DDR - Safe Spaces

Vor 30 Jahren trat die DDR der Bundesrepublik Deutschland bei. Oder war es umgekehrt? Anmerkungen zur neuen Verstaatlichung des Denkens

Erschienen in Ausgabe
Seit die Groko regiert, lassen sich wieder vermehrt Parallelen zum politischen Diskurs der DDR finden / picture alliance
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Autoreninfo

Thomas Palzer ist Schriftsteller und lebt in Leipzig. Zuletzt erschien sein Kriminalroman „Die Zeit, die bleibt“.

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Am 22. Dezember 2019 wird Angela Merkel so lange regiert haben wie Konrad Adenauer. Sicher, nur eine Randnotiz – aber zusammen mit einer anderen symbolkräftig: 30 Jahre nach der Wende ist es zu einer zweiten gekommen. Denn erstmals seit der Wiedervereinigung sind es heute mehr Menschen, die aus dem Westen in den Osten ziehen als umgekehrt. Das demografische Novum ist nur eine Reaktion auf das, was von der Bevölkerung mental längst vollzogen worden ist: der klammheimliche Exodus in die geistige Zone des einstigen Beitrittsgebiets und, damit verbunden, die Verwandlung des politischen Raumes in einen sogenannten Safe Space.

In einem gewissen Sinn existierte im Osten Deutschlands bis 1989 ein Staat, der als Protoform des Safe Space gedeutet werden kann: als inklusiver Raum, dessen Gleichförmigkeit Programm war und sich auf alles erstreckte, was sich darin befand; gesteuert von oben, wo man sich um alles kümmerte, was ansonsten dem Bürger zumutbar geblieben wäre: um gleiche Anerkennung, gleiche Miete und gleiche Rente; um ein allsorgendes Gesundheitswesen und um ein mediales Einheitsprogramm, bei dem sich der Leichtgläubige sicher sein konnte, dass es mit dem politischen übereinstimmte und Fakes verlässlich ausgeschlossen waren.

Kümmerer und Pferdeflüsterer

Seit die Groko regiert – immerhin seit 2005 –, sind auch in der Berliner Republik im Hinblick auf eine Verwandlung Deutschlands in einen Safe Space große Fortschritte erzielt worden. Denn mehr und mehr mischt sich der Staat in die Belange seiner Bürger ein, spielt das politische Personal den Kümmerer und Pferdeflüsterer. Es scheint dabei völlig egal zu sein, um was es sich dreht – ob um das Organspendeverhalten, Lebensmittel-Ampeln, verpflichtende Vorsorgeuntersuchungen oder um die künftige Volksgesundheit (Bluttest!), ob um gleichwertige Lebensverhältnisse, Tempolimits und Rauchverbot, um die Homo-Ehe, die Geschlechtsoption „divers“ oder um das Unisex-Klo, ob um gendergerechte Sprache oder um leichte, ob um Rechtschreibung, Schreibschrift oder den Verzicht auf beides oder um moralisch einwandfreie Menschenliebe: Der Staat nimmt den Bürger entschlossen bei der Hand. Gestützt wird solche Fürsorge von einer auf Nützlichkeit getrimmten Wissenschaft, die sich für die gesamte Wirklichkeit zuständig erklärt und deren Expertisen Ausdruck einer Verstaatlichung des Denkens sind. Sitzen kann Ihr Leben verkürzen.

Dass Bundesgesundheitsminister Jens Spahn das Organspendeverhalten „in die richtige Richtung“ lenken will, wird dann einleuchtend, wenn man bedenkt, dass der Mensch für die Wissenschaft aus Materie besteht und nichts außerdem. Er hat damit den gleichen ontologischen Status wie eine Tasse, ein Hundenapf oder eine Tüte Chips. Demgemäß ist ein toter Menschenkörper ein Sack voller nützlicher Organe – oder er ist Klinikmüll. Wem wollte man es da verwehren, einfach frech zuzugreifen?

