Die Weihnachtsgeschichte am Ende der Zeit - Holy Shit!

Hat uns die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukas-Evangelium heute noch etwas zu sagen? Ja, aber nur, wenn wir uns mit den Kernelementen und Strukturen dieser Geschichte, den darin vorkommenden Narrativen, auseinandersetzen. Denn Narrative sind interpretationsoffen.

Gott ist auf die Mithilfe der Menschen angewiesen - Paolo di Giovanni Fei: „Anbetung der Hirten“ (um 1400) / dpa
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Peter Beer ist Vorsitzender im Stiftungsrat der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und seit 2020 Professor am Institut für Anthropologie an der Päpstlichen Universität Gregoriana. (Foto: EOM)

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Hans Zollner lehrt Psychologie an der Päpstlichen Universität Gregoriana und leitet das Institut für Anthropologie. Er gilt als Experte für Kinderschutz und Prävention. Von 2014 bis 2023 war er Mitglied der Päpstlichen Kommission für den Schutz von Minderjährigen. Zollner ist Jesuit.

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Wie man an aktuellen prominenten Beispielen wie dem unseres jetzigen Bundeskanzlers immer wieder feststellen kann, gibt es für Politiker eine ganz bestimmte Sache, die man diesen ganz bestimmt krummnimmt. Dabei ist es egal, ob sie rechts, links, rot, grün, schwarz, gelb oder kariert sind. Wenn sie nicht kommunizieren, dann gibt es dicke Luft. Die Menschen wollen wissen, was los ist; wollen Erklärungen und, wenn es sein muss, auch Rechtfertigungen. Was sie nicht wollen, ist das Nichts. Erklärungen sind dabei schon einmal gut, doch sie reichen oftmals auch nicht aus. Es braucht im kommunikativen Prozess auch (Sprach-)Bilder und Geschichten.

Wie sehr dies auch für den politischen Diskurs im weiteren Sinne gilt, haben uns vor kurzem erst Samira El Ouassil und Friedemann Karig mit ihrem Bestseller „Erzählende Affen“ vor Augen geführt. Geschichten helfen, Zusammenhänge herzustellen, Sinn zu verdeutlichen, Visionen anschaulich zu machen, das eigene Leben zu deuten, Motivationen zu stiften. Sie wahren die diskrete Distanz zur direkt unmittelbaren Konkretion, ohne die Hörenden beziehungsweise Lesenden zu überwältigen, und sind doch konkret genug, um in den Bann zu schlagen und damit persönlich zu werden. Doch um welche Geschichten geht es hier?

Im Folgenden soll ein kleines Gedankenexperiment unternommen werden, das sich jahreszeitlich bedingt zwar aufdrängt, aber auf den ersten Blick dann doch etwas merkwürdig erscheint. Kann vielleicht die Weihnachtsgeschichte (im Kern dargestellt im Neuen Testament im Evangelium nach Lukas, Kapitel 2, Verse 1-20) zu einer dieser Geschichten gehören, die für unser Zusammenleben hilfreich sind? Ist sie so eine Geschichte, die unter Umständen gesellschaftsgestaltende Relevanz besitzt im Sinne eines Deutungsmusters, einer Sinnschablone, eines Visionsmodells, eines Diskursanstoßes? „Holy shit!“ mag sich da der eine oder die andere denken: Ob das mal gut geht, ein solches Experiment mit einer Geschichte aus einem religiösen Kontext in einer (Gott sei Dank!) säkular-pluralen Gesellschaftskonstellation?

Weihnachten – Holy shit!

Holy shit! – eigentlich ein Ausruf des Erstaunens über etwas Ungewöhnliches und nicht minder Beeindruckendes, kann nicht selten in Bezug auf die Einschätzung des Religiösen durch so manche Zeitgenossen ruhig als das genommen werden, was es wortwörtlich übersetzt zum Ausdruck bringt: nämlich die – sagen wir einmal etwas wohlfeiler ausgedrückt – grundsätzliche Skepsis, wenn nicht sogar Ablehnung gegenüber der Sphäre des Religiösen im Allgemeinen und des damit in engem Konnex stehenden Kirchlichen im Besonderen. Im Falle der Weihnachtsgeschichte ist beides relevant, das Kirchliche und das Religiöse. Diese Geschichte scheint also doppeltes Pech zu haben. Ihre beste Zeit hat sie hinter sich, wenn es nach Kulturpessimisten, Schwarzsehern und weinerlichen Traditionalisten im alljährlich zuverlässig wiederkehrenden Wehklagen über Glaubensschwund, Entkirchlichung und Kommerzialisierung des Weihnachtsfestes geht. Man muss nicht gleich zur argumentativen Keule greifen à la „Was soll ich mir Geschichten mit einem bzw. über ein Kind (in diesem Falle das Jesuskind) von einer Institution (hier der Kirche) erzählen lassen, in der massenhaft Kinder missbraucht wurden?“ 

