Deutsche Dynastien - Die wahre Heldin ist die Zeit

Erik Lindner erzählt, wie die Unternehmer-Familie Reemtsma mit Zigaretten reich wurde, ihre Marken prägte und den Nazis Spenden überwies. Am Schluss wird alles Literatur

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Die Geschichte einer Familie kann auf verschiedene Arten überliefert werden: als genealogischer Mythos, als chronologische Liste, als dynastische Abfolge von Häusern und Geschlechtern, als kollektive Biografie. Sie kann auch den verschiedensten Motiven der Traditionsbildung folgen, indem sie das Interesse auf Verwandtschaftsordnungen lenkt, auf die Zyklen von Ehen, Zeugungen und Geburten, auf den Klang eines Namens und die subtile Wahrnehmung sprachlicher Zugehörigkeit, auf die Zeichen und Symbole beruflicher Identität. Was wird denn als intimster Besitz einer Familie vererbt? Das Blut, der Name oder der Reichtum? Um welche Angelpunkte dreht sich eine Familiengeschichte? Sind es Orte – Schlösser, Häuser, Höfe? Oder ist es ein exklusives Wissen? Sind es Bilder, Zahlen, Wappen oder Logos? Welche Worte und Begriffe können überhaupt das Präfix des Familiären tragen: Familienähnlichkeit, Familienfest, Familiengefühl, Familiengeheimnis, Familienkrankheit, Familienname, Familienschmuck?

Oder eben: Familiengeschichten. Bei allen Unterschieden teilen sie gewöhnlich die generationenübergreifende Perspektive. Familie lässt sich nicht auf Vater, Mutter, Kind reduzieren; sie braucht zumindest Großeltern und Enkel. Zwar ist die temporale Reichweite einer gegenwärtigen Familie arg eingeschränkt: Nachdem sie in zunehmendem Maße auf Ammen, Kutscher oder Dienstboten verzichten muss – obwohl schon das Wort familia auf den altrömischen famulus, den Diener und Sklaven, verweist –, scheitert heute jeder zweite Triangulationsversuch an akutem Personalmangel. Aber auch wenn die so genannte Kernfamilie immer wieder zum Paar zu schrumpfen droht, kann sie die eigentliche Heldin der Familienbiografie nicht ersetzen: die Zeit.

Ohne zeitlichen Rahmen, ohne den Wechsel der Generationen, ohne die Strategien historischer Darstellung, die stets den Charakter von Zeitaltern meinen (und nicht nur die Nebenrollen vorgeblich handelnder Personen), verliert die Familiengeschichte ihre Funktion. Als Walter Benjamin (in seinen Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows) die Diagnose einer Krise des Erzählens aus der bürgerlichen Verdrängung des Todes ableitete, sprach er eigentlich vom Untergang der Familie: «Ehemals kein Haus, kaum ein Zimmer, in dem nicht schon einmal jemand gestorben war. (…) Heute sind die Bürger in Räumen, welche rein vom Sterben geblieben sind, Trockenwohner der Ewigkeit, und sie werden, wenn es mit ihnen zu Ende geht, von den Erben in Sanatorien oder in Krankenhäusern verstaut.»

Die meisten Erzählungen über eine Ära, Panoramen einer Zeit im Prisma der Familiengeschichte, orientieren sich an drei typologischen Modellen temporaler Strukturierung: Sie erzählen eine Aufstiegsgeschichte, eine Untergangsgeschichte oder eine vegetationszyklische Geschichte von Blüte, Reife und Verfall. Nach den Regeln des ersten Modells kann der Anfang, die Neugründung einer Familiendynastie, mit düsteren und barbarischen Ereignissen oder Milieus konnotiert werden. Vom Tellerwäscher zum Millionär: Armut und Not werden überwunden. Schon die alten Mythen erzählten vom Brudermord, der vor der Stadtgründung begangen wurde; Kain erschlug Abel, Romulus den Zwillingsbruder Remus. Und just während der Taufe seiner Tochter nimmt Michael Corleone, der Pate, blutige Rache an seinen Feinden. Andererseits kann der narrativ inszenierte Ursprung auch verklärt und idealisiert werden: beispielsweise als Paradies, als goldenes Zeitalter, als unbeschwerter, glücklicher Beginn, etwa bei einem Fest zur Einweihung des neuen Hauses der Familie Buddenbrook. Émile Zolas zwanzigbändige Geschichte der Familie Rougon-Macquart beginnt mit «La Fortune des Rougon». Glück oder Schuld können gleichermaßen Ursprünge begründen: Das Glück kann im Laufe der Zeit verlorengehen, die Schuld kann allmählich gebüßt werden.