Das Starke-Familien-Gesetz

Rechnen wir all diese Tendenzen hoch, ist kein Zweifel mehr möglich: Mit der mittlerweile 14-jährigen Kanzlerschaft Angela Merkels hat die Berliner Republik das Erbe des ersten Safe Spaces auf deutschem Boden angetreten. Folgerichtig gelten immer größere Bereiche der Lebenswirklichkeit als der Bevölkerung nicht mehr zumutbar, weshalb diese eben immer umfassender kuratiert werden muss – aufbereitet, begleitet, missioniert und angestupst. Damit ist Politik endgültig der Sozialpolitik unterstellt, Verantwortung der Gängelung, Gestaltung der Dienstleistung. Einerseits verhält sich der Staat so liebedienerisch und übergriffig wie die gefürchteten Helikoptereltern. Andererseits fühlen sich die Deutschen unter Merkel so beschützt wie vielleicht noch nie zuvor in ihrer demokratischen Geschichte. So beschützt, wie nur Kinder sich von ihrer Mutti beschützt fühlen können. Der regierende, von Merkel verkörperte soziale Maternalismus kippt freilich durch seine Verbindung von Protestantismus und Sozialismus, denen beiden die Staatsgläubigkeit in die DNS eingeschrieben ist, ins Toxische – toxisch insofern, als die Bürger zwangsläufig zu Kindern degradiert werden, die bei der Hand genommen werden müssen, damit sie sich im dunklen Wald nicht verlaufen, und mit denen in leichter Sprache leicht debil geredet werden muss.

Beispiel gefällig? Am 1. Juli 2019 tritt das Starke-Familien-Gesetz in Kraft – taxonomisch gesehen ein Nachfolger des Gute-Kita-Gesetzes, das schon am 1. Januar ein freundliches Smiley in die triste Ödnis der Rechtsprechung eingepflegt hat. Und man darf sicher sein, dass auf die beiden genannten noch etliche weitere Gesetze folgen werden, deren Familienähnlichkeit sich vor allem in der Tonalität niederschlägt – und damit letztlich in einem neuen, weniger dem Recht denn guter Stimmung verpflichteten Kodex. Zu dieser Haltung passt, dass Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, der neben Familienministerin Franziska Giffey für die neue Tonalität verantwortlich zeichnet, dem geplanten neuen Sozialgesetzbuch nicht die Nummer 13 geben will – wie es chronologisch richtig wäre –, sondern die Nummer 14, da viele Menschen bei der Zahl 13 bekanntlich von Unbehagen erfasst würden. Kinder, Kinder!

Gleichheitsfimmel führt zu größerer Ungerechtigkeit

Heils Vorsatz belegt eindrücklich, dass Demokratie längst dabei ist, in radikale Demoskopie umzuschlagen, den Feind aller Demokratie. Insofern nämlich das eine – die Demoskopie – nach Übereinstimmungen fahndet, bedarf das andere – die Demokratie – des Maßstabs. Wenn allerdings die Übereinstimmung selbst zum Maßstab wird, ist Politik nur noch gerechtfertigt, wenn sie unter den Bürgern für gute Stimmung sorgt. Andernfalls ist sie es nicht. Diesen Pegelstand hat das System inzwischen erreicht, was auch nicht weiter verwundern kann, haben doch Talkshows wie „Anne Will“ den Bürger seit Jahren auf diesen Grundsatz des Populismus eingestimmt – sozusagen demoskopisch überprüfbar an dem bei unbedingt gut gemeinten Wortbeiträgen notorisch abrufbaren Applaus aus dem Publikum.

An dieser Stelle kommen wir nicht umhin, Tocqueville zu zitieren, der früh über das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit nachgedacht hat: „Man könnte sagen, dass sich die demokratischen Regierungen verantwortlich fühlen für das Tun und das individuelle Schicksal ihrer Untertanen und begonnen haben, einen jeden von ihnen bei den verschiedenen Schritten seines Lebens zu lenken und zu erleuchten und, wenn nötig, gegen seinen Willen glücklich zu machen.“ Traditionsgemäß ist der Deutsche etatistisch gestimmt. Die Pendlerpauschale liegt ihm mehr am Herzen als die Freiheit. Aber weshalb bekommt eigentlich der, der klimafreundlich in der Stadt wohnen bleibt und höhere Mieten zahlt, nicht einen pauschalen Mietzuschuss? Rätsel einer Politik, deren Gleichheitsfimmel zu immer größeren Ungerechtigkeiten führt.

