Das politische Buch - Sevim Dagdelen liest ... Can Dündar

Seit sieben Jahren lebt der türkische Journalist Can Dündar in Berlin im Exil. Geschickt und gut lesbar lässt er in „Die rissige Brücke über den Bosporus“ seine persönlichen Geschichten in die große Historie und politische Analyse einfließen.

Bosporus-Brücke in Istanbul / picture alliance
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Sevim Dagdelen ist Mitglied des Deutschen Bundestags und im Bündnis Sahra Wagenknecht.

Can Dündar hat mit „Die rissige Brücke über den Bosporus“ das Buch der Stunde geschrieben. Der international ausgezeichnete, in seiner Heimat verfemte Journalist blickt zurück auf 100 Jahre Türkische Republik und gibt einen Ausblick auf die Zukunft des Landes. Es ist eine dramatische Geschichte von Unterdrückung und Gewalt, von gesellschaftlichen Reformen im Eiltempo, immer neuen Parteiverboten, Militärputschen und politischem Widerstand. 

Can Dündar arbeitet seit 1979 als Journalist und hat viele Ereignisse aus seinem Buch selbst miterlebt. Nach seinen Berichten über Waffenlieferungen des türkischen Geheimdiensts an islamistische Terrorbanden in Syrien wurde der Cumhuriyet-Chefredakteur als „Terrorist“ diffamiert und verfolgt, wegen Spionage und Verrats von Staatsgeheimnissen in Abwesenheit zu über 27 Jahren Haft verurteilt, und es wurde ein Mordanschlag auf ihn verübt. Seit sieben Jahren lebt Can Dündar in Berlin im Exil. Geschickt und gut zu lesen, lässt er seine persönlichen Geschichten in die große Historie und politische Analyse einfließen.

Die Revolution von oben

Aus den Trümmern des Osmanischen Reiches, das im Ersten Weltkrieg besiegt worden war, hat Mustafa Kemal 1923 die Türkische Republik gegründet. Es sollte ein neuer, moderner, säkularer Staat werden. Die diktierten gesellschaftlichen Reformen waren mit der Übernahme europäischer Rechtssysteme, Einführung der lateinischen Schrift und des europäischen Kalenders sowie der Gleichstellung der Geschlechter gewaltig. Mit Erlass des Familiengesetzes nahm Mustafa Kemal den Namen Atatürk an, „Vater der Türken“. 

Was nicht gelang, war, der Revolution von oben einen wirtschaftlichen Unterbau zu geben. Can Dündar bilanziert den großen Brückenschlag zwischen Orient und Okzident: „Mit einem erschöpften Heer hatte er den Befreiungskrieg gewonnen, anstelle eines 600-jährigen Reiches die Republik gegründet, das Schicksal einer Nation verändert, eine Gesellschaft komplett transformiert (…), doch es war ihm nicht gelungen, die jahrhundertealten Überzeugungen, Vorurteile und Tabus auszumerzen, er hatte sie lediglich in den Untergrund drängen können (…). 

Die Atatürk-­Republik wird rückabgewickelt

Dennoch wurde die Türkei dank ihm und seinen Revolutionen in der islamischen Welt zu einem einzigartigen Musterbeispiel dafür, dass Demokratie und Laizismus langfristig koexistieren können.“ Von einer vollständigen Demokratisierung des Landes kann zu keinem Zeitpunkt die Rede sein. Minderheiten wie die Aleviten und Kurden erleben den Terror des „tiefen Staates“.

Mit Präsident Recep Tayyip Erdogan wird die Atatürk­Republik rückabgewickelt. Seit 20 Jahren an der Macht, erst als Ministerpräsident, seit 2014 als Staatschef, baut der Muslimbruder die Türkei zur Islamisten-Autokratie um. Erdogan ist mittlerweile „Alleinherrscher über Legislative, Exekutive, Justiz, Medien, Partei, Armee, Polizei, Kapital, Hochschulwesen“, bringt Dündar die bittere Entwicklung auf einen knappen Nenner. „Die rissige Brücke über den Bosporus“ ist hochinformativ, auch wenn man nicht alle Schlussfolgerungen des Autors teilen muss. 

Seine Unterteilung in Demokratien versus Autokratien etwa als Grundlage der Analyse und des Ausblicks ist zu nah an der moralisch verbrämten Außenpolitik der Ampelregierung und wird der Realität nur wenig gerecht. Ganz sicher beipflichten wird mein Freund Can Dündar aber der Kritik, dass die Nato kein Problem sieht in Erdogans Unterstützung für die islamistische Hamas, wie der westliche Militärpakt auch zu den völkerrechtswidrigen Angriffskriegen seines Mitglieds in Syrien und Irak schweigt.

 

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