Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung - Erinnern und Vergessen

Gestern hat das „Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ in Berlin seine Pforten für das Publikum geöffnet. Alles in allem ein friedlicher Ausgang einer heiklen Aufgabe und einer langen Streitgeschichte. Und doch fehlt etwas.

Ein Besucher an einer interaktiven Landkarte im neuen Dokumentationszentrum Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa
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Autoreninfo

Johann Michael Möller, Jahrgang 1955, war von 2006 bis 2016 Hörfunkdirektor beim Mitteldeutschen Rundfunk. Er ist Herausgeber des Rotary Magazins. Im Verlag zu Klampen erschien 2019 sein Buch „Der Osten“.

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Alles richtig gemacht! Drei Frauen haben einen alten Widergänger so behutsam in die Freiheit entlassen, dass man für einen kurzen Moment sogar vergessen konnte, wie viel Aufregung es einst um ihn gab. Das bis zuletzt umstrittene und von Querelen heimgesuchte „Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ in Berlin ist seit gestern für die Besucher geöffnet – und man muss schon ein notorischer Spielverderber sein, um daran noch herummäkeln zu wollen. Dass es einige Zeitungen trotzdem nicht lassen konnten und dem Zentrum die korrekte historische Gebrauchsanweisung mit auf den Weg gaben, hat wohl mit eigenen Verlustängsten zu tun. Vom vertrauten Gegner will man eben nicht lassen; ein bestimmtes politisches Milieu ist mit dem Schreckbild der alten Vertriebenenwelt groß geworden. Aber davon ist in diesem neuen Haus nicht mehr viel übrig geblieben: keine Trachtenkapellen oder Pfingsttreffen mehr; die Welt der Heimatstuben ist genauso Vergangenheit wie das markige Heimatbekenntnis. Wer die Eröffnung des Zentrums im Livestream verfolgte, weil man bei Funk und Fernsehen offenbar mit wichtigeren Themen beschäftigt war, der konnte beim besten Willen keine muffigen Ecken entdecken.

Stattdessen ein Haus, in dem alles zu stimmen scheint: die kühle, elegante Architektur; die lichte Konzeption, die auf alles vorbereitet ist und wie eine zur Gestalt gewordene Stichwortliste wirkt. Von der vielfach geforderten Transparenz und Offenheit bis zu Fragen der Inklusion findet hier alles seine angemessene Berücksichtigung. Über die neuen Sichtachsen ist das Haus sogar mit der Berliner Erinnerungslandschaft verbunden. Die nationalsozialistische Tätergeschichte ist ringsum präsent; sie ist das historische Propädeutikum, das die spätere Flucht und Vertreibung überhaupt erst begreifbar macht. Alles hat seinen richtigen Platz, das meiste wohl auch die angemessene Dimension.

Auch dem Schrecken ein sachlicher Ton

Und was man wohl am wenigsten erwartet hätte: Ausgerechnet dieses so heftig umstrittene Dokumentationszentrum für die schlimmsten Jahre der jüngeren deutschen Geschichte wird zum lichten, geradezu friedfertigen Schlussakkord der Ära Merkel. Man begreift bei dieser Gelegenheit noch einmal die Funktionsweise ihrer politischen Konsensmaschine, sieht noch einmal die Wirksamkeit ihres bekannten Prinzips der asymmetrischen Demobilisierung. Auch dieses Haus hat nach Möglichkeit alle weiteren Konflikte vermieden, hat die bestehenden Differenzen quasi schon eingebaut und die möglichen Kontroversen so sorgfältig abgewogen, dass man fast das ausgeleierte Wort vom breiten gesellschaftlichen Konsens dafür verwenden möchte.

Die Kanzlerin war bei der Feierstunde zwar nicht persönlich zugegen (warum eigentlich nicht?), hat sich aber vom fernen politischen Olymp zuschalten lassen und schien mit dem friedlichen Ausgang dieser heiklen Aufgabe so sichtbar zufrieden, dass sie sogar ein freundliches Wort für die nicht eingeladene frühere Vertriebenenpräsidentin Erika Steinbach fand. Die stand im Verein mit dem SPD-Politiker Peter Glotz am Anfang der ganzen Idee und hätte einen bescheidenen Platz am Rande durchaus verdient. Aber das hätte die breite Konsensbildung dann womöglich doch überfordert, weshalb man lieber den amtierenden Vertriebenenpräsidenten Fabritius eingeladen hatte, bei dem man sich offenbar sicher war, dass er nirgendwo stört. Störendes wäre auch schade gewesen bei diesem Festakt, bei dem die zuständige Bundeskulturministerin eine genauso tadellose Figur machte wie die neue Direktorin Gundula Bavendamm. Die erweist sich inzwischen als ein Glücksfall für dieses Haus. Sie hat sich weder von den Attacken auf ihren umstrittenen Vater noch im Konflikt mit dem Theaterregisseur Ersan Mondtag über ein Filmskript mit der fiktiven Rede des AfD-Politikers Björn Höcke aus der Ruhe bringen lassen und wirkt so beherrscht und so reflektiert, dass man sie für einen Teil des Präsentationkonzepts halten könnte. Was nicht böse gemeint ist, sondern eher dem Umstand Rechnung zu tragen versucht, dass in diesem Zentrum, wo es um so furchtbare Dinge wie Flucht und Vertreibung geht, auch dem Schrecken noch ein sachlicher Ton widerfährt.

