dem Sinne, Regierungsorganen wie dem Konsul, aber auch Einzelpersönlichkeiten bis hinunter zum pater familias, dem Hausherrn, ein Maximum an Handlungsmöglichkeiten an die Hand zu geben. Gleichzeitig war die römische Republik eine Zertrümmerungsmaschine, die jeden Widerstand gegen sich brechen konnte. Das gipfelte in der Zerstörung Karthagos und Korinths 146 vor Christus. Den Krieg gegen Hannibal und die Karthager setzten die Römer 70 Jahre zuvor zum Erstaunen ihrer Gegner trotz hoher eigener Verluste einfach so lange fort, bis sie gesiegt hatten.

Trotzdem ist die römische Republik zugrunde gegangen und hat sich Ende des ersten Jahrhunderts vor Christus unter dem späteren Kaiser Augustus in einen autoritären Staat verwandelt.
Walter: Von Niedergang kann keine Rede sein. Wir sprechen immerhin von einer Zeit gigantischer Expansion: Gallien wird erobert, weitere Teile des Mittelmeerraums ebenso. Rom als staatliche Organisation mit einer Spezialisierung auf Gewalt besteht fort.

Uwe Walter: Der Althistoriker lehrt seit 2004 Allgemeine Geschichte an der Universität Bielefeld. Zuvor war er als Geschichtslehrer im Schuldienst tätig. Mit einer Arbeit zur „Geschichtskultur der römischen Republik“ habilitierte er sich. Er stammt aus dem hessischen Rotenburg an der Fulda

Herr Engels, Sie machen die Transformation der römischen Republik in ein autoritäres Regime an einer Zivilisationskrise fest. Warum ist Ihr Blick auf das Kaiserreich unter Augustus so pessimistisch?
Engels: Eine bloß geografische Expansion ist kein Indiz für die Gesundheit einer Gesellschaft. Cäsars genozidärer Feldzug gegen Gallien etwa war ein reiner Privatkrieg. Ähnliches gilt für den Krieg des Crassus gegen die Parther oder die Unternehmungen des Pompeius im Osten, deren Legalität im Senat hochumstritten war. Im Prinzip beginnt gerade mit diesen Feldzügen der Niedergang der römischen Republik. Wenn es nur um geografische Ausdehnung ginge, müssten derzeit ja auch die EU-Bürger mit der Europäischen Union extrem zufrieden sein. Bekanntlich sind sie es nicht…

Walter: Ich bitte Sie! Es gab keinen politischen oder gar zivilisatorischen Verfall der römischen Republik. Da verwechseln Sie Realgeschichte mit Diskursen, die damals über einen vermeintlichen Verfall geführt wurden. Sicher, schon im zweiten Jahrhundert vor Christus wurde nach griechischem Vorbild in bestimmten elitären Kreisen immer wieder über angebliche Dekadenz geklagt. Damals wurde auch ein Bevölkerungsschwund bedauert, obwohl die Einwohnerschaft Roms beständig wuchs. Nachwuchsprobleme gab es allenfalls innerhalb der römischen Aristokratie – weswegen Augustus dann familienpolitische Gegenmaßnahmen ergriff. Nur sollte man von einer kleinen Oberschicht nicht auf die Allgemeinheit schließen, wie Sie das tun, Herr Engels. Außerdem kann ich nicht erkennen, dass beim Übergang von der Republik zum Kaiserreich um 30 vor Christus die politische Teilhabe eingeschränkt worden sei. Auch das trifft höchstens auf den alten Adel und Teile der Bevölkerung in der Stadt Rom zu. Die politische Einbindung der Städte und der provinzialen Eliten Italiens wurde unter Kaiser Augustus sogar erweitert.

Engels: Eigentlich ist politisch völlig unerheblich, ob die damaligen Dekadenzdebatten der Realität entsprachen oder nicht, solange sie wirkmächtig waren. Heutzutage haben wir ja ganz ähnliche Probleme – man denke nur an die Diskussionen über Immigration, soziale Polarisierung, Bevölkerungsrückgang oder Globalisierung: Was letztlich an der Wahlurne zur Realität wird, ist das Empfinden der Menschen, nicht eine angebliche statistische „Wahrheit“. Zudem wäre ich vorsichtig, das letztlich von der gesamten spätrepublikanischen Elite geteilte Gefühl des Niedergangs nur deshalb als literarischen Topos zu bezeichnen, weil es nicht in die moderne Sichtweise der Geschichte passt.

