En passant - Ist die Weltgeschichte einfach nur irre?

Wir haben ein tiefes Bedürfnis nach Kausalketten und glauben an die Macht der Ursachen. Das macht unsere Zeit auch so naiv. Denn das Absurde kommt unerwartet und versteckt sich oft im Banalen.

Wir können nicht anders: Kontingenz muss durch Kausalität erklärt werden
Anzeige

Autoreninfo

Sophie Dannenberg, geboren 1971, ist Schriftstellerin und lebt in Berlin. Ihr Debütroman „Das bleiche Herz der Revolution“ setzt sich kritisch mit den 68ern auseinander. Zuletzt erschien ihr Buch „Teufelsberg“

So erreichen Sie Sophie Dannenberg:

Anzeige

Neulich trottete ich so die Straße lang, morgens gegen acht, es regnete. Schräg neben mir ging eine junge Frau. Auf einmal kam von hinten ein Radfahrer angebrettert, zog eine scharfe Kurve vom Radweg auf den Bürgersteig, drehte sich dabei kurz um und spuckte ihr ins Gesicht. Dann raste er davon. Die junge Frau war außer sich. „Was ist das denn?“, schrie sie immer wieder, „ich bin doch hier einfach nur langgegangen!“ 

Trotzdem wollte sie den Mann nicht anzeigen. Sie war unter Zeitdruck, außerdem hatte sie nicht mal sein Gesicht erkannt, und auch ich hatte außer einer dunklen Jacke mit Kapuze nichts Genaues in Erinnerung. Seitdem geht mir der Radfahrer, der so raptorenartig aus dem Nichts erschienen und wieder verschwunden war, nicht aus dem Sinn. Nicht nur wegen der artistischen Brutalität seines Auftritts. Er kommt mir vor wie eine unerwartete Metapher für das, was die Philosophen eine Kontingenzerfahrung nennen. Das schwer Fassbare und oft Unerträgliche an dieser Art von Erfahrung ist weniger dem Ereignis an sich zuzuschreiben als der Tatsache, dass es genauso gut nicht hätte passieren können. 

Entgrenzte Kausalitätssucht

Wir denken ja bevorzugt in Kausalketten, psychologisch, historisch, politisch. Wir glauben an die Macht der Ursachen und der Kontexte. Zum Beispiel daran, dass bestimmte Kindheitserlebnisse zu psychischen Störungen führen oder menschliches Verhalten zum Klimawandel. Oder dass einzelne Politiker für weltweite Fluchtbewegungen verantwortlich sind. Vielleicht stimmt das auch alles, vielleicht aber eben auch nicht oder nur zum Teil. Doch unsere Kausalitätssucht geht so weit, dass wir Ereignisketten sogar für reversibel halten – im Trend, dass sich öffentliche Personen ständig für etwas entschuldigen oder entschuldigen müssen, spiegelt sich ja so etwas wie die kindliche Hoffnung auf die Umkehrbarkeit der Geschichte. 

Jede Zeit hat ihre spezifische Naivität, unsere liegt wohl in der Verleugnung der Kontingenz. Die junge Fußgängerin und der Radfahrer an jenem Morgen in Berlin waren wohl durch nichts miteinander verknüpft. Ihre Begegnung war nicht zwingend, nur erschreckend, und erschreckend deshalb, weil sie nicht zwingend war. Das Absurde kommt unerwartet und versteckt sich oft im Banalen. Aber auch die Weltgeschichte ist nicht unbedingt erklärbar, vielleicht sogar einfach nur irre.

Dieser Text ist in der März-Ausgabe des Cicero erschienen, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

Jetzt Ausgabe kaufen

 

 

 

 

Anzeige