 

 

Vor dem Weltkrieg rauchte man nur in Städten

Die Familiengeschichte der Reemtsmas, wie sie der Historiker Erik Lindner gestaltet hat, ist keine reine Aufstiegs- oder Verfallsgeschichte. Eher folgt sie dem dritten Modell. Sie gliedert sich in drei Etappen: Lindner stellt die Gründung und Entwicklung des Unternehmens dar, schildert die Behauptung des Konzerns auf dem Gipfel seiner Macht während der nationalsozialistischen Herrschaft und berichtet schließlich von Verkauf und Auflösung. Die drei Etappen dieser Geschichte entsprechen in gewisser Hinsicht den drei Generationen der Familie Reemtsma, die im Zentrum der Familiengeschichte stehen. Der Generation des Unternehmensgründers Johann Bernhard Reemtsma (1857–1925) und seiner Frau Flora Elise Zülch folgte die dominante Generation der drei Söhne, die nach Zahlen benannt wurden, nämlich die «Eins», Hermann Bernhard (1892–1961), die «Zwei», Philipp Karl (1893–1959), und schließlich die «Drei», Alwin Siegfried Reemtsma (1895–1970). Zuletzt konzentriert sich das Buch auf die Nachkriegszeit und auf die Biografie des 1952 geborenen Jan Philipp Reemtsma. Dieser verkaufte sein Erbe und brachte den Erlös in eine Stiftung ein. Jan Philipp ist übrigens der jüngste Vertreter der Familie mit dem Vornamen Fürchtegott, den alle Kinder Johann Bernhards teilten. Die drei Halbbrüder Jan Philipps aus erster Ehe der »Zwei« – auch lauter Fürchtegotts – überlebten den Weltkrieg nicht; seine Schwester starb bei der Geburt.

Die Zeit der drei Reemtsma-Generationen entspricht nicht nur den bekannten historischen Abschnitten deutscher Geschichte (Kaiserreich, Erster Weltkrieg, Weimarer Republik, NS-Diktatur, Zweiter Weltkrieg, Nachkriegszeit und Wiederaufbau), sondern auch der Industrialisierungsgeschichte des Tabaks – die gerade heute, angesichts immer strengerer, europaweit durchgesetzter Rauchverbote, an ihr Ende zu gelangen scheint. Bei allem gelegentlich laut werdenden Bedauern, das dieses Ende begleitet, darf nicht vergessen werden, in welchem Maße der Erfolg des Tabaks an die beiden Weltkriege geknüpft war. Vor dem Ersten Weltkrieg beschränkte sich der Zigarettenkonsum weitgehend auf die Städte; Johann Bernhard Reemtsmas Entscheidung von 1910, seine unternehmerischen Aktivitäten exklusiv auf die Zigarettenproduktion zu konzentrieren, war zwar weitsichtig, aber durch die realen Umsatzzahlen – eine Milliarde Zigaretten in Deutschland pro Jahr – nicht wirklich gerechtfertigt. Dagegen wirkt der Entschluss der späteren «Zwei», Philipp Reemtsma, am 2. Juli 1918 die Zigarettenfabrik von Straßburg zu kaufen, auf den ersten Blick viel mutiger, als sich bei genauerer Analyse erkennen lässt. Unabhängig vom Ausgang des Weltkriegs und der Zukunft des Elsass ging es Reemtsma vor allem um den Erwerb des Straßburger Produktionskontingents von 13 Millionen Zigaretten im Monat, das er später ins deutsche Gebiet übertragen lassen konnte.
 

Marken-Identität für ein flüchtiges Produkt

Die Firma Reemtsma kreierte zahlreiche erfolgreiche Zigarettenmarken, beispielsweise die «Salem», «Juno», «R 6», «Ova», «Ernte 23» (zur Erinnerung an eine herausragende Tabakernte von 1923), «Gelbe Sorte», «Senoussi», «Atika», «Eckstein Nr. 5», «Zuban», «Astor», «Roth-Händle», «Peter Stuyvesant» oder «West». Die Firmenleitung erkannte schon früh, wie wichtig die Werbung – Name, Logo und Design – für ein Produkt ist, das sich in wenigen Minuten buchstäblich in Rauch auflöst. Insofern ist es kein Zufall, dass die Reemtsmas bereits ab 1920 aufs Engste mit einem bedeutenden deutschen Grafiker und Werbepsychologen zusammenarbeiteten: mit dem ehemaligen Maler und Bühnenbildner Hans Wilhelm Domizlaff (1892–1971), einem Schüler Max Klingers, der mit seinen Schriften über «Typische Denkfehler der Reklamekritik» (1929) und «Die Gewinnung des öffentlichen Vertrauens. Ein Lehrbuch der Markentechnik» (1939) sowie durch die Gründung des «Instituts für Markentechnik» 1954 in Hamburg zum Pionier der Werbung und Markenberatung aufstieg. Neben Reemtsma beriet Domizlaff ab 1934 den Siemens-Konzern bei der Entwicklung eines stilistisch einheitlichen Erscheinungsbilds, vielleicht das erste Corporate Design moderner Firmengeschichte; später gehörte auch die Deutsche Grammophon-Gesellschaft zu seinen wichtigen Klienten. Die enge Zusammenarbeit mit Reemtsma endete Mitte der fünfziger Jahre. Konflikte um den von Domizlaff protegierten «Deutschen Block», eine von Karl Meissner gegründete nationalistische Splitterpartei, trugen zum Bruch wohl ebenso bei wie das offen rassistische Buch Domizlaffs über «Die Seele des Staates. Ein Regelbuch der Elite», das er ab 1957 als Privatdruck verbreitete.

