Die letzten 24 Stunden - Wenn sich mein Pokerface auflöst

Fedor Holz ist einer der besten Pokerspieler der Welt. Für seine letzten 24 Stunden durchwandert er die Sierra Nevada, singt mit Familie und Freunden Lieder von AnnenMayKantereit und schnippt zum letzten Mal einen Pokerchip in die Luft.

Ich erzähle ihnen von meinem jähen Ende: Fedor Holz würde gelassen von dieser Welt gehen / Julia Haack
Anzeige

Autoreninfo

Fedor Holz ist 1993 in Saarbrücken geboren und Unternehmer. Mit einem Preisgeld von rund 32 Millionen Dollar gehört er zu den besten Pokerspielern der Welt. Nähere Informationen unter www.fedorholz.com.
 

So erreichen Sie Fedor Holz:

Anzeige

Ich wache auf und beobachte, wie allmählich das Tal vom Sonnenlicht durchflutet wird. Ich befinde mich inmitten der Sierra Nevada im Yose­mite-Nationalpark. Während das erste Licht auf den Merced River trifft, fange ich an zu meditieren. Ich fühle mich im Einklang mit der Natur und genieße die friedvolle Stille. Nur in der Ferne höre ich das vereinzelte Bellen der Rehe und das Rauschen eines Wasserfalls.

Der Gedanke, nur noch 24 Stunden zu leben, löst in mir nahezu nichts Negatives aus. Sicherheit wird gerne als ein externer Faktor wahrgenommen, der wie eine Glocke das Leben vor Unheil schützen soll. Doch so wie ich beim Pokerspiel mein Blatt nicht beeinflussen kann, ist auch das Leben unvorhersehbar. Ich habe im Laufe meiner Karriere viel darüber gelernt, mich mit dieser Unsicherheit anzufreunden und damit umzugehen. Seit ich das Leben nicht mehr als ein egoistisches Spiel begreife, hat sich bei mir eine Ruhe eingestellt, die mir eine innere Sicherheit verschafft, aus der ich viel Kraft schöpfe. 

Atemberaubende Naturkulisse und AnnenMayKantereit

Ich bin ohne einen festen Glauben aufgewachsen. Mit den Vorstellungen und Werten im Buddhismus kann ich mich am ehesten identifizieren, doch ich würde mich nicht als einen Gläubigen im religiösen Sinn bezeichnen. Ich glaube an das Gute im Menschen. Mit dieser Einstellung bewahre ich mir bei Begegnungen ein positives Gefühl und baue keine unbegründete Distanz auf. Ich handle nach dem Credo, dass Güte Gutes bewirkt und mannigfaltige Früchte tragen kann. Diese Gedanken bringe ich zu Papier, um sie meinen Weggefährten, die ich heute nicht mehr sehen werde, als Inspiration mit auf den Weg zu geben.

Nun ist es an der Zeit, mich mit meiner Familie und den engsten Freunden zu treffen, um den weiteren Tag zu gestalten. Wir wandern durch diese atemberaubende Naturkulisse und versammeln uns abends um ein Lagerfeuer und singen zum Gitarrenspiel Lieder von AnnenMayKantereit. 

Ich erzähle ihnen von meinem jähen Ende. Für mich ist es das Wichtigste, meine Wertschätzung und Dankbarkeit noch einmal zum Ausdruck zu bringen und diese Emotionen zu teilen.

Am Ende: Epikur und Panta rhei

Die Nacht beginnt. Ich verabschiede mich und breche auf zu meinem letzten Gang. Ich wandere alleine den Berg El Capitan hoch, der mit seiner imposanten senkrechten Flanke das Yosemite-Tal überragt. Hoch oben angekommen, stehe ich auf dem kargen Plateau und atme ganz bewusst die kühle frische Luft ein. Ich betrachte die funkelnden Sterne und lasse in meiner Hand wie in Trance einen Pokerchip durch meine Finger gleiten, so wie ich es schon unzählige Male getan habe, um mich bei wichtigen Turnieren zu entspannen. 

Der Tod – und was danach geschieht – bereitet mir keine große Sorge. Epikur sagte, dass der Tod uns nicht betrifft, solange wir existieren. Und wenn er da ist, existieren wir nicht mehr. Für mein Begräbnis wünsche ich mir, dass ein Baum gepflanzt wird. Meine Asche soll ihren Platz finden unter dem Wurzelwerk. 

Ich setze mich im Schneidersitz auf den felsigen Boden und schnippe den Pokerchip hoch in die Luft. Ich schließe die Augen. Mein Pokerface löst sich auf. Panta rhei, alles fließt. Es geht mir gut.

Dieser Text stammt aus der Juni-Ausgabe von Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

Jetzt Ausgabe kaufen

 

 

 

 

Anzeige