Epochenwende - Das Ende des liberalen Zeitalters

Kolumne: Grauzone. Obwohl Selbstentfaltung heute groß geschrieben wird, sind Freiheit und Autonomie zu Auslaufmodellen geworden. Das Freiheitsversprechen der Marktwirtschaft hat sich ins Gegenteil verkehrt

Tempel des Konsums: Shopping-Center in Moskau / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Das liberale Zeitalter scheint sich seinem Ende zuzuneigen: In den USA zieht bald Donald Trump ins Weiße Haus ein, in Großbritannien organisiert Theresa May den Brexit, in Ungarn regiert Viktor Orban, in Russland Wladimir Putin, Recep Tayyip Erdogan in der Türkei – und im angeblichen Mutterland der Liberté, der Freiheit, wird es Marine Le Pen aller Wahrscheinlichkeit nach zumindest in die Stichwahl zur Präsidentschaft schaffen. Auch anderswo bestimmen antiliberale Gruppierungen von links und rechts innerpolitische Diskurse.

Nein, es steht offensichtlich nicht gut um den Liberalismus, um die Idee von Freiheit, Autonomie und Selbstverantwortung. Wohin man auch schaut: Allüberall greift die Sehnsucht nach Abschottung um sich, nach Begrenzung und Restriktion. Wir scheinen, vor einem Zeitalter antiliberaler Restauration zu stehen.

Doch dieser Diagnose liegt ein handfester Denkfehler zugrunde. Schließlich kann eine liberale Epoche nur dort zu Ende gehen, wo es sie einmal gegeben hat.

Selbstverwirklichung durch Konsum

Aber Hand auf’s ketzerische Herz: Ist die Massendemokratie westlicher Provenienz tatsächlich ein Hort des Liberalismus? Nein, das ist sie natürlich nicht – es sei denn, man missversteht den Begriff Liberalismus.

Denn der Selbstverwirklichungshedonismus und die Wohlstandsemanzipation, von denen die westlichen Gesellschaften nach dem Krieg erfasst wurden, haben mit Liberalismus wenig bis gar nichts zu tun. Im Gegenteil: Die Massendemokratie westlichen Zuschnitts und das sie tragende Versprechen grenzenloser Selbstverwirklichung qua eskalierenden Konsums ist kein Triumph des Liberalismus, sondern das unmittelbare Produkt seines Untergangs.

Denn das Kernanliegen des klassischen Liberalismus war die Autonomie des Individuums, also die Abwesenheit von Zwang. Damit verbunden war jedoch die stillschweigende Anerkennung bürgerlicher Verhaltensnormen, deren zivilisierende Wirkung erst im Moment ihre Preisgabe sichtbar wurde.

Die Anbetung des unkonventionellen Lebens und die staatliche Protektion individueller Sinngebung, die kennzeichnend sind für moderne Selbstverwirklichungsgesellschaften, war dem klassischen Liberalismus fremd. Dieser war vielmehr getragen von einem Ethos der Selbstbeschränkung, nicht der Selbstentfaltung.

Politik als Anwalt persönlichen Glücksstrebens

Allerdings krankte dieser bürgerliche Liberalismus an einem existenziellen Widerspruch: Er legte ein Freiheitsverständnis nah, das seine normativen Grundlagen pulverisierte, sobald es im Zuge der Industrialisierung massendemokratisch uminterpretiert wurde.

Das hatte vor allem sozialhistorische Gründe. Denn mit der Anerkennung der Angehörigen der bisherigen „Unterschicht“ als gleichberechtigte Träger universaler Menschenwürde ging ihre Entdeckung als Konsumenten einher. Mit wachsendem Wohlstand generierte der von Karl Marx eindringlich beschriebene Fetischcharakter der Ware eine Erlösungsreligion der Emanzipation durch Konsum. Das Freiheitsversprechen, bisher begrenzt auf das Besitzbürgertum, wurde zur allgemeinen Verheißung der Selbstfindung mittels Teilhabe am Warenerwerb.

Die Folge: Die Schaffung ökonomischer und gesellschaftspolitischer Bedingungen individueller Emanzipation wird zum politischen Ziel. Der entstehende Sozialstaat erhebt sich zum Anwalt persönlichen Glücksstrebens und bezieht daraus seine Legitimität. Die Politik wird moralisiert.

Privates und Öffentliches verschwimmen

Der Preis dafür war die Aufhebung einer liberalen Kardinaltugend: der Trennung von privat und öffentlich, von Wirtschaft und Politik. Das Private wird Anliegen des Staates. Die Wirtschaft als Garant konsumbasierter Sinnerfüllung wird zum Politikum.

Das Ergebnis ist moralischer und wirtschaftlicher Dirigismus: Der Staat begreift sich als Sachwalter moralischer Anliegen und individualemanzipatorischer Bestrebungen und sucht diese legislativ oder sozialökonomisch durchzusetzen. Das ursprünglich liberale Freiheitsanliegen führt sich selbst ad absurdum. Konflikte sind programmiert.

Lagerbildung sich fremder Milieus 

Der klassische Liberalismus starb im 19. Jahrhundert, ohne je politisch realisiert worden zu sein. Was derzeit in eine Krise taumelt, ist die aus ihm hervorgegangene massenhedonistische Gesellschaft mit ihren Ordnungs- und Regulierungsansprüchen – umso mehr, als sie ihre ganze Legitimität aus der brüchig gewordenen Zusage permanenter Wohlstandshäufung bezieht.

Der dem Emanzipationsversprechen westlicher Gesellschaften eingebaute Eskapismus führt zu einer bisher unbekannten sozialen Diversität. Es kommt zu Lagerbildungen sich hochgradig fremder Milieus. Indem der Staat versucht, entstehende Konflikte zu entschärfen, heizt er diese tragischerweise weiter an. Er droht zum Opfer der von ihm ideologisch und ökonomisch geförderten gesellschaftlichen Prozesse zu werden. Keine Frage: Wir stehen am Beginn einer spannenden Epoche.

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