Es gibt auch weit weniger deftige Positionen, die die Weihnachtsgeschichte ganz allmählich und ganz entspannt verblassen lassen. Wozu so eine seltsame Geschichte, die man so gut wie nicht glauben kann: von einem angeblich menschgewordenen Gott, der dann auch noch nebenbei die ganze Welt erlöst? Warum nicht einfach schön feiern? Muss das immer mit solchen Geschichten aufgeladen werden? Ich kann die „happy holidays“ (so mittlerweile gängig nicht nur in den USA) doch auch so mit meinen Freunden, meiner Familie feiern. Und überhaupt: Dieser ganze süßliche Kitsch um Weihnachten und seine Geschichte herum, den man seit Kindertagen kennt, das kann man doch jetzt wirklich mal lassen.

Die Megaerzählung von Weihnachten

Es hängt diese eine emblematische Frage in Bezug auf die Weihnachtsgeschichte im Raum: „Ist das Kunst oder kann das weg?“ Die durch den Komiker und Kabarettisten Mike Krüger erst so richtig bekannt gewordene Frage hat insofern eine gewisse Raffinesse, weil man auf ironische Weise in dem Moment, in dem man sie stellt, zeitgleich ein Statement hinsichtlich der Sinnhaftigkeit der Sache abgeben kann, auf die sich diese Frage bezieht. Der Fragesteller geht davon aus, dass man eigentlich erkennen müsste, worum es sich handelt. Dies ist offensichtlich nicht (mehr) der Fall, also ist es Müll, also kann es entsorgt werden. In unseren Tagen gibt es nicht wenige solcher Dinge, deren Zeit einfach abgelaufen zu sein scheint. Ihnen ist im öffentlich-rechtlichen Rundfunk sogar eine eigene Sendung des ZDF mit dem Titel „Das war dann mal weg. Auf der Spur verschwundener Dinge“ gewidmet. Und der Bayerische Rundfunk strahlte von 1991 bis 2008 die Sendung „Der letzte seines Standes?“ aus, die fast schon wehmütig an aussterbende Handwerksberufe und/oder alte Herstellungsverfahren erinnerte. „Tempus fugit“ – die Zeit flieht, rennt vorbei und nimmt vieles mit sich. Das wird gerade in den schnellen Transformationen immer greifbarer und anschaulicher; Sinn-, Funktions- und Zweckverluste inbegriffen.

Manchmal könnte man versucht sein, dies aus gutem Grund auch in Bezug auf die Megaerzählung von Weihnachten zu denken. Mega war sie allemal, die Weihnachtsgeschichte. Und das klingt nach. Unzählige Kunstwerke, Krippendarstellungen, darauf bezogene schriftstellerische Erzeugnisse, spirituelle Erlebnisse in weihnachtlichem Umfeld, davon ausgelöste ethisch-moralische Impulse wie die als Weihnachtsfriede von 1914 bezeichnete Waffenruhe am 24. Dezember zwischen britischen und deutschen Soldaten (dargestellt im Film „Merry Christmas“ von 2005) und vieles andere mehr zeugen von der Länder und Kontinente übergreifenden, kulturprägenden Kraft der Weihnachtsgeschichte. Ja, sogar die Finanzämter zeigten und zeigen sich bis heute nicht unberührt von dieser Geschichte, wenn sie die Tage um Weihnachten ganz ausdrücklich Vollstreckungshandlungen und die Ausstellung von Mahnbescheiden unterlassen. 