David Engels: Der Autor von „Auf dem Weg ins Imperium. Die Krise der Europäischen Union und der Untergang der römischen Republik. Historische Parallelen“ (2014) lehrt Römische Geschichte an der Université libre de Bruxelles. Er wurde 1979 in Verviers geboren, unweit der deutschbelgischen Grenze

Womit genau haderten denn diese Eliten?
Engels: Etwa mit dem Zerfall des traditionellen Familienmodells, dem allgemeinen demografischen Niedergang, der sozialen Polarisierung, dem Verlust der kulturellen Identität, dem Aufstieg des Populismus et cetera. Und da alle gleichermaßen von diesem Empfinden ergriffen wurden, müssen wir das sehr ernst nehmen.

Walter: Herr Engels, Sie vermeiden für Ihre auf die Gegenwart bezogenen Analysen jegliche Sozialstatistik und berufen sich letztlich auf Demoskopie. Da lese ich dann lieber Sarrazin.

Engels: Was ist an Demoskopie schlecht?

Walter: Sie ist kein guter Indikator für Niedergang oder Verfall.

Engels: Ich spreche selbst ja auch nicht von Niedergang oder Verfall als empirischen Wertmaßstäben. Ich beschreibe lediglich, dass die späte römische Republik ihre Transformations- und Bewusstseinskrise als Verfall wahrgenommen hat. Und das hat letztlich zu den Bürgerkriegen und der Entstehung eines autokratischen Staates geführt. Da sehe ich ganz deutliche Parallelen zur Gegenwart. Auch die Menschen in der westlichen Gesellschaft haben heute den Eindruck, dass sie sich in einer grundlegenden Zivilisationskrise befinden.

Ist das nicht eine selbsterfüllende Prophezeiung?
Engels: Genau. Das ist es. Darin besteht ja auch eigentlich Geschichte.

Walter: Tut mir leid, da möchte ich als Historiker auf dem Vetorecht der Tatsachen beharren. Übrigens: Der in Ihrem Buch als Niedergangsprophet zitierte zeitgenössische Geschichtsschreiber Sallust beklagt zwar einen Verfall der öffentlichen Moral, ein Verschwinden der Tugenden. Trotzdem war er alles andere als ein Berufspessimist. Sallust beschreibt kraftvolle Persönlichkeiten der römischen Republik wie etwa den Feldherrn Marius. Auch Cicero war von den Selbstreinigungskräften der republikanischen Ordnung überzeugt.

Engels: Einspruch. „Kraftvoll“ scheint mir ein nicht minder problematischer Begriff als „Niedergang“. Cicero schreibt explizit in „De re publica“, dass die Republik in seiner eigenen Zeit nur noch dem Namen nach existiere, aber nicht in der Sache.

Walter: Ja. Und kurz danach äußert er sich schon wieder sehr viel optimistischer.

Die endgültige Machtübernahme von Augustus im Jahr 27 vor Christus markiert den Übergang von der römischen Republik in eine Monarchie, den sogenannten Prinzipat. Wie hat sich das auf die damalige Bevölkerung ausgewirkt?
Walter: Selbst ein äußerst kritischer Geschichtsschreiber wie Tacitus räumt ein, dass sich mit der Regentschaft von Augustus für fast alle Bevölkerungsschichten das Leben signifikant verbessert habe. Das betrifft insbesondere die Provinzen, die vorher von einer raubtierartigen römischen Führungsclique ausgepresst und zu Schauplätzen von Bürgerkriegen gemacht worden waren.

Engels: Trotzdem handelte es sich bei der Herrschaft von Augustus um eine Militärdiktatur, in der eine einzelne Person nahezu alle Streitkräfte kommandierte, ein umfassendes Vetorecht besaß, missliebige Personen einsperren und Zensur ausüben konnte. Das Ideal der Freiheit hatte mit Augustus ausgedient. Der Staat des Augustus ist vergleichbar mit Russland unter Putin, wo demokratische Institutionen nur noch als Fassade dienen. Was bekanntlich nicht heißen muss, dass die Bevölkerung damit nicht einverstanden ist oder die Lebensbedingungen ungünstig sein müssen.

Walter: Man sollte die römische Republik nicht als Hort der Freiheit idealisieren. Es handelte sich um eine Oli­garchie von wenigen Hundert Leuten, die im Senat saßen. Dort wiederum hatten nur die ranghohen Vertreter wirklich etwas zu sagen. Im Vergleich dazu ist die politische Partizipation unter Augustus sogar größer geworden, weil unter ihm neue Eliten in den politischen Prozess eingebunden wurden.