Das größte Kunststück der Muttipolitik

Wagen wir einen Blick in die bundesdeutsche Normalität, gewissermaßen auf das nackte Leben: Was wir vor das Auge bekommen, ist eine schier endlose Kohorte Menschen, die friedlich und in Kauflaune, wiewohl in gegenläufigen Richtungen, nuckelnd und schmatzend durch die Fußgängerzonen und deren Allgegenwart zieht, adipös, sentimental, Hygge-trunken und etwas sauertöpfisch, von der Politik so rundum versorgt wie von der To-go-Kultur: mit Kitas, grüner Energie und 5G – und zwar auch auf dem Land! Kann es da verwundern, dass der Ruf nach staatlicher Intervention zum Dauerton wird? Politik begreift das Volk, nachdem es entsprechend abgerichtet worden ist, als Dienstleistung. Und die soll jeglichem (und sei es ein noch so unsinniges) Habenwollen dienen – um im geläufigen Jargon zu sprechen. Mutti ist dafür der Ersatzbegriff. Er steht inzwischen für das ganze Programm, ganz unabhängig von der Frau, die diesem Politikstil den Namen geliehen hat. Kinder, Kinder!

Das größte Kunststück ist der Muttipolitik wohl gerade mit einer Sprachregelung gelungen, bei der das schlechte Gewissen des Bürgers mit seinem guten verschmolzen und neutralisiert wird. Die Rede ist von der emissionsfreien E-Mobilität. E-Mobilität verspricht, das Klima zu retten – aber so, dass dabei am praktizierten Lebensstil festgehalten werden kann. Schlimmstenfalls ändert sich der Tankstutzen. Sonst ändert sich nichts. Warum fragt niemand, woher die Energie kommen soll für die 1,3 Milliarden E-Autos, die nötig sind, um den planetaren Wagenpark zu ersetzen? Und woher kommt erst jene Energie, die für die Herstellung all der Batterien und Autos aufgewandt werden muss? In einfache Logik übersetzt: Was ist mit dem Strom, den das Strommessgerät verbraucht? Dass die Welt – „emissionsfrei“ oder nicht – doch nur immer weiter vergiftet wird, nimmt die Politik in Kauf. Denn ansonsten müsste das Gewohnheitstier Mensch ja auf lieb gewonnene Gewohnheiten verzichten. Und das trübte die Stimmung ein, was, wie wir gesehen haben, gar nicht mehr geht.

Auch das geplante 365-Euro-Ticket wird nicht emissionsfrei sein, aber die Bürger anstupsen, damit diese zumindest in der Stadt das eigene Auto stehen lassen. Um dieser pädagogisch vorbildlichen Maßnahme Nachdruck zu verschaffen, werden die Kosten vergesellschaftet. Das macht gute Stimmung und täuscht darüber hinweg, dass der Staat selbst gar kein Geld hat. Er muss es sich zuletzt aus den Taschen der Bürger holen. Warum führt man nicht nach dem gleichen Muster eine Einheitsmiete von 365 Euro ein? Wäre damit nicht vielen geholfen? Gerade Berlinern? Es herrschte gute Stimmung, weil wieder alle glaubten, dass sie ein solches Manöver nichts koste.

Mehr als ein Symptom

Dann wäre die Berliner Republik erneut ein gutes Stück weiter gekommen auf ihrem Weg, ein progressiver Safe Space zu werden. Wie an den jüngsten Debatten um Enteignung, Verstaatlichung und Kollektivierung erkennbar, geht der Plan so: Der Staat wird am Ende unser gesamtes Geld einziehen, denn er ist es, der am besten weiß, wofür es ausgegeben werden sollte. Was uns Kindern bleibt, ist ein kleines Taschengeld – das freilich zur freien Verfügung. Kinder, Kinder!

Dass die aus dem ehemaligen Beitrittsgebiet stammende Kanzlerin vom Volksmund den Beinamen „Mutti“ erhalten hat, ist folglich mehr als nur ein Symptom. Es bringt die Sache auf den Punkt. Mutti, so hoffen wir, wird das Taschengeld schon gerecht verteilen. Sie ist ja auch aus der Atomkraft ausgestiegen, hat den Mindestlohn eingeführt und die Wehrpflicht abgeschafft.

Am 22. Dezember 2019 wird Merkel so lange wie Adenauer regiert haben. Auf ihre Regierungszeit wird man vermutlich einmal zurückblicken als eine Epoche der Rochade. 1989 ist das Beitrittsgebiet der Bonner Republik, 30 Jahre später aber die Berliner Republik dem ehemaligen Beitrittsgebiet beigetreten.

 

Dieser Text erschien in der Juli-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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