Auch die Erinnerung wird zur Geschichte

Es herrscht die performative Kraft einer Museumspädagogik, die sich auch noch die ärgste Betroffenheit einzuverleiben vermag. Wo Leid zum Zitat wird, überwiegt der belehrende Charakter: der übergroße Wollmantel, der einen kleinen Jungen vor dem Erfrieren bewahrt hat; ein auf der Flucht verlorener Teddybär; oder der Pferdekarren, das Symbol schlechthin für Flucht und Vertreibung. Das alles hat jetzt seinen Ort und im besten Fall seine Vitrine; und dass immer weiter gesammelt wird, ist fast zu befürchten. Der Anblick dieser Objekte hat etwas Aufwühlendes und Abschließendes zugleich. Der Betrachter spürt, dass mit der Eröffnung dieses Dokumentationszentrums ein schwieriges Kapitel nachkriegsdeutscher Geschichte jetzt wohl zu Ende geht.

Es ist wie ein zweiter Abschied. Der ehedem deutsche Osten war schon bald nach dem Krieg zur fernen Schimäre geworden; jetzt wird auch die Erinnerung an ihn zur Geschichte. Man hätte ein wenig mehr von dieser verlorenen Welt zeigen können, ohne sofort in den Geruch gestriger Neigungen zu geraten. An was hat sich die alte Dame denn erinnert, die als Kronzeugin bei der Eröffnung zu Wort kam: an die alten Tänze von früher. Und dass es einen Heimatvertriebenen aus Ostpreußen gab, der gerne im Keller am Holzmodell seiner alten Heimatstadt baute – wer will es ihm denn verdenken. Das steht auch nicht im Widerspruch zu jener unabweisbaren Vorgeschichte von Flucht und Vertreibung, die ihren Ausgang in einem mörderischen Krieg gegen die Menschen und Völker im Osten nahm.

Alles wird zu einem universalen Menschheitsgeschehen

Es war auch sicher kein Zufall, dass der Eröffnungstermin dieses Zentrums zu Flucht und Vertreibung mit einem Jahrestag zusammenfiel, an dem sich der Überfall auf die Sowjetunion zum achtzigsten Male jährt. Vor kurzem sind die Augenzeugenberichte des Massakers von Babyn Jar am Stadtrand von Kiew wieder veröffentlicht worden. Es stockt einem beim Lesen der Atem. Wie sehr ein Teil dieses Ostens zu den Blood Lands des deutschen Mordens geworden ist, hat man lange verdrängt. Im Grunde begann der Heimatverlust schon in diesem Morden. Das ist das Unfassliche: Dass das Grauen inmitten einer jahrhundertealten Kultur des Zusammenlebens möglich war. Der schlesische Schriftsteller Horst Bienek hat von diesen Seelenlandschaften des Ostens geschrieben. Auch sie sind Teil dieses Erbes – und wären einer Bebilderung wert. Es ist freilich bezeichnend für unser Vergessen, dass der „Raum der Stille“ im neuen Zentrum wohl bilderlos bleibt.

So versteht sich dieses Haus offenbar als ein großes Transitorium: von einer Vergangenheit, die vergangen ist, zu einem universalen Menschheitsgeschehen, das unsere Gegenwart prägt. Das Schicksal der deutschen Vertriebenen ist nur mehr ein abgeschlossenes Kapitel davon. Man kann seiner problemlos gedenken. Man hat es zu Ende erzählt. An die Stelle von vergangenen Heimaten und zurückgelassenen Landschaften tritt das Thema der weltweiten Migration. 

Insofern sind die Blickachsen zu den anderen Orten des Berliner Gedenkens bedeutsam: Auch in anderen Institutionen wie dem Humboldt-Forum beginnen sich Erinnerung und Geschichtsbild in globale Fragen und Zusammenhänge zu verwandeln. Was jetzt in Berlin entsteht, darf jedoch kein abstrakter Gedenkkosmos werden, der sich wie ein virtueller Raum über die eigene, so prekäre Vergangenheit legt. Die vor drei Jahrzehnten wiedervereinte Hauptstadt hätte die Chance gehabt, die ganze deutsche Geschichte zu erzählen. Doch es beginnt jetzt eine sehr kühle, sehr konstruierte Erinnerungslandschaft zu entstehen, in der es die eigene, erlebte Vergangenheit wohl gar nicht mehr gibt. Beim Gang durch das neue „Zentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ lernt man bedrückende Schicksale kennen. Aber ob man in dieser lichten, transparenten, wohltemperierten Atmosphäre am Ende noch weiß, wohin man selber gehört, ist eine Frage, auf die dieses Haus keine Antwort mehr hat. Ein Konflikt ist zur Ruhe gekommen. Aber ein kleines Stück Pathos, ja wirklicher Rührung zum Abschied hätte der Sache schon gutgetan.
 

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