Augustus hat aber auch strenge Sittengesetze erlassen, um die öffentliche Moral zu heben.
Walter: Das richtete sich ausschließlich an die Aristokratie. Außerdem ist er damit gescheitert, weil sich daraus eine Art Katz-und-Maus-Spiel entwickelt hat. Es kam dann eben zu Scheinehen und Scheinverlöbnissen.

War Augustus ein konservativer Revolutionär?
Engels: Mit seinen Sittengesetzen ist Augustus in der Tat gescheitert – bis in die römischen Ehebetten konnte er nicht durchregieren. Trotzdem darf man die allgemeine moralische Signalwirkung nicht unterschätzen. Wichtiger erscheint mir, dass Augustus das Leitbild des Römertums, die Romanitas, gewissermaßen neu erfunden hat: Ob Gottheiten, Priesterschaften, Gesetze oder Magistraturen – überall betrieb Augustus ganz klar Geschichtspolitik, um den römischen Staat in seinem Sinne durch kreative Rückberufung auf eine idealisierte frührepublikanische Zeit neu zu begründen, und entsprach somit ganz dem Programm der „Konservativen Revolution“ der zwanziger Jahre. Ausmaß und Erfolg jener Maßnahmen legen im Umkehrschluss aber auch ihre innere Notwendigkeit nahe und zeigen, dass die Krise der späten Republik weit mehr als ein bloßer Topos elitärer Schriftsteller war. Denken wir nur an das berühmte Zitat von Cicero, der seine Lobrede auf den Historiker Varro mit den Worten beginnt, „wir irrten durch unsere Stadt wie Fremde“. Diese Stelle war für mich immer ein wichtiger Verständnisschlüssel der römischen Geschichte, mit offensichtlichen Parallelen zur Gegenwart.

Hat Augustus eine Leitkultur für ein Multikulti-Rom definiert?
Walter: Es gab seit dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert im republikanischen Rom beides: einen praktizierten Multikulturalismus, der die Attraktivität der Metropole Rom in keiner Weise geschmälert hat, und einen Schirm bestimmter verbindlicher Elemente. Vormoderne Metropolen waren immer ganz erheblich auf Zuzug angewiesen, allein schon aus demografischen Gründen.

Engels: Die Identität Roms beruhte lange auf der Integration italischer Minderheiten mit meist nah verwandten Sprachen. Erst im zweiten vorchristlichen Jahrhundert folgte dann ein massiver Zuzug aus den östlichen Regionen des Mittelmeers. Wie groß hier die Ängste vor Überfremdung waren, zeigt die zeitgenössische Gesetzgebung mit mehreren Fremdenvertreibungsgesetzen, wobei ein grundsätzlicher Unterschied zwischen – kulturell kompatiblen – Italikern und den eher kritisch betrachteten Fremden gemacht wurde, allen voran Syrern, Juden und Chaldäern.

Können wir daraus aus heutiger Sicht etwas über Integration lernen?
Walter: Die Römer waren bemerkenswert integrationsfreudig und integrationsbereit, ganz anders als die griechische Polis. Sie haben ehemaligen Sklaven sofort nach der Freilassung das Bürgerrecht verliehen und so für Aufstiegs­chancen gesorgt. Die Römer vertrauten der sozialisierenden Kraft ihrer Zivilisation, ihrer Sprache, ihres Rechtssystems, ihres Familienmodells, ihrer Vorstellung von Autorität und Disziplin.

Das können wir heute von uns nicht mehr behaupten…
Walter: …weil wir die Forderung, sich an die herrschenden Normen anzupassen, gar nicht mehr stellen. Die Religion beispielsweise betraf das nicht, sie durfte ausgelebt werden, sofern die römische Staatsreligion und deren Kulte davon nicht tangiert waren.

Engels: Die Krise der Identität in der späten römischen Republik hatte aber auch eine religiöse Komponente. Zum einen wurde der Verfall der eigenen Staatsreligion bedauert, zum anderen fremde Kulte wie die Bacchanalien oder der ägyptische Isis-Kult, die bei den Massen zunehmend beliebt waren, verboten.

Walter: Aber das sind doch marginale Phänomene.

Engels: Na ja, sub specie aeternitatis ist alles irgendwie marginal; auch das, was heute geschieht. Dennoch ist die Frage von damals auch unsere Frage: Wie gehen wir als Europäer vor dem Hintergrund einer massiven Identitätskrise mit dem Multikulturalismus um? Wie mit der globalisierten Welt? Sosehr man die Aussicht eines augusteischen Europa bedauern mag – sollte es ihm gelingen, ein ähnliches Konzept von abendländischer Leitkultur zu formulieren, hätte dies sicher eine sehr stabilisierende Wirkung.