Und Weihnachten gilt wie eh und je als ein Fest der Familie – mag man sich dabei nun explizit von der sogenannten Heiligen Familie Jesus, Maria und Josef in der Krippe inspiriert wissen oder nicht. Die Weihnachtsferien heißen bei uns immer noch so und nicht Jahresendferien, und die Weihnachtsgeschenke gibt es eben an Weihnachten und nicht eben mal so in das Jahr hineingeworfen. Sie sind mehr oder weniger der Nachklang dessen, warum man sich ursprünglich in der Weihnachtszeit beschenkt hat, der Ausdruck der Freude über die Geburt Jesu, die man mit anderen im Schenken teilen will.

Lass mal nachschauen

Es geht hier an dieser Stelle nicht darum, eine vergangene Zeit zu glorifizieren, in der einfach alles besser war und die meisten Menschen tiefgläubig an der Weihnachtsgeschichte gehangen haben. Es geht hier darum, im Blick auf das Hier und Heute differenziert wahrzunehmen. Dabei lässt sich kurzum Folgendes feststellen: Alles bisher in diesen wenigen Zeilen Gesagte zusammengenommen – das Bild, das man von der Weihnachtsgeschichte, ihrer Wirkung und Akzeptanz gewinnen kann, ist zwiespältig.

Auf der einen Seite hat sie bis heute Auswirkungen auf das gesellschaftliche Leben. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Einwände gegen sie, oder vielleicht sollte man eher von gewissen Nachlässigkeiten sprechen. Die Weihnachtsgeschichte hat nämlich nur während einer relativ kurzen Zeit mit einer gewissen Aufmerksamkeitsspanne zu rechnen. Daran ändert sich auch nicht wesentlich etwas durch das „Doping“ des immer früher startenden Lebkuchenabverkaufs in Supermärkten. Von zirka Oktober bis Januar ist die Weihnachtsgeschichte eher noch ganz fresh, dann aber reicht es auch wieder. Es kommt hinzu, dass die Weihnachtsgeschichte zunehmend nur noch Anlass, aber nicht mehr Inhalt von entsprechend jahreszeitlich geprägten Feiern ist. Die explizite Erzählung der Weihnachtsgeschichte auf einer Firmenfeier oder einem Freundetreffen dürfte daher eher exotisch als zutreffend und angemessen wirken.

Dass die Weihnachtsgeschichte so eine Megaerzählung bleibt und die Kraft hat, wirklich bis in die Tiefenschichten einer Gesellschaft sinn- und visionsprägend zu wirken, ohne nur dem Bereich des Entertainments zugerechnet zu werden, darf man bezweifeln. Soll die Weihnachtsgeschichte mega bleiben, dann braucht es etwas anderes; nämlich die Auseinandersetzung beziehungsweise Beschäftigung mit den Kernelementen und Strukturen dieser Geschichte, den darin vorkommenden Narrativen. Die sind allgemeiner Natur; sie gelten weder nur im spezifisch religiösen Kontext noch für bestimmte Zeitperioden. Es geht dabei um zutiefst menschliche Themen und Problemstellungen, auf die bezogen jene Narrative gewisse Antwortversuche und Impulse darstellen.

Es geht um Zusammenhalt in schwieriger Situation. Josef ist nicht der Vater von Jesus, Maria ist hochschwanger unterwegs, unfreiwillig wie Josef, Reisehilfen gibt es nicht, im Gegenteil, beide landen im Nirgendwo, ohne genau zu wissen, wie es weitergeht. Aber sie haben sich.

Jeder und jede hat eine Rolle, eine Bedeutung

In größerem Abstand zu den beiden, der es auch möglich macht, deren Umfeld in den Blick zu nehmen, können sich auch diejenigen nicht dem Fokus der Aufmerksamkeit entziehen, die Maria und Josef einfach mal so auf der Straße stehen lassen, ihnen kein wie auch immer geartetes Obdach geben. Im Grunde erinnert dies im Gesamtzusammenhang an diverse Migrationsgeschichten, unbeschadet dessen, was nun der Grund beziehungsweise Auslöser für diese spezielle Lebensgeschichte sein mag. Von daher gesehen ist es sicher nicht falsch, dieses Element der Weihnachtsgeschichte für unsere Zeit besonders in den Blick zu nehmen und als Anfrage an einen selbst zu verstehen: Wie stelle ich mich, wie stellen wir uns dem Problem, dass Menschen ihre Heimat verlieren, gezwungen werden, sie zu verlassen oder noch nie eine gehabt haben?

