En Passant - Achtsam in der Warteschleife

Schon seit der Erfindung der Eisenbahn glauben wir, dass Geschwindigkeit krank macht. Mit Yoga, Waldbaden und Achtsamkeitsübungen wollen wir im Moment leben. Doch das Geschäft im Hier und Jetzt boomt gerade deshalb so, weil es so schnell ist

Erschienen in Ausgabe
Sind die Warteschleifen die wahren Mußeorte unserer Zeit? / picture alliance
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Autoreninfo

Sophie Dannenberg, geboren 1971, ist Schriftstellerin und lebt in Berlin. Ihr Debütroman „Das bleiche Herz der Revolution“ setzt sich kritisch mit den 68ern auseinander. Zuletzt erschien ihr Buch „Teufelsberg“

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Neulich im Biosupermarkt. Eine ältere Dame bat um eine zweite Kasse, und der etwas jüngere Herr hinter ihr beschwerte sich halblaut beim Kassierer: „Traurig, dass die Leute gar keine Muße mehr haben …“ Er guckte dabei yogamäßig-passiv-aggressiv.

Wir glauben ja schon lange, dass Geschwindigkeit krank macht. Mit der Erfindung der Eisenbahn zum Beispiel, die damals eine sagenhafte Durchschnittsgeschwindigkeit von fast 30 km/h erreichte, warnten Experten vor der sogenannten „Eisenbahnkrankheit“, vor der „Reizung gewisser Nervenzentren im Gehirn oder Rückenmark“. Dagegen sollte, neben Brom und kalten Abreibungen, Waldeinsamkeit helfen.

Bis heute hat sich an der Anti-Geschwindigkeitsbehandlung nicht viel geändert. Die Leute rennen in den Wald und machen Achtsamkeitsübungen im „Hier und Jetzt“. Allerdings hege ich den Verdacht, dass das Hier und Jetzt gerade deshalb so boomt, weil es so schnell ist. Es dauert, das haben Hirnforscher herausgefunden, nur drei Sekunden. Man spart also enorm Zeit, solange man sich im Hier und Jetzt bewegt.

Die Mußeorte unserer Zeit

Aber was ich eigentlich erzählen wollte: Letzte Woche musste ich bei meiner neuen Telefongesellschaft anrufen, weil der Import meiner alten Rufnummer nicht geklappt hatte. Ich hing also eine Ewigkeit in der Warteschleife, und weil meine neue Telefongesellschaft mir nicht helfen konnte, musste ich danach bei meiner alten Telefongesellschaft und dann wieder bei meiner neuen Telefongesellschaft anrufen, und dann musste ich bei meiner Krankenversicherung um ein bestimmtes Formular bitten, und als ich aufgelegt hatte, fiel mir ein, dass ich noch ein zweites Formular brauchte, und dann war mein Drucker kaputt, und ich rief den Support an, der nichts für mich tun wollte, weil ich mich „weit außerhalb des Garantiezeitraums“ bewegte. Kurzum, ich hing den ganzen Vormittag in irgendwelchen Warteschleifen, brüllte die Sprachcomputer an und fragte mich, ob all die Schimpfworte, die Leute den Sprachcomputern entgegenschleudern, eigentlich aufgezeichnet werden.

Und die ganze Zeit dachte ich an den Heini von der Biosupermarktkasse und lauschte den stotternden Warteschleifenmelodien. Sie hörten sich an, als würde die ganze Zeit ein Wasserhahn neben dem Abspielgerät laufen. Oder ein Bach plätschern. Vielleicht, fiel mir auf einmal ein, sind die Warteschleifen die wahren Mußeorte unserer Zeit.

Dieser Text ist in der Oktober-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können. 

 

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