Selbstoptimierung in der Coronakrise - Entschleunigung muss man sich leisten können

Kaum eine Phrase wird so oft strapaziert wie die, dass die Krise eine Chance sei, sein bisheriges Leben komplett umzukrempeln und sich auf das Wesentliche zu besinnen. Völliger Quatsch, findet Hugo Müller-Vogg. Die guten Ratschläge gehen am Alltag der Normalbürger vorbei.

Waldbaden entspannt – aber wer kann sich das in der Krise schon leisten?/ dpa
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Autoreninfo

Dr. Hugo Müller-Vogg arbeitet als Publizist in Berlin. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zu politischen und wirtschaftlichen Fragen, darunter einen Interviewband mit Angela Merkel. Der gebürtige Mannheimer war von 1988 bis 2001 Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

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Zeit der Entschleunigung, Rückbesinnung auf das Wesentliche, Lob der Bescheidenheit, Zeit zum Sich-Selber-Finden, ökonomischer Neustart, humanes Wirtschaften, Digitalisierungsschub, Re-Nationalisierung statt Globalisierung, auf dem Weg zu mehr Gerechtigkeit. Was haben uns die Schönredner der Pandemie-Folgen seit nunmehr neun Wochen nicht alles einreden wollen. Ich kann dieses Gesäusel von überwiegend wohlbestallten Mitgliedern der meinungsmachenden Elite aus Publizistik, Wirtschaft und Wissenschaft nicht mehr hören.

Denn diese Apostel des Wandels sind meistens so gestellt, dass sie – Krise hin, Krise her – bei ihren sechsstelligen Einkommen keinerlei Abstriche machen müssen und aus einer mehrfach abgesicherten sozialen Hängematte heraus – vielfach mit Beamtenstatus oder ähnlicher Polsterung – über die schöne neue Welt nach Corona philosophieren können. Von all den klugen Ratgebern muss aber keiner vom Kurzarbeitsgeld leben; Beamte wissen ohnehin nicht, wie man das schreibt. Zudem ist nicht bekannt, dass Vorstandsmitglieder, Professoren oder leitende Angestellte öffentlich-rechtlicher Anstalten aus Solidarität mit ihren Untergebenen auf wesentliche Gehaltsbestandteile verzichteten. Brecht hat Recht: Nur wer im Wohlstand lebt, lebt angenehm.

Der Normalo will nicht die Welt verbessern

Seit das Leben zwischen Ostsee und Bodensee weniger restriktiv geregelt wird, zeigt sich, dass das Corona-Virus manches hervorgebracht hat – nur nicht den neuen, pandemie-geläuterten Menschen. Es ist vielmehr der alte Adam, der sich jetzt im Alltag wieder zeigt – der „Normalo“, der die Welt nicht verbessern will, sondern im Hier und Jetzt halbwegs gut leben möchte. Der Durchschnittsverdiener, der sich nicht von den Sprösslingen der gutsituierten Bürgerlichen einreden lassen möchte, im Verzicht liege der eigentliche Sinn des Daseins.

Ganz konkret: Wer noch nicht so viele Flugmeilen gesammelt hat wie die deutschen Jünger*innen von Greta Thunberg und noch nicht so viele exotische Länder gesehen hat wie ihre deutsche Statthalterin Luisa Neubauer, der sieht Mallorca unverändert als Sehnsuchtsort – notfalls eben mit Maske. Noch sind wir in der Zeit „nach Corona“ nicht angelangt. Aber Schritt für Schritt bewegen wir uns eher zurück in die alte Normalität und weniger ins neue Paradies für geläuterte Ehrgeizige, weniger Fleißige oder gebremste Aufstiegswillige. Im gelockerten Alltag dominiert das gewohnte Denken. Man könnte auch sagen: das normale. Von wegen Entschleunigung, Selbstverwirklichung und bewussteres Leben – der alte Rhythmus ist stärker als das neue Credo:

Der sanfte Tourismus hat keine Chance gegen Fernweh

Die Digitalisierung hat während des Lockdowns einen Schub bekommen. Aber allenthalben drängt es die Menschen nach „richtigen“ Kontakten: in Restaurants und Cafés.

Das Homeoffice mag vielen Theoretikern als Inbegriff selbstbestimmten Arbeitens erscheinen. Doch überall zieht es Frauen und Männer zurück in Büros, wo die Kommunikation einfacher und direkter ist als via Videokonferenz – und wo der zwischenmenschliche Kontakt die Arbeitsfreude eher erhöht als bremst.

Noch ähneln die Flughäfen Geisterbahnhöfen. Aber die Deutschen drängt es – unabhängig vom CO2-Fußabdruck – in fremde Länder und an sonnige Strände. Der hoch gepriesene „Sanfte Tourismus“ hat gegen den Drang in die Ferne kaum eine Chance. 

Einzelne Unternehmenschefs versuchen sich als Gurus der „Nach-Corona-Ökonomie“ in Szene zu setzen. Doch das Grundprinzip allen Wirtschaftens bleibt unverändert: Ohne Umsätze kein Gewinn, ohne ausreichende Umsätze keine hohe Beschäftigung, ohne ordentliche Gewinne keine Investitionen. Was vor Corona richtig war, wird auch danach nicht falsch sein – von Nichts kommt Nichts.

Die neue Bescheidenheit ist eine Chimäre 

Das Virus hat vieles verändert, aber nicht die gewohnten politischen Reflexe. Wer schon immer für mehr Umverteilung war oder für Steuersenkungen, wer der Ökologie Vorrang gegenüber der Ökonomie einräumt oder umgekehrt, wer mündigen Männern und Frauen die innerfamiliäre Arbeitsteilung freistellt oder staatliche Eingriffe fordert – Corona wird für jede dieser Positionen in Anspruch genommen.

Die volkserzieherisch motivierte Erwartung, die Deutschen übten sich künftig in neuer Bescheidenheit und hielten sich beim Shopping bewusst zurück, entspricht reinem Wunschdenken. Wegen des Lockdowns haben viele Menschen weniger Geld zur Verfügung. Andere sind sparsamer, weil sie nicht wissen, wie sicher ihr Arbeitsplatz ist. Mit einer neuen Einstellung zum Konsum hat das nichts zu tun.  

Guter Lohn für gute Arbeit 

Angeblich finden die Menschen zunehmend ihr Glück in neuer Bescheidenheit, weil sie weniger Menschen treffen und weniger Geld ausgeben, dafür sich aber selbst besser kennenlernen. Das mag in manchem vergeistigtem „A 26 Beamtenhaushalt“ – zwei Mal Besoldungsgruppe 13 bei lebenslänglicher Arbeitsplatzgarantie – so gesehen werden. Die meisten Menschen werden aber auch weiterhin anders ticken, nach gutem Lohn für gute Arbeit streben und sich freuen, wenn sie sich und ihren Angehörigen etwas gönnen können.

Die Corona-Pandemie stellt uns alle vor große Ungewissheiten. Wir wissen nicht, wieviel Opfer Covid-19 noch fordern und welche wirtschaftlichen Schäden die unverzichtbaren Einschränkungen noch nach sich ziehen werden. Doch von einem kann man getrost ausgehen: Das Virus erschafft keinen neuen Menschen. An diesem Ziel sind schon unzählige Ideologen und Despoten gescheitert. Den von Corona beflügelten neuen Fastenpredigern wird es nicht anders ergehen. 

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