 

 

Dabei hatte Domizlaff in der NS-Zeit gar keine besonderen Funktionen wahrgenommen. Zwar hatte er im Jahr 1932 eine Studie über Propagandamittel der Staatsidee veröffentlicht; doch sollte sich rasch herausstellen, dass er – mit Reichskanzler Heinrich Brüning und dem Verleger Hermann Ullstein, der 1934 emigrierte – von den falschen Persönlichkeiten gefördert wurde. So beschränkte sich sein politisches Engagement darauf, den Naturschutzpark der Lüneburger Heide gegen mögliche Ansprüche der Wehrmacht zu verteidigen. Nach Kriegsende wurde der Werbespezialist vorübergehend interniert und sein Besitz beschlagnahmt.


Schon Philipp Reemtsma betätigte sich als Mäzen

Wie aber hatte die Unternehmerfamilie Reemtsma selbst die NS-Herrschaft und den Krieg überstanden? Einfache Antworten gibt es hier wohl nicht; Lindners Familiengeschichte vermeidet konsequent Schuld-, aber auch Freisprüche. Offenbar haben die Reemtsmas ihre wirtschaftlichen Erfolge, gerade in Kriegszeiten, mit manchen Gesten der Anpassung erkauft, nicht zuletzt mit Millionenspenden an Göring und das NS-Regime. In den letzten Kriegsjahren wurde zwar so viel geraucht wie niemals zuvor; doch die Tabakwerbung war untersagt, und auch Markenzigaretten konnten nicht mehr erzeugt werden. Nach der Kapitulation wurden die Tabak-Lager in den norddeutschen Fabriken geplündert und das Werk in Bahrenfeld als Kaserne beschlagnahmt. Philipp Reemtsma kam in Haft und wurde wegen seiner Beziehungen zu Göring angeklagt. Erst 1948 konnte er die Unternehmensleitung wieder übernehmen.

Der Schlussteil des Buches zur Familiengeschichte wird freilich – im Sinne der narrativen Dramaturgie – nicht mit Geschichten des Wiederaufbaus bestritten, sondern mit den Aktivitäten des jüngsten Sohns von Philipp Reemtsma. Mit seinem Einsatz kommt der Bogen zum Ende, der die Familiengeschichte abschließt und prägt: einerseits als Geschichte von Aufstieg, Expansion und Macht, andererseits als Geschichte von Verstrickung, Schuld und Buße. Dabei war der Weg Jan Philipp Reemtsmas zum Stifter und Mäzen durchaus vorgezeichnet; auch sein Vater hatte bereits erhebliche Summen für kulturelle Aktivitäten aufgebracht, beispielsweise für das Nietzsche-Archiv. Zunächst war es der Dichter Arno Schmidt, den Jan Philipp Reemtsma – nach dem Verkauf seiner Firmenanteile – mit dem finanziellen Äquivalent eines Nobelpreises unterstützte. Im Jahr 1984 gründete er dann das Hamburger Institut für Sozialforschung und die Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. Das Institut Reemtsmas organisierte die heftig diskutierten zwei «Wehrmachtsausstellungen», die ab März 1995 und ab November 2001 als Wanderausstellungen in ganz Deutschland gezeigt wurden. Ein Jahr nach Eröffnung der ersten Ausstellung wurde Reemtsma entführt und einen Monat lang festgehalten. Später gelang es ihm, den Entführer mithilfe privater Detektive in Südamerika aufzuspüren und der Polizei zu übergeben.

Heute lehrt Jan Philipp Reemtsma als Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Hamburg. Mit seinem Engagement kehrt auch das Genre der Familienbiografie – jenseits der Untersuchung mancher Verkehrsströme des Bluts, der Namen und des Geldes – zurück in seine eigentliche Heimat: die Literatur. Alles andere ist Schall und Rauch. Oder mit William Faulkners Familiengeschichte: Sound and Fury.

 

Thomas Macho lehrt Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. In diesen Tagen erscheint «Die neue Sichtbarkeit des Todes»

 

Erik Lindner
Die Reemtsmas. Geschichte einer deutschen Unternehmerfamilie
Hoffmann und Campe, Hamburg 2007. 592 S., 25 €

 

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