Es geht in der Weihnachtsgeschichte außerdem darum, dass sich Perspektiven und damit Handlungsmöglichkeiten plötzlich ändern können, wenn man aufmerksam genug seine Welt wahrnimmt. Symbolisiert in den Engeln und deren Botschaft von der Geburt des Retters der Welt wird für die Hirten ein ganz normaler Abend beziehungsweise eine durchschnittliche Nacht zu etwas Neuem, Besonderem. Sie werden Teil eines größeren Ganzen. Insofern geht es also auch darum, dass jeder und jede eine Rolle, eine Bedeutung hat, wichtig ist. Es geht um das Sinnbild einer Gesellschaft, in der es nicht vorrangig auf Ämter, Positionen und Hierarchien ankommt, wenn es darum geht, aktiv beteiligt zu sein.

Das neugeborene Kind steht dafür, wie in der Welt Neues beginnt und grundstürzende Umwälzungen beginnen, nämlich klein, prozesshaft. Sie erfordern Zeit, Geduld und die Zuversicht, dass sich das durchsetzen wird, was gut und gerecht ist. So, wie aus diesem Jesus der wird, der die Autoritäten seiner Zeit herausfordert und eine Bewegung der Nächstenliebe mit allem Auf und Ab für die nächsten Jahrtausende angestoßen hat, so kann dies auch immer wieder geschehen. Es braucht halt dafür die notwendigen Visionen und das entsprechende nachhaltige Tun, dass Weitermachen und Dranbleiben.

Mit den drei Weisen aus dem Morgenland (landläufig den Heiligen Drei Königen), die dem Neugeborenen wertvolle Gaben bringen, geht es im Grunde um die Frage, wie sich diejenigen, die sich in der sozialen Hierarchie „oben“ befinden, zu denen „unten“ verhalten. Sind sie dafür offen, deren Kompetenzen und Fähigkeiten anzuerkennen? Sind sie bereit, diesbezüglich soziale Verantwortung zu übernehmen? Haben sie die Bereitschaft, auf diese Menschen zuzugehen, sich für sie auf den Weg zu machen? Die Heiligen Drei Könige jedenfalls haben es getan.

Das absolut Mächtige erscheint absolut machtlos

Mit diesen Dreien gibt es dann noch eine andere eng damit verbundene Sache, nämlich jenen Stern, der diesen Orientierung gibt. Dieses Stern-Thema dürfte gerade für unsere Zeit der Unübersichtlichkeit, der schnellen Veränderungen und kaum handhabbaren Vielfalt von zentraler Bedeutung sein. Die Notwendigkeit, das zu suchen und auszuhandeln, was Orientierung geben kann, wohin dies alles führen soll, wie die vielleicht einmal gefundene Orientierung überprüft und wieder verändert werden kann und von wem, bleiben virulente Fragen. Die Versuchung, diesen aus Bequemlichkeit, Angst oder Gewohnheit auszuweichen, ist nicht zu leugnen. Die Erinnerung an solche Fragen durch eine Geschichte wie die vom Stern kann da hilfreich sein.

Das Narrativ vom weihnachtlichen Frieden kann zwar ganz einfach auf die akklamatorischen Worte der Engel an die Hirten zurückgeführt werden: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens“. Doch nach dem altbekannten „verba docent – exempla trahunt“ (Worte belehren, Beispiele ziehen mit, wirken motivierend) dürfte das Modell der Machtausübung, das hinter der Weihnachtsgeschichte durchscheint, bedeutender sein: Das absolut Mächtige (in der Erzählung Gott) erscheint absolut machtlos (als das kleine Kind Jesus), das auf die Mithilfe der Menschen, deren Kooperation und Kommunikation angewiesen ist. In den die biblische Weihnachtsgeschichte im engeren Sinn begleitenden nichtbiblischen Legenden kommt hierbei dann noch etwas dazu. Symbolisiert in den beiden Tieren Ochs und Esel an der Krippe, also in direkter Nähe zum absolut Mächtigen, ist die natürliche Umwelt präsent und vermittelt den Eindruck der Harmonie mit dieser. Das Friedliche, Friedensstiftende bezieht sich also nicht nur auf den Menschen, sondern auf die Schöpfung als Ganzes. Ein Gedanke, der gerade jetzt, wo es um eine tiefgreifende Neujustierung des Verhältnisses von Mensch und Natur geht, an Bedeutung gewinnen dürfte.