Ein augusteisches Europa hätte nur noch eine demokratische Fassade. Sie, Herr Engels, sehen eine „autoritäre, plebiszitäre und konservative Reform unserer Gesellschaft“ voraus. Juncker regierte dann an Augustus’ statt?
Engels: Sollten die Analogien mit der späten römischen Republik ähnliche Konsequenzen haben, bewegen wir uns zumindest in Westeuropa auf mehrere Jahrzehnte bürgerkriegsähnlicher Zustände zu, die ultimativ in eine Umstrukturierung der EU in einen autoritären Staat münden würden, etwa vergleichbar mit Putins Russland.

Der Nationalstaat wäre dann Geschichte.
Engels: Das nationalstaatliche Modell hat langfristig ausgedient, ob man will oder nicht. Ein kulturell weitgehend angelsächsisch dominiertes Europa wird an dessen Stelle treten. Die einzige Frage ist nur, ob dieser Prozess sich disruptiv oder organisch vollziehen wird.

Walter: Das sehe ich völlig anders. Ich denke, von den osteuropäischen Ländern und hoffentlich auch von Deutschland wird eine starke Renationalisierung ausgehen, hin zu einem subsidiären Europa, dem historischen Erfolgsmodell. Ein europäischer Superstaat in der Nachfolge Napoleons oder gar Hitlers wäre der falsche Weg.

Engels: Mir geht es hier nicht um die ideale, sondern die realistische Entwicklung. Zudem bitte ich zu bedenken, dass auch Ungarn oder Polen derzeit nicht zum Nationalstaat zurückkehren, der mit seiner gerade einmal 150-jährigen Geschichte aus althistorischer Perspektive ohnehin eher eine Eintagsfliege ist. Gerade unter den vier Visegrad-Staaten ist die Kooperation sehr groß, und sie versuchen zudem, diese auf Österreich und die baltischen Staaten auszudehnen. Da wächst ein anderes, aber ebenfalls durch und durch europäisches Staatsmodell heran, das Vorbildfunktion für ein konservatives Europa der Zukunft haben könnte.

Walter: Ein Modell jenseits von Brüssel.

Engels: In der Tat. Aber die transnationale wirtschaftliche Verflechtung des Kontinents ist mittlerweile derart groß, dass ich mir nicht vorstellen kann, es ließe sich noch einmal sinnvoll Politik betreiben, die exakt an den Ländergrenzen endet und die ohne ein Mindestmaß an zentraler Absprache klarkommt.

Was aber hält ein solches eng verflochtenes Europa zusammen? Ist es nur die Wirtschaft, sind es auch die viel beschworenen europäischen Werte?
Engels: Die Klammer würde wohl die Neuerfindung des christlichen Abendlandbegriffs sein. Denn so wie Augustus das Konzept der Romanitas neu erfunden hat, vermute ich, dass das von mir erwartete autoritäre Europa sich erneut als Abendland begreifen wird, nicht unähnlich Putins Projekt, Russland durch eine Wiederbelebung der Orthodoxie zu festigen, oder den chinesischen Ambitionen unter Xi Jinping, wieder ein positives Verhältnis zur Kaiserzeit herzustellen.

Unterschlagen Sie da nicht den schon aus demografischen Gründen wachsenden Einfluss des Islam? Ihm dürfte kaum an einem neuen christlichen Abendland gelegen sein.
Engels: Zum einen eint der Islam paradoxerweise jetzt schon als zivilisatorisches Gegenbild die verschiedenen nationalen oder populistischen Strömungen unter dem Banner eines neuen Abendlandbegriffs. Zum anderen sehen viele Muslime mit größerer Sympathie auf ein christliches als auf ein linksliberales Werte- und Familienmodell.

Walter: Schon der Versuch, das Abendland in den fünfziger Jahren zum ideologischen Überbau für die europäische Selbstbehauptung zu machen und es gegen Kommunismus wie Amerikanismus in Stellung zu bringen, ist gescheitert. Trotz damals deutlich besserer Voraussetzungen.

Engels: Aber schauen Sie sich doch die Regierungen in Österreich, den Visegrad-Staaten, vielleicht demnächst auch Italien an; sie alle stützen sich doch ganz offensichtlich auf ein sehr traditionalistisches Verständnis des Abendlands!

Der Islam gehört demnach auf jeden Fall zu Deutschland und Europa, oder?
Walter: Der Satz ist absurd, weil jeder seiner Bestandteile klärungsbedürftig ist und keine dieser Klärungen stattfindet. Ist er beschreibend oder normativ gemeint? Der Satz entspricht dem intellektuellen Niveau dessen, der ihn einst geprägt hat. Natürlich wird die Religion der vier Millionen Muslime, die in Deutschland leben, hier ausgeübt. Für die kulturelle und historische Prägung Deutschlands hat der Islam keine Rolle gespielt – trotz aller Klitterungsversuche, die Weisheit des Mittelalters auf eine muslimische Traditionsbildung zurückzuführen. Das ist völliger Nonsens.

Wie immer man das Wirken des Augustus einschätzen mag: 450 Jahre später war das Römische Reich untergegangen.
Engels: Na ja, langfristig geht alles irgendwie einmal unter. Da sind 450 Jahre gar nicht so übel. Und was ist denn untergegangen? Im Oströmischen Reich haben wir eine gewaltige Kontinuität, in Westrom eine allmähliche Transformation. Die Einnahme Roms durch die Westgoten anno 410 und der endgültige Fall Westroms von 476 waren für die Zeitgenossen traurige Ereignisse, aber doch keineswegs einschneidend. Die mit Augustus zuvor beginnende Kaiserzeit stellte hingegen etwas fundamental anderes dar als die republikanische Ära. Das war die wirkliche Zäsur: Materiell begann vielleicht, laut Gibbon, die „schönste Zeit der Weltgeschichte“, aber die Freiheit war dahin, und die spirituelle wie geistige Leere öffnete den Weg zum Christentum.

Walter: Die Römer hatten zahlreiche schlechte Kaiser, die furchtbar versagten. Doch der Bau des Imperium Romanum fand die Zustimmung der rund 80 Millionen Menschen, die rings um das Mittelmeer in ihm lebten und sich dafür einsetzten.

Engels: Nicht zuletzt das Christentum trug zu dieser Stabilität bei.

Walter: Wie schnell Zivilisation und Ordnung dennoch vollständig verloren gehen können, zeigt das Beispiel Britannien. Die Römer ziehen sich im fünften Jahrhundert zurück. Innerhalb von zwei Generationen bricht dann alles, was in den 400 Jahren zuvor aufgebaut worden ist, zusammen: Städtewesen, Rechtsordnung, Infrastruktur. Eine bemerkenswerte und erschreckende Lektion. So rasch kann man alles verspielen – damals übrigens unter tätiger Mitwirkung von Migrationswellen.

Engels: Freilich, das römische Kaiserreich war perfekt organisiert, strotzte vor Kraft und Reichtum – und dennoch gab es bei vielen Menschen offensichtlich eine gewaltige innere Unzufriedenheit. Sonst wäre das Christentum mit seiner grundsätzlichen Verurteilung der heidnischen Gesellschaft nicht so rasch zu dieser Größe aufgestiegen. Wir müssen, damals wie heute, dieses Gefühl des „Unbehagens in der Kultur“ sehr ernst nehmen und die wachsende Konversion zum Islam als Indikator für die Verbrauchtheit unserer eigenen Gesellschaft deuten.

In welcher Staatsform werden wir uns wohl in 30 Jahren wiederfinden?
Engels: Ich befürchte, als Resultat der kommenden Bürgerunruhen wird Westeuropa innerlich weitgehend zerfallen und dann, möglicherweise unter dem Einfluss der Visegrad-Staaten, eine neue Einheit finden, die in Anbetracht der Schwere der Situation mit einer autoritären Transformation einhergehen wird. Um China, den USA und der muslimischen Welt standzuhalten und dem neuen Regime eine gewisse Legitimität zu geben, wird man diese Konstruktion durch den Rekurs auf einen neu interpretierten Abendlandbegriff zu einen versuchen.

Walter: Ich rechne mit einem Europa aus zwei oder drei oder vier föderativ organisierten Gebilden, vielleicht mit einer Mittelmeer-Union neben den Visegrad-Staaten. Die Rolle Deutschlands erscheint mir am undeutlichsten. Wir wissen nicht nur nicht, wo wir hinwollen. Uns kam sogar die Überzeugung abhanden, dass wir irgendwo hinwollen dürfen.

Fotos: Antje Berghäuser

Dies ist ein Artikel aus der Mai-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Online-Shop erhalten.











 

Anzeige