Und dann gibt es auch noch dieses, für nicht wenige unerwartet im Zusammenhang mit der Weihnachtsstimmung auftretende sowie nicht minder verdrängte, Motiv des absolut Sinnlosen, Gewaltsamen, Grausamen, zu dem Menschen fähig sind und auf das es keine Antwort zu geben scheint. Ein Thema, das gegenwärtig mit den Kriegen in der Ukraine und im Nahen Osten in besonderer Weise im öffentlichen Bewusstsein ist. Im Kontext der Weihnachtsgeschichte wird von König Herodes erzählt, der alle Erstgeborenen seiner Region töten lässt, weil er unter jenen den einen entscheidenden Opponenten der Zukunft befürchtet. In der Geschichte erfahren wir nichts Genaueres über die Opfer, die Angehörigen, die Folgen. Es bleibt der Versuch, sie nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, die Mahnung vor unkontrollierter Macht, der angedeutete Verzicht, Gleiches mit Gleichem zu vergelten.

Lass mal machen

Diese gerade aufgezählten Narrative können in zwei Richtungen wirken: positiv wie negativ. Versteht man sie als Handlungsanweisungen, die 1:1 umzusetzen sind, führt dies zu einer unverantwortlichen und unangemessenen Simplifizierung der Wirklichkeit. Beliebt ist in diesem Zusammenhang beispielsweise der standardisierte Verweis auf die unmöglichen Herbergsleute, die Josef und Maria von der Tür weisen, um mit diesem Hinweis jegliche Diskussion über Schwierigkeiten im Kontext von Migration und Integration im Keim zu ersticken sowie als moralisch unzulässig zu markieren. Übergeht man einfach den komplexen Zusammenhang von Narrativen und auch ihre Verwiesenheit aufeinander, verlieren sie ihre verändernde sowie herausfordernde Kraft. Dies wird greifbar, wenn das Narrativ vom gemeinsamen Zusammenhalt absolut gesetzt sowie isoliert betrachtet wird und dann in die private Idyllenpflege führt, der jegliche soziale Verantwortung abhandengekommen ist.

Diese beiden Negativbeispiele deuten darauf hin, dass Narrative im weiteren Sinn interpretationsoffen und interpretationsbedürftig sind, sollen sie wirklich positive Kraft entfalten. Sie brauchen früher oder später den kontextualisierenden Diskurs. Dafür gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, die auch und gerade für die Weihnachtsgeschichte brauchbar sind. Das synergetische In-Verbindung-Setzen der Geschichte von Weihnachten zum Beispiel mit Geschichten, die ähnliche Narrative aufweisen, aber aus unterschiedlichen religiösen und kulturellen Kontexten stammen, das Verständnis der Aussagegehalte vertiefen und das Gespür für Themen stärken, die Menschen verbinden. Ein gemeinsames partizipatives Weiterspinnen der Weihnachtsgeschichte im Sinne des sich Hineinversetzens in ihre unterschiedlichen Akteure und der Vorstellung, wie sich die Geschichte über das bisher Vertraute hinaus imaginativ weiterentwickelt haben könnte, führt zu einer Verbreiterung der Erzählbasis der Weihnachtsgeschichte. Persönliche Erfahrungen, Wünsche und Befürchtungen derer, die sich am gemeinsamen Weitererzählen beteiligen, tragen quasi zur Aktualisierung der Geschichte bei. Die Diskussion der Frage, was ein einschlägiges Narrativ für das eigene konkrete Handeln bedeuten könnte und die Auseinandersetzung mit ihr, hilft, eine Geschichte ins Praktische zu bringen und sie nachhaltig wirksam werden zu lassen.

Holy shit! Die Weihnachtsgeschichte hat es wirklich in sich. Ob das, was drin ist, auch rauskommt, ist nicht automatisch klar. Es hängt an dem, was ihre Erzähler daraus machen. Die Welt ist nicht am Ende und die Weihnachtsgeschichte auch nicht. Was vielleicht am Ende ist, ist vieles von dem, was wir in bisherigen Zeitläuften gewohnt waren und dann durch Neues, Anderes, manchmal auch Besseres abgelöst wird. Um mit den Veränderungen und den damit verbundenen Herausforderungen gut umgehen zu können, dafür können die Weihnachtsgeschichte und ihre Narrative im vielfältigen Konzert auch anderer Geschichten hilfreich